Eine neue Normalität zwischen Sonnenschein, Gartenoase, Zoom-Fatigue und Prüfungsphase. Teil VIII unseres Corona-Tagebuchs, diesmal von Elena D’Amato, Geschichts- und Kunstgeschichtsstudentin im 5. Bachelorsemester.
Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, doch ohne Routine kann ich einen Tag kaum vom nächsten unterscheiden. Als die Zeit noch das Konstrukt war, das unseren Alltag bestimmte, hatte «heute ist wieder Montag» eine unmissverständliche Bedeutung. Es war der Tag, an dem man morgens die Schlummertaste wieder und wieder drückte, Unmengen an Kaffee konsumierte und das Wochenende wegen seinem schnellen Ende verfluchte. Aber irgendwie ist mit Corona jeder Tag zum Montag geworden. Den Monday Blues gibt es nicht mehr, weil es auch kein richtiges Wochenende mehr gibt.
So wenig ich mich auch nach dem Montagsfrust sehne, fehlt mir die Struktur, die mit dem banalen prä-covidischen Alltag einherging. Ich will also versuchen, wieder zum gewohnten Rhythmus zurückzufinden.
Ich wache früh auf, noch vor meinem Wecker. Die Sonne scheint und die Vögel zwitschern harmonisch. Ich packe meine Yogamatte aus und dehne mich 10 Minuten auf dem Balkon, während in meinem linken Ohr die Limmat rauscht und und ich im rechten die Kaffeebohnen rösten höre. Mit meiner grossen Tasse Kaffee mache ich es mir auf dem Sofa bequem und lese einige Artikel im New Yorker. «Zumindest werde ich jetzt endlich zum Lesen kommen», dachte ich mir zu Beginn des Lockdowns. Vermutlich ist die Woche vor der Prüfungswoche allerdings nicht der beste Zeitpunkt, das jetzt endlich umzusetzen. Schliesslich ist Montag, die Arbeit wartet. Während Corona kann aus einem Montag ziemlich schnell ein Sonntag werden. Aber heute beende ich meine Lektüre und beginne meine Prüfungszusammenfassungen durchzugehen.
Wieder erwache ich, bevor mein Wecker zu klingeln wagt. Wieder scheint die Sonne. Ich trinke Kaffee auf dem Balkon. Dann ab an die Arbeit. Eigentlich genau wie gestern. Ich erinnere mich an den Film Groundhog Day. Phil, der Protagonist, wacht jeden Morgen am selben Tag auf und muss diesen immer wieder von neuem durchleben, bis er den Schlüssel findet, um zur Normalität zurückzukehren. In unserer Welt gibt es aber keinen Schlüssel.
Microsoft Teams Meeting Nummer eins. Wir besprechen einen Text, doch ich tagträume vom gestrigen Abend. Nach einer Velofahrt durch die Stadt machten mein Freund und ich im Café unter den Viaduktbögen für einen Eistee Halt. Es war mein erster Cafébesuch seit Mitte März. Der Kellner platzierte unsere Gläser am anderen Ende vom Tisch. «Um ja den Abstand einzuhalten», scherzte er. Die betretenen Schweigerunden, die in den virtuellen Meetings zum Alltag geworden sind, stören mich kaum mehr. Ich nutze die Zeit, um mir meine Zehennägel pastellrosa zu lackieren und meinen Sessel vom Kleiderhaufen, der sich dort über die letzten Tage angesammelt hat, zu befreien.
Der Nachmittag vergeht wie im Fluge. Im nächsten Meeting geht es um ein virtuelles Ausstellungsprojekt zu Henri Matisse, welches ich mit zwei Mitstudentinnen planen soll. Üblicherweise dauert unsere wöchentliche Sitzung viel länger als vorgesehen, weil wir noch ewig plaudern. Heute sind jedoch alle im Prüfungsstress, wir brechen frühzeitig ab.
Am Abend treffe ich ein paar Freunde zum Zoom-Dinner. Allmählich spüre auch ich die «Zoom-Fatigue», die Erschöpfung der konstanten digitalen Interaktionen, doch ich freue mich, mal wieder ein paar bekannte Gesichter zu sehen. Wir kochen alle im Voraus und treffen uns um 19.30 Uhr. Ich ersetze mein Pyjamaoberteil durch ein etwas anständigeres Shirt und mache mir noch schnell einen griechischen Salat. Bei den anderen gibt’s Gemüserisotto, Chili con Carne, vegane Spaghetti Carbonara und Planted Chicken mit Broccoli. Natürlich klappt es nicht auf Anhieb und wir brauchen mindestens 20 Minuten, bis wir uns endlich alle hören und sehen können. Zweieinhalb Stunden und zwei Gläser Rotwein später beenden wir das Nachtessen. Ich widme mich erneut dem Lernen.
Während dem 10.00 Uhr-Meeting mit unserer Professorin frage ich mich, was für Bücher da hinten in ihrem Regal stehen. In all diesen Online-Meetings ist das sorgfältige Analysieren der Hintergründe zu einem amüsanten Spiel geworden. Die Pandemie ermöglicht den voyeuristischen Augen unter uns einen Einblick in Zuhause, die wir unter normalen Umständen wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen hätten. Nicht nur das Bücherregal scheint ein beliebtes Motiv zu sein. Bei den StudentInnen befinden wir uns meistens im Schlafzimmer. Manche nehmen das Ganze meiner Meinung nach etwas zu ernst und inszenieren sich absichtlich vor einer weissen Wand. Ich bin dann meist recht enttäuscht, wenn nichts zu erkennen ist, und frage mich, was es wohl zu verstecken gibt.
Am Nachmittag nehme ich mir vor, die Bücher, die ich in den letzten Wochen ausgemistet habe, zum transhelvetischen Bücheraustausch am Bahnhof Letten zu bringen. Ich radle an der grossen Wiese beim GZ Wipkingen vorbei. Die Tafel, auf der in fetter Schrift «Bleiben Sie zu Hause. Bitte. Alle.» steht, hindert die Leute nicht daran, das sonnige Wetter zu geniessen. Am Sonntagnachmittag herrschte hier fast Festivalstimmung. Musik dröhnte aus allen Ecken, vor den Mülleimern stapelten sich Bierdosen, Gelächter überall. Der Wille, dem Mantra des Zuhausebleibens zu folgen, ist verschwunden. Das besorgt mich. Und dennoch machen mich die Frühlingsstimmung und die menschengefüllten Kaffees auch glücklich. Denn alles fühlt sich gerade so normal an.
Ich kann mich nicht konzentrieren. Meine Familie ist kurz vor Mittag noch zu ziemlich lauter Musik gemütlich am Frühstücken. Wieso ist hier eigentlich niemand am Arbeiten? Ich merke, heute ist Auffahrt. Nicht für mich. Die nächsten acht Stunden verbringe ich mit Lernen. 724 – das ist die Anzahl Schritte, die ich heute gelaufen bin (das wäre genau einmal der Weg zum Briefkasten und zurück und zwölfmal den Weg zum Kühlschrank und zurück…). Ich bin eigentlich keine religiöse Schrittzählerin, aber trotzdem stört mich der Einbruch meiner Schritt-Grafik, für den die Monate April und Mai verantwortlich sind.
Heute Abend gehe ich mit zwei Freundinnen in unserem Schrebergärtli essen, da kann ich noch ein paar Schritte sammeln. Wir machen es uns mit einem Glas Wein unter dem Feigenbaum gemütlich. Die Leute liegen in ihren kleinen Wiesen, überall wird grilliert. Vor einigen Wochen habe ich im Tages-Anzeiger gelesen, dass die Nachfrage nach Familiengärten mit Corona stark angestiegen sei. Speziell während dieser Zeit schätze ich es, dass wir diese kleine Stadtoase als Zufluchtsort haben.
Ich habe unruhig geschlafen. Das Bellen eines Hundes in den frühen Morgenstunden und die synchron quakenden Frösche, die sich seit einigen Monaten genau neben unserem Haus ihr Domizil ausgesucht haben, treiben mich in den Wahnsinn. Um acht Uhr zwitschern die Vögel. Diesmal kommt es nicht von draussen, es ist mein Wecker.
Zum Zmittag bin ich mit meinem Bruder bei unserem Nonno. Um genügend Abstand zu halten, essen wir draussen auf der Terrasse, während er drinnen bleibt. Unsere Teller Penne reicht er uns durch das Küchenfenster. Bevor wir gehen, versuchen wir alles zu desinfizieren. Und wenn wir ihm sagen, er soll sich die Hände mindestens zwanzig Sekunden waschen, winkt er ab und lacht. Normalerweise gehe ich mehrmals die Woche bei ihm essen, doch momentan ist das alles komplizierter.
Samstagmorgen, ich schlafe aus. Bei meinem Kaffee auf dem Balkon beobachte ich Paare, die vom Einkaufen kommen, Freunde auf ihren Spaziergängen, Jogger und velotourende Familien. Sie nehmen es gemütlich, vom Alltagsstress spürt man nichts mehr. Heute bewegt sich alles in Zeitlupe. Ich bin erleichtert, denn ich merke, dass das Wochenende wieder da ist.
Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
Hier geht es…
… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt
…zu Teil IV: Quarantänegeburtstage
…zu Teil V: Dem Trotz entfliehen
…zu Teil VI: Nach dem Lockdown der Kater?
…zu Teil VII: Tatendrang aus Leistungszwang