Nach dem Lockdown der Kater? oder: Studieren in Zeiten von Corona VI

Anstelle des Arkadenhofs der Uni Wien…

Langsam spürt man auch in Wien, dass immer mehr gelockert wird. Treffen im engsten Kreis und draussen mit bis zu 10 Personen sind ( mit Sicherheitsabstand) wieder erlaubt. Dennoch steht die erste Woche dieser neuen Realität bei Sebastian Leitner, Geschichte und Geographie im 4. Mastersemester, noch immer im Zeichen der antrainierten Routine. Fast.

Montag

Irgendwann zwischen 7:30 und 8:00 aufstehen, Kaffee rauslassen, nochmals kurz ins Bett gehen und eine Weile Nachrichten lesen. Um 8:20 dann Zeit für ein bisschen Morgensport. Irgendwie hat sich dieser Ablauf während den letzten zwei Monaten im Auslandsemester mit Corona so eingependelt. Nach anfänglichem Fehlen jeglicher Organisation habe ich es tatsächlich geschafft, dass ich meinen Wochenplan, den ich in den Osterferien entworfen habe, relativ gut einhalte. Das hat den tollen Nebeneffekt, dass der Sonntag nicht mehr vollgepackt ist mit Feuerwehrübungen. Die Struktur hilft.

Um 9:30 sitze ich frisch geduscht und ready für die kommenden Aufgaben an meinem Schreibtisch und bereite mich nochmals für den Methodenworkshop vor, der ansteht.

10:45-12:45 Methodenworkshop Netzwerkanalyse. Wir diskutieren das Taggen von Urkundenregesten aus dem Mittelalter in der XML-Sprache. Diese digitalen Tools können doch noch cool sein.

Nach dem Seminar esse ich zusammen mit meinem Mitbewohner, der ebenfalls im Home-Office für seine Firma arbeitet. Am Nachmittag versuche ich mich an meinen Plan zu halten. Es klappt nicht ganz so wie gewünscht. Als meine anderen beiden Mitbewohner_innen, die zur Arbeit rausdürfen, nach Hause kommen, bin ich noch nicht dort, wo ich sein möchte. Trotzdem lasse ich die Arbeit liegen und wir gehen auf unseren – Corona sei Dank – fast schon ritualisierten WG-Nachmittagsspaziergang am Donaukanal. Die Lockerungen der Ausgangsbeschränkungen sind spürbar. Es hat wieder viel mehr Verkehr in Wien und am Kanal tummeln sich die Leute fast schon wieder wie zu den besten Zeiten. Es ist schön, die Stadt langsam erwachen zu sehen.

Dienstag

Ähnliches Morgenritual wie immer. Heute gehe ich aber joggen am Donaukanal. Die Luft ist noch frisch, es sind wenig Leute unterwegs und die Morgensonne scheint durch die Häuser. Herrlich. Man sollte öfters schon morgens raus!

Von 10:45-12:15 sitze ich wieder in einem Online-Seminar. Nach dem Mittagessen, denke ich, werde ich für mein Projekt arbeiten.

…muss ich mich mit diesem Ausblick und Online-Seminaren begnügen.

Rückblickend sollte es anders kommen. Die Videos von Auftritten eines österreichischen Kabarettisten auf youtube faszinieren mich gerade deutlich mehr. Aber alles gut, rede ich mir ein, ich bin hier schliesslich im Auslandsemester, dann ist es völlig legitim, dass ich mich mit der hiesigen Kultur auseinandersetze. Achja, und wenn wir uns schon mit Kultur beschäftigen, kann ich mich ja gleich noch eine halbe Ewigkeit lang mit meinem Mitbewohner über österreichische und schweizerische Musik austauschen. Das Projekt werde ich dann schon irgendwie hinkriegen.

Mittwoch

Der gestrige Morgenlauf am Donaukanal war so toll, dass ich ihn heute gleich wiederhole. Im Anschluss versuche ich mich an den Hausübungen für das Netzwerkanalyse-Seminar. Irgendwie schaffe ich es bei diesen XML-Code-Übungen nie, länger konzentriert zu bleiben. Ich finde das überhaupt das Schwierigste an diesem coronaischen digitalen Overload.  So mäandriere ich zwischen Hausübung und Quellenlektüre zur Pest in Kairo herum und finde die digitalen Tools nun doch wieder nicht so toll.

Ich beginne sogar mein gesamtes Studium zu hinterfragen, denn irgendwie möchte ich doch gar nicht so viel am Computer arbeiten und überhaupt – Arbeit, gutes Stichwort! Ich sollte vielleicht endlich einmal damit beginnen, mein Leben nach dem Auslandsemester zu organisieren. Werde ich überhaupt wieder bei meinem Studijob einsteigen können aufgrund der Corona-Krise? Und wenn nein, findet man in dieser Situation überhaupt Alternativen? Aus dem Nichts tauchen diese nervigen Existenzängste und Selbstzweifel auf. Ich schreibe meinem Chef ein Mail. Dann lege ich mich hin und höre Musik. Sie hilft; ich beruhige mich wieder. Ist doch alles nur halb so schlimm. Ach ja, ich wollte heute ja ursprünglich mal die Hälfte der Hausübung hinkriegen. Ich setze mich also nochmals brav eine Stunde hin und übe XML.

Donnerstag

Beim Frühstück lasse ich mir von meiner Mitbewohnerin diverse Sachen bezüglich Bakterien und Viren erklären. Das Thema ist schon dauerpräsent und sie als Biologiestudentin kennt sich doch ein bisschen mit der Materie aus. Ich verstehe nicht alles und werde wohl auch bald wieder einiges vergessen haben.

Das mit der Pest wird mich jetzt sowieso noch mindestens eine Woche lang verfolgen. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass ein Professor noch vor Corona plante, dass wir als Leistungsnachweis einen Essay über die sozioökonomischen Auswirkungen der Pest-Pandemie im Mittelalter schreiben müssen. Aktualitätsbezug stark vorhanden. Und der motiviert mich tatsächlich. Ich stürze mich nach der Videokonferenz gleich in die Quellenlektüre.

Um 16:00 klopft es an der Tür. Marcin, der mir sein WG-Zimmer für ein halbes Jahr vermietet, schaut vorbei. Es wird ein lustiger Nachmittag. Die ganze WG ist zu Hause. Wir hören Musik, trinken Bier, reden viel Blödsinn und lachen dabei fast ununterbrochen. Wie schön, dass sich die Ausgangsbeschränkungen seit dieser Woche wieder ein wenig gelockert haben und solche Szenen wieder möglich werden!

Freitag

8:00 aufstehen und klassische Routine. Irgendwann muss dieser Trott doch endlich aufhören. Aber wie gesagt: eigentlich bin ich momentan um diese Struktur sehr froh. Und die Morgengymnastik tut ja wirklich gut.

Es ist nun neun: ich sollte meine XML-Hausübung fertig coden. Dann kriege ich eine Email, dass ich meine ausgeliehenen Bücher am Mittwoch wieder zurückbringen muss. Hurra! Die Bibliotheken öffnen wieder! Nach einem innerlichen Freudentanz widme ich mich wieder meiner Arbeit.

Um 15:00 folgt eine kurze Telefonkonferenz zur Planung eines Vortrages. Da wir nur zu viert sind, dürften wir uns seit dem 1. Mai auch physisch treffen. Wir wollen dies natürlich nutzen und vereinbaren unser nächstes Treffen irgendwo draussen. Endlich kann man wieder mit anderen Studierenden zusammenkommen. Das tut der Seele gut und ich freue mich schon riesig darauf.

Das heutige Highlight ist aber ein anderes. Mein Mitbewohner und ich haben beschlossen, der Donau entlang und schliesslich den Leopoldsberg hochzurennen. Die Steigung ist streng, sehr streng. Zumal es doch schon fast sommerlich warm ist. Aber der Ausblick vom Leopoldsberg auf das schöne Wien entschädigt für die Strapazen.

Samstag

Heute ist das Geniessen der neuen Freiheiten angesagt! Wir gehen zu einer Kollegin meines Mitbewohners grillieren. Es ist toll, wiedermal neue Personen kennenzulernen. Gerade um neue Bekanntschaften zu knüpfen ist ja ein Auslandsemester eigentlich auch gedacht. Ich aber war nur drei Tage «richtig» an der Uni, ehe die Ausgangsbeschränkungen ausgerufen wurden. Danach hiess es viel zu Hause zu sein. (An dieser Stelle ein grosses Dankeschön an meine Mitbewohner_innen! Ihr seid grossartig, denn ohne euch hätte ich wohl früher oder später doch die Heimreise in die Schweiz angetreten!)

Nach dem Grillnachmittag und einigen Bieren will ich mich eigentlich noch kurz ausruhen, bevor am Abend zwei Kollegen meiner Mitbewohner vorbeikommen. Doch dann ruft mich spontan mein Onkel per Facetime an, der sich gerade im Garten ein Bierchen gönnt. Aus Solidarität trinke ich halt eins mit (okay, gross gewehrt dagegen habe ich mich nicht, ich gebe es ja zu…). Und so gibt es dann doch keine Bierpause, bis die anderen kommen. Was folgt ist ein lustiger Abend mit – ja, ihr ahnt es schon – noch mehr Bier. Aber die neuen Freiheiten müssen ja auch gefeiert werden!

Sonntag

Ich wache ein bisschen zerknittert und überhaupt nicht erholt auf. Was ist denn dieses seltsame Brummen in meinem Kopf? Habe ich etwa Kopfweh? Ehrlich gesagt, ich wusste fast nicht mehr, wie sich so ein Kater anfühlt. Aber da hat sich wohl ein kleiner eingeschlichen. Ist das diese neue Realität, von der der werte Herr Bundeskanzler immer spricht?

Kann sein. Ich realisiere vor allem, dass ich es überhaupt nicht mehr gewohnt bin, länger zu feiern. Und so komme ich heute halt nur langsam in die Gänge. Eigentlich wollte ich ja noch ein bisschen produktiv sein und zum Beispiel diesen Text hier noch fertigschreiben. Aber das wird jetzt alles ein bisschen nach hinten verschoben. Aber, denke ich mir, das war es wert! Schliesslich konnten wir gestern endlich wiedermal mit ein paar Leuten zusammenkommen. Die Zeichen der Öffnung werden immer deutlicher und ich kann den 15. Mai kaum erwarten. Für dann ist die Wiedereröffnung der Gastronomie angesagt und ich freue mich schon auf die Wiener Kaffees! Wird spannend sein, wie die Umsetzung in Realität ausschauen wird.

Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
Hier geht es…
… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt
…zu Teil IV: Quarantänegeburtstage
…zu Teil V: Dem Trotz entfliehen
…zu Teil VI: Nach dem Lockdown der Kater?
…zu Teil VII: Tatendrang aus Leistungszwang