Der Begriff des Postfaktischen ist einer der populärsten, wenn es um das Analysieren aktueller politischer Geschehnisse geht. Die Wahl Trumps, der Brexit, der Aufstieg der AfD, Andreas Glarners Arena-Auftritte – solche Ereignisse werden schnell als Kinder eines «postfaktischen Zeitalters» bezeichnet. Ist das plausibel? Oder eher gefährlich? Das Pro und Kontra des etü.
Wer vom «postfaktischen» Zeitalter spricht, meint damit, dass in den bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Debatten Emotionen zurzeit eine grössere Rolle spielen als Fakten und stichhaltige Argumente. Der Brexit und die Wahl Trumps wurden vor allem von einer Emotion getragen – von Wut. Wer die Aussagen Trumps auf ihre Stichhaltig prüft, stösst ziemlich schnell an Grenzen. Die Brexit-Kampagne konnte sich durchsetzen, obwohl sämtliche ökonomischen Institute erklärten, dass der Brexit dem Land schaden würde. Viele Leute hätten gegen ihre eigenen Interessen entschieden und so Populisten zur Macht verholfen, so die Ansicht vieler. Nun werden in diesem Zusammenhang immer wieder Fragen aufgeworfen wie: Gibt es diese Fakten überhaupt, die jetzt weniger wichtig würden? Oder gibt es etwa nur verschiedene Ansichten, deren Wahrheitsgehalt gar nicht beurteilt werden kann? Der völlige Skeptizismus ist meines Erachtens der falsche Weg, über diese Dinge nachzudenken.
Politikerinnen haben sich noch nie vollkommen nüchtern auf Fakten gestützt, um ihre Wähler zu überzeugen. In gesellschaftlichen Fragen gibt es oft keine absolute Wahrheit, sondern Interessen und Meinungen – sonst bräuchten wir keine demokratischen Abstimmungen. Jedoch könnte man meinen, dass das Motto in modernen Demokratien bis jetzt grundsätzlich lautete: Ich halte für wahr, was belegt oder zumindest überzeugend begründet wird – ein Prinzip, das mindestens seit der Aufklärung nicht nur im Zentrum der Wissenschaft, sondern auch der Politik steht. Dieses Prinzip scheint nicht unantastbar zu sein. Neuerdings werden Dinge bestritten, die eigentlich als unumstritten gelten sollten. Der Streit zwischen der Trump-Administration und den Medien über die Zahl der Zuschauer bei seiner Amtseinführung – um nur ein Beispiel zu nennen – grenzte an Absurdität. Das Vertrauen in die etablierten Medien, die solche Fragen diskutieren, schwindet.
Eine gewisse Skepsis gegenüber Institutionen und Autoritäten würden die meisten als angemessen bezeichnen. Das richtige Mass ist dabei nicht so leicht zu finden. Man selbst hat nur begrenzte Informationen und nicht immer ist es rein rational begründbar, was oder wem wir glauben. Zudem hängt es von Einstellungen und Werten ab, was wir mit den Informationen anfangen, die uns als Fakten präsentiert werden. Diese Einsicht sollte jedoch nicht zum Schluss führen, dass es nicht relevant ist, worauf sich unsere Ansichten stützen. Oder gar, dass es nicht möglich ist, zu sagen, etwas sei wirklich der Fall. Es ist nicht naiv zu denken, dass es etwas wie Fakten gibt und dass diese die Grundlage eines politischen Entscheidungsprozesses bilden sollten – auch wenn wir oft keinen direkten Zugang zu den Fakten haben. Gefährlich wird es besonders dann, wenn die Trennlinien zwischen Fakt, Meinung und Lüge verschwinden oder zumindest nicht mehr so eine grosse Rolle spielen. Vor allem kann es nicht sein, dass falsche «Tatsachen» gleichberechtigt neben Fakten stehen. Und genau das droht zu passieren, wenn Aussagen nicht mehr an ihrer Wohlbegründetheit gemessen werden, weil man diese Unterscheidungen nicht mehr macht. Wenn man den vollkommenen Skeptizismus zu Ende denkt (im Sinne von: «Ich kann sowieso nichts mit Sicherheit wissen»), was bleibt einem dann noch als Grundlage seiner politischen Entscheidungen?
Nachdem der Ausdruck «postfaktisch» wegen seines hohen Gebrauchs zum «Internationalen Wort des Jahres 2016» gewählt wurde, befindet sich seine kurze Karriere wohl schon wieder auf dem Abstieg. Trotzdem bleibt für viele die Frage: Was heissen solche Tendenzen für die Demokratie? Sind die Grundprinzipien der Demokratie, die bekanntlich über die vielbeschworene Mehrheitsregel hinausreichen, in Gefahr? Das Vertrauen sowohl in politische Institutionen als auch in die öffentlichen Medien ist in manchen Ländern zurzeit erschüttert. Es wird von einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel, von zunehmender Ungleichheit, teilweise auch von einer Teilung der Gesellschaft in Elite und Volk gesprochen. Es ist nicht leicht zu sagen, weshalb bei so vielen Unsicherheit oder Unzufriedenheit herrscht. Viele wollen, dass sich etwas verändert – manche vielleicht auch, dass sich gewisse Dinge nicht verändern. Diese Gefühle scheinen zum Teil einen gewissen Wunsch nach verstärkter Autorität und einfachen Erklärungen mit sich zu führen. Dinge, die den Grundsätzen der Demokratie entgegenlaufen.