Contra Lateinobligatorium

Homo doctus in se semper divitias habet. Der gebildete Mensch hat seine Reichtümer immer in sich. Das habe ich im Lateinunterricht gelernt. Und das stimmt. Sonst weiss ich aber nicht mehr viel vom «Latsch». Ich frage mich also: Ist das Latein wirklich das kostbarste aller Reichtümer oder sogar der Schlüssel zur Truhe mit dem edlen Wissen? Die momentane Situation am HS Zürich lässt einen zum Schluss kommen: ja! Latein ist nämlich die einzige Kompetenz im Geschichtsstudium, die alle Studierenden beherrschen – oder zumindest beherrscht haben – müssen. Alle anderen alten und neuen Sprachen (sogar Englisch): Kann man umgehen. Numismatik, Epigraphik, Handschriftenkunde: Kann man umgehen. Diskursanalyse, quantitative Methoden, Oral History, Global History: kann man umgehen. Und sie werden auch umgangen – logischerweise, denn niemand kann alles lernen.

Warum aber soll im Geschichtsstudium denn genau das Latein über allem stehen? Warum soll eine Disziplin, die sich schon seit Jahrzehnten vom Eurozentrismus loszueisen versucht, ausgerechnet an der toten abendländischen Sprache als condicio sine qua non festhalten? Ich weiss es auch nicht!

Klar, es gibt viele Quellen in lateinischer Sprache, und es ist sicher für das Grundverständnis unserer heutigen Sprache und Kultur von Vorteil, wenn man Latein versteht. Doch wäre es nicht genauso hilfreich, die Bibel, den Talmud oder den Koran zu kennen, auf die doch ebenfalls seit vielen Jahrhunderten Bezug genommen wird? Oder: arabisch, griechisch, russisch, chinesisch, hebräisch, ägyptisch, suahili etc. zu können, auf die das gleiche zutrifft wie auf das Latein, nur bezogen auf einen anderen Kulturkreis oder eine andere Epoche?

Und man kann das Ganze noch weiterziehen: Es wäre auch sinnvoll, wenn Geschichtsstudierende sich besser in Archiven zurechtfinden könnten, auch einmal etwas von einer quantitativen Methode gehört hätten, Handschriften lesen und Schwedisch sprechen könnten, Musik als Quelle zu behandeln wüssten und so weiter. Der Werkzeugkasten des Historikers hat sich in den letzten hundert Jahren massiv vergrössert. Mit dem Wandel von der klassischen Geschichtsschreibung hin zur Geschichtswissenschaft als Pool verschiedenster Zugänge ist das Latein zu einem Werkzeug unter vielen geworden. Und so sollten wir es auch behandeln: als eines von vielen!

Ich sträube mich aber gegen ein blosses Abschaffen des Lateinobligatoriums – Gott bewahre davor, dass das Geschichtsstudium noch veranstaltungsärmer wird. Mit dem Abschaffen des Lateinobligatoriums werden sage und schreibe sieben Wochenlektionen frei während des ganzen ersten Studienjahres. In dieser freigewordenen Zeit sollten sich alle Studierenden – egal welches Profil sie im Gymnasium hatten – Fähigkeiten aneignen, die für das Geschichtsstudium hilfreich sein können: Eine Sprache – tot oder lebendig – und eventuell noch andere Skills wie Statistik, Informatik oder Heraldik. Die Studierenden sollen aus einem ganzen Katalog frei auswählen dürfen. Wie sich dieser genau zusammensetzt, darüber müsste man diskutieren. Das ganze sollte analog zum Lateinobligatorium Voraussetzung sein, mit dem Aufbaustudium beginnen zu dürfen. Obligatorium ja, Latein nein – das ist mein Credo .   

Das würde doch bessere Historikerinnen und Historiker hervorbringen! Denn wenn wir Studierenden, die schon etwas weiter im Studium sind, ehrlich sind: die meisten von uns haben längst wieder verlernt, was ein Ablativus Absolutus ist. Ich zum Beispiel kenne nebst ein paar geistreichen Sentenzen wie derjenigen am Eingang dieses Textes noch einige Ausdrücke wie «condicio sine qua non». Die habe ich aber nicht im Lateinunterricht gelernt. Um eine römische oder auch mittelalterliche Quelle zu übersetzen, reicht das nicht. Und so ergeht es nicht nur mir. Die meisten umgehen darum das Latein geschickt und verwenden in ihrer Antike-Seminararbeit bereits übersetzte Quellen oder machen Rezeptionsgeschichte und buchen danach nie wieder eine Veranstaltung über die Geschichte des Altertums. Für all diese Studierenden wäre es sicher sinnvoller gewesen, wenn sie anstatt murrend und motivationslos AcIs und Pronomonendeklinationen zu büffeln, etwas gelernt hätten, wofür sie motiviert gewesen wären. Und euch, die ihr nach einem Antike-Seminar die Schnauze noch nicht voll habt, oder die ihr lateinaffine MediävistInnen seid, euch sei gesagt: es soll natürlich nicht verboten werden, Latein zu lernen. Es soll weiterhin eine Option bleiben.

Es gibt immer mehr, das man können müsste, aber wir können nicht immer mehr können. Darum müssen wir Platz schaffen und das Lateinobligatorium zu einem Obligatorium mit Auswahlmöglichkeiten machen. Denn es ist längst klar, dass Wissen nicht in einer Truhe angelegt ist, die man mit einem Schlüssel öffnen kann. Es kann also gar nicht mehr sein, dass das Latein den Schlüssel zu diesem Wissen bietet. Das Wissen ähnelt, wenn schon, eher einer Suppe. Und wir müssen zusehen, dass alle Studierenden einen möglichst grossen Schöpflöffel bekommen können. Und Schöpflöffel kannten nicht nur die Römer.

 

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