Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt, oder: Studieren in Zeiten von Corona III

Stundenlanges Sitzen in Bananenhaltung, Darth-Vader-Stimmen und Raster, die die bröckelnde Zeit zusammenhalten. Teil III unseres Corona-Tagebuchs mit Mira Imhof, Studentin der Geschichte und Gender Studies im 2. Mastersemester.

Sonntagabend

Ich realisiere, dass ich die Osterferien vergessen habe. Kein Wunder, jetzt wo sich die Zeit nicht mehr an fixen Haken aufhängen lässt und damit eine einigermassen berechenbare Gestalt erhält, fällt sie unregelmässig, in grösseren und kleineren Brocken, in den Raum. Und nun liegt eine ganze, vollkommen videokonferenzfreie Woche vor mir.

Montag

Manchmal ist alles wie eingefroren. Ich erinnere mich dann an einen Roman meiner Kindheit, in dem die Titelheldin Molly Moon den Lauf der Dinge anhalten und im entstehenden Vakuum, einer Art Zwischenraum, alles tun konnte, was sie wollte. Auch hier ist gerade vieles entschleunigt, es entstehen plötzlich ungefüllte Stunden, Möglichkeiten, zum Aus-der-Zeit-Fallen.

Und es ist still geworden. Wenn ich auf die Dachterrasse trete, höre ich neuerdings die Vögel zwitschern – vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich mich erst jetzt darauf achte. Die Autos fahren in grösseren Abständen vor meinem Haus vorbei und das für diese Stadt so charakteristische Rattern des Trams in den Schienen tritt nur noch selten in mein Bewusstsein. Ein Mäusebussard zieht enge Kreise über meinem Kopf und ich frage mich, ob er nachschauen kommt, was bei uns los ist. Wie seltsam das für ihn aussehen muss, so ganz ohne dieses dichte, in ständiger Bewegung angetriebene Wuseln von kleinen schwarzen Punkten und farbigen Kästchen. Vielleicht geniesst er aber auch einfach mal die weite, ungestörte Aussicht.

Dienstag

Uni in der Online-Version finde ich ziemlich grauenhaft. Die verzerrten Darth-Vader-Stimmen, die da aus den Kopfhörern in mein Ohr dringen, die jeweils im ungünstigsten Moment eingefrorenen Webcam-Aufnahmen, das Sich-Anschweigen, das online sehr viel weirder ist, als im echten Leben, wo man immerhin genau weiss, ob jemand einem gerade in die Augen schaut oder nicht. Und dann diese unerwarteten Einblicke in private Wohnräume von Personen, von denen man manchmal den Namen nur weiss, weil er unten im Bildausschnitt steht. Die Funktion des Hintergrund-Verschwimmens, die ja für etwas mehr Privatsphäre sorgen soll, finde ich da auch nur begrenzt hilfreich. Als ich das einmal gemacht habe, sah es aus, als würden an den Seiten meines Kopfes einige Stücke fehlen.

Es hat definitiv seine Tücken, sich zwischen Wäscheständern, Mitbewohnern und improvisierten Schreibtischen auf so spezifische Themen wie Dienstrituale am mittelalterlichen Königshof oder Imaginationen des Ungeborenen in der Frühen Neuzeit einzulassen. Und häufig verlaufen die Seminardiskussionen dann auch entsprechend: Es ist meist schon ein Triumph, es überhaupt und ohne einen Unterbruch in der Internetverbindung durch die neunzig Minuten geschafft zu haben. Musse für weit ausgreifende Gedankenexperimente vermag man da verständlicherweise nur schwer aufbringen. In Corona-Zeiten gilt daher noch viel stärker, was an der Uni sowieso schon wichtig ist: Man muss sich Verbündete suchen und mit ihnen eigene Modi der Auseinandersetzung entwickeln. So zum Beispiel in einem neugegründeten feministischen Lesekreis, den ich gerade sehr liebe und der mir zeigt, dass Nähe und intellektueller Austausch auch online irgendwie möglich sind.

Mittwoch

Im «Covid-19-Uhr-Newsletter» der Republik erfahre ich von den Vorteilen antizyklischen Konsums in Zeiten der Krise und wie man damit besonders bedrohte Geschäfte, Restaurants etc. unterstützen kann. Ich nehme sogleich meine Chance wahr und betreibe exzessives Onlineshopping in meinen liebsten Kleider- und Buchläden.

Seit das Ganze angefangen hat, erstelle ich mir auf dem Computer jeden Abend einen Tagesplan, damit ich etwas habe, an dem ich mich festhalten kann. Dann fühlt es sich offizieller an, dieses stundenlange Sitzen in Bananenhaltung, am immer gleichen Schreibtisch. Auf dem Tagesplan stehen neben «Zoom-Seminar», «Skype-Vortragsbesprechung» und «Seminararbeit recherchieren» auch Dinge wie «chillen», «Socken flicken» oder «Papa anrufen» – ich habe das Gefühl, dass alles irgendwie weitergeht, solange es nur auf diesem ausgedruckten Papier fixiert ist. Die Tagespläne speichere ich in einem Ordner auf meinem Computer, er trägt den Titel «Corona handeln». Das Auseinander- und Entgleiten der Sekunden, Minuten und Stunden lässt sich aufhalten, wenn da ein Raster ist, das lose Enden, Ideen und Fixpunkte im Tag zusammenführt. Ich kann mir die Zeit wieder aneignen.

Donnerstag

Mein Freund hat einen grünen Daumen. Unsere Wohnung verwandelt sich gerade in einen Wald. Vielleicht sollte ich meine Widerstandversuche gegen diese grüne Invasion aufgeben und auch mit dem Gärtnern anfangen. Das wäre dann immerhin ein analoges Hobby – aktuell ein sehr rares Gut und möglicherweise die Rettung vor der durch virtuelle Überdosen hervorgerufenen schlechten Laune?

Ich habe festgestellt, dass ich mir Dinge mehrheitlich «räumlich» merke. Wenn ich einen Text oder ein Buch lese, verknüpfe ich den Inhalt immer auch mit der Lesesituation. Retrospektiv habe ich beim Erinnern einer These dann oftmals auch den Raum vor Augen, in dem ich las: Bilder, die entstanden sind, als ich den Blick schweifen liess und währenddessen das Gelesene im Kopf ordnete. Seit ich nicht mehr an verschiedenen Orten wie den Bibliotheken, dem Zug, meinem Bett oder dem Unigebäude lesen kann, ist die Aussicht immer die gleiche und mir scheint, dass das Gelesene dadurch ungeordneter ist, als hätte es keine Konturen. Das gedankliche Mindmap ist irgendwie eindimensional und die verschiedenen Wissenshäufchen müssen sich erst wieder neu sortieren. Ich mache mich auf die Suche nach neuen Leseorten auf meinen fünfzig Quadratmetern.

Freitag

Meine Liebsten fehlen mir sehr. Virtuelles Kontakten ist besser als nichts, aber insgesamt ein jämmerlicher Ersatz für reale Präsenz. Ich möchte sie nicht mehr mit Ellbogen oder Füssen begrüssen, sondern richtig umarmen und mit ihnen versehentlich zusammenstossen in den engen WG-Küchen, ohne ein inneres Verkrampfen. Eine meiner besten Freundinnen hat gestern geheiratet, mit Desinfektionsmittel und Plexiglas-Absperrung in einem improvisierten Standesamt. Und ohne mich. Zu Ostern habe ich einen Hasen aus Schokolade per Post bekommen, eingewickelt in Luftpolsterfolie (und viel Liebe). Ich werde in diesem (Spät-)sommer sehr viele, sehr ausschweifende Feste feiern müssen, um all die Entzugserscheinungen wieder ausgleichen zu können.

Samstag

Radikalen Digitalisierungsenthusiasmus im Kontext akademischen Arbeitens habe ich schon früher mit Skepsis betrachtet (shoutout to Bibliothek der Zukunft), aktuell wächst meine Liebe für Bibliotheken aber fast ins Unermessliche. Die unzähligen, nebeneinander sichtbar aufgereihten und physisch sehr präsenten Bücher… Eine coronische Onlinerecherche ersetzt nie das Gefühl, am Leseplatz auf eine verheissungsvolle Fährte zu stossen und ihr dann sogleich dynamischen Schrittes im Freihandmagazin nachzuspüren. Sich in vorhandenen Büchern zu verlieren und die dann am Ende des Tages mit der Präzision einer Tetris-Weltmeisterin im winzigen Schliessfach der ZB zu verstauen, ist etwas ganz anderes, als nach stundenlangem Starren ins helle Viereck eine Unzahl von Links in einem Word-Dokument abzuspeichern – und sie vermutlich nie mehr anzuschauen.

Sonntag

Die online bestellten Kleider passen nicht, natürlich nicht. Ich klemme mir die Schachtel unter den Arm und unternehme einen Spaziergang, um sie zurückzubringen. Die Leute sitzen draussen an der Sonne, an den Tischen der Cafés und für einen Moment ist es fast wie immer. Nur werden die Leute nicht bedient und vor ihnen stehen eine Menge Dosenbiere. Auf dem Rückweg vom Laden setze auch ich mich an einen der Tische, öffne mein eigenes Bier und stelle es auf die mit Blütenstaub überzogene Platte.

Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
Hier geht es…
… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt
…zu Teil IV: Quarantänegeburtstage
…zu Teil V: Dem Trotz entfliehen
…zu Teil VI: Nach dem Lockdown der Kater?
…zu Teil VII: Tatendrang aus Leistungszwang