Für das Lateinobligatorium sprechen sich ohnehin nur hoffnungslose Traditionalisten und besonders begabte LateinschülerInnen aus… könnte man meinen. Ich muss aber gestehen, dass ich kein sonderlich guter Lateinschüler war, sondern gerademal mit der wenig berauschenden Note 4 durchkam. Trotz des durchaus vorhandenen Interesses an der Sprache, konnte ich dem etwas trockenen Unterricht nicht immer folgen, und schrieb zuweilen statt lateinische Übersetzungen lieber Gedichte oder unterhielt mich mit meinem Banknachbarn, dem es im Unterricht ähnlich ging. Dieser Banknachbar, der heute ebenfalls Geschichte studiert, hat sich bei der Lateinlehrerin am Ende der Mündlich-Prüfung halb ernst, halb ironisch entschuldigt: «Es tut mir Leid, das ich Ihnen das angetan habe.» So geht es vielen: Nicht wenige SchülerInnen haben Mühe mit dem Fach, und selbst den Begabteren und Fleissigeren ist der Sinn des Lernens einer so genannt «toten» Sprache nicht immer einsichtig. «Non vitae, sed scholae discimus», hat bereits Seneca gesagt, und so empfinden viele Latein-SchülerInnen: Das Latein bleibt eine schulische Pflicht ohne Nutzen für das Leben.
Dem möchte ich widersprechen: Dass die lateinische Sprache das Fundament der abendländischen Kultur bildet, mag als Begründung des Obligatoriums allein nicht hinhalten. Schliesslich ändert diese Tatsache nichts daran, dass das Beherrschen der lateinischen Sprache im Alltag wenig Vorteile bringt – beim Kleiderkauf, bei der Steuererklärung, beim Zusammenbauen eines Schrankes oder beim Feierabendbier. Nur persönliches Interesse an lateinischen Texten oder an der Möglichkeit, durch sporadisches Wiedergeben lateinischer Zitate ein wenig mit schöngeistiger Bildung zu prahlen lassen einen Lateinkurs erstrebenswert erscheinen… ein allgemeines Latein-Obligatorium scheint da wenig sinnvoll.
Die Frage nach dem Sinn und Nutzen eines Lateinobligatoriums für das Geschichtsstudium ist aber eine wesentlich andere. Für HistorikerInnen besteht der Alltag nämlich auch aus dem Studium unterschiedlichster Quellen und Darstellungen. Hierzu muss festgehalten werden, welche Stellung schriftliche Quellen in lateinischer Sprache in den einzelnen Zeitbereiche haben: Für die Alte Geschichte sind lateinische Quellen der Regelfall: Ein Grossteil der Quellen zu dieser Epoche – seien es Inschriften, poetische, rhetorische, philosophische oder historiographische Texte sind infolge der langanhaltenden suprakontinentalen Hegemonie Roms nun einmal lateinisch. Dasselbe gilt für das Mittelalter, dessen diplomatische und wissenschaftliche Quellen ebenfalls überwiegend in lateinischer Sprache geschrieben sind. Und auch die Frühe Neuzeit kennt weit über die humanistische Ära hinaus Latein als Gelehrtensprache. Für den Kontext der römischen Kirche ist die Sprache bis heute relevant: Im Vatikan ist Latein sogar Amtssprache.
Die Bedeutung der lateinischen Sprache für alle drei Zeitbereiche ist enorm, und im Geschichtsstudium und in der Forschungstätigkeit wird man entsprechend häufig mit lateinischen Quellen konfrontiert. Zumindest ist dies meine Erfahrung und ich bereue zuweilen, dem Fach nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Dass die Relevanz der Sprache seit dem Spätmittelalter fortlaufend geschwunden ist, kann nicht als Argument gegen das Latein-Obligatorium angeführt werden: Schliesslich bietet das Historische Seminar bereits heute den Studiengang «Geschichte der Neuzeit» an, für den kein Latein-Abschluss erforderlich ist. Für sinnvoll halte ich eine Revision des Lateinunterrichts im Sinne einer stärkeren Einbindung von Mittellatein und Humanistenlatein, deren Eigenarten angehende HistorikerInnen heute trotz Latein-Obligatorium oft Mühe bereiten. Ich will daher wie folgt konkludieren: Es ist sinnvoll, am Lateinpbligatorium festzuhalten, aber es darf modifiziert werden. Ganz im Sinne der Cato Censor zugeschriebenen Sentenz: «Ne discere cessa».