Dem Trotz entfliehen, oder: Studieren in Zeiten von Corona V

In Zeiten von «Stay the Fuck Home» lechzen nicht nur Chilipflanzen und Avocadobäume nach Sonne, sondern auch Studierende. Balkone und Kaffeemaschinen erhalten die Hoffnung. Ein Bericht von Konstantin Bosshard, Geschichts- und VWL-Student im 2. bzw. 4. Bachelorsemester.

Montag:

Seit die Uni ihre Türen geschlossen hat, beginnt jeder Montag für mich ähnlich. Voller Tatendrang, das Versäumte von letzter Woche heute nachzuholen, stehe ich auf, log mich ins Onlineseminar ein, bis 12 Uhr, und mach dann erstmal Pause. Meistens für den Rest des Tages.

Auch diese Woche startet kaum anders. Nach der Sitzung lege ich mich auf die Couch und surfe ein bisschen durch YouTube. Eine kleine Pause habe ich ja auch verdient, denk ich mir. Nur noch dieses Video über den Anbau von Rosenkohl im eigenen Garten und dann will ich weiterarbeiten.

Etwa eine Stunde später kann ich mich dann tatsächlich überwinden aufzustehen und koche mir mein Mittagessen. Wenigstens hierfür habe ich reichlich Energie. Seit ich so viel zu Hause esse, habe ich einige neue Rezepte kennengelernt. Gewisse Vorteile bringt dieses trostlose Rumsitzen also doch.

Dienstag:

Diesen Tag beginne ich mit Laufen. Natürlich habe ich es mir am vergangenen Abend vorgenommen, aber als ich dann wirklich um 9 Uhr in Laufschuhen vor der Haustüre stehe, überrascht dies mich selbst.

Vor etwa einem Jahr habe ich damit begonnen, möglichst täglich Sport zu machen. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich mich bald nicht mehr überwinden müsste und dass ich mit dem Sport auch in anderen Lebensbereichen energiegeladener werde – fälschlicherweise, wie sich mir immer wieder zeigt.

Natürlich tut mir das Laufen gut, aber sobald ich wieder zuhause bin, merke ich, wie wieder der Trott einsetzt. Die Energie, die ich zuvor hatte, verschwindet und erneut setze ich mich aufs Sofa um in einen Kreis aus Gartenvideos, TED-Talks und Kompilationen einzutauchen.

Mittwoch:

Seit Montag sind die Baumärkte wieder geöffnet. Nach den Bildern von riesigen Warteschlangen an den Eingängen, die durchs Internet schwirrten, hatte ich die ersten zwei Tage noch Hemmungen, selbst in einen Baumarkt zu gehen. Doch zwei Chilipflanzen und ein Avocadobaum müssen umgetopft werden und so mache ich mich auf den Weg in den Baumarkt am anderen Ende der Stadt.

Es tut mir gut, ein bisschen draussen zu sein. Ich vermisse es, ein Projekt zu haben an dem ich wirklich mit Freude arbeiten kann, auch wenn es mich nur für ein paar Stunden beschäftigt.

Vor dem Baumarkt bin ich dann überrascht, wie wenig Leute anstehen. Ich kann direkt rein und finde schnell alles, was ich brauche. Trotzdem ein komisches Gefühl, wieder normal einkaufen zu können.

Zuhause widme ich mich dann den Pflanzen, und obwohl ich für den Rest des Tages nicht mehr viel Produktives erreiche, fühle ich mich am Abend entspannt und zufrieden. Gerade in Zeiten wie diesen merke ich, wie wichtig es für mich ist, kleine Projekte am Leben zu halten.

Donnerstag:

An Donnerstagen habe ich viel zu tun. Ich verbringe den Tag am Computer, schaue Vorlesungen und versuche mich so gut wie möglich am Onlineseminar zu beteiligen. Die «Kamera aus»-Funktion bei Zoom ermöglicht es mir, mich fortlaufend mit frischem Kaffee zu versorgen und so erreiche ich einige Fortschritte in den anstehenden Arbeiten. Endlich.

Am Abend treffe ich mich mit einer Kollegin im Park. Es regnet leicht, wir trinken Bier und ich merke schnell, dass ich mir den Alkohol nicht mehr so gewohnt bin. Für kurze Zeit können wir so den Trott vergessen, in dem wir uns im Moment befinden.

Freitag:

Heute erreichten mich einige Pakete. Samen für den Garten und ein neues T-Shirt. Es ist das erste Mal, dass ich mir Kleidung online bestellt habe und als mir das T-Shirt passt, bin ich erleichtert.

Ein Freund von mir, der im Verkauf arbeitet, meinte, er hätte Angst, dass sich die Leute daran gewöhnen würden, alles online zu bestellen und dass so viele kleine Läden schliessen müssten. Was mich angeht, so wird das wohl kaum der Fall sein. Ich vermisse es in Läden zu gehen, mir Zeit zu nehmen und Verschiedenes auszuprobieren.  

Samstag:

Ich helfe heute einer Kollegin beim Umziehen. Wir stehen in ihrer alten Wohnung auf dem Balkon, das runde Kuppeldach der Universität nur einige hundert Meter entfernt, dahinter der blaue See.

Das schöne alte Gebäude, in dem die Wohnung steht, wird leider abgerissen.

Wie ich da so stehe, merke ich, wie sehr ich einen Balkon vermisse. In unserer Wohnung hat es keinen, um nach draussen zu kommen, muss ich vier Treppen heruntersteigen. Gerade diese Krise hat mir gezeigt, wie gerne ich an der Sonne bin und ich wie fest ich sie vermisse, wenn ich nicht nach draussen kann.

Bald werden auch wir uns nach einer neuen Wohnung umsehen. Dieses Mal, und das ohne Wenn und Aber, mit Balkon.

Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
Hier geht es…
… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt
…zu Teil IV: Quarantänegeburtstage
…zu Teil V: Dem Trotz entfliehen
…zu Teil VI: Nach dem Lockdown der Kater?
…zu Teil VII: Tatendrang aus Leistungszwang