Die Gänge der Uni sind verwaist, wir StudentInnen sitzen zu Hause vor unseren Laptops und Büchern. Der etü führt ein Lockdown-Tagebuch – Teil II mit Antonia Schulte-Brinkmann, Geschichts- und Germanistikstudentin im 1. Bachelorsemester.
Die Tage und Wochen verschwimmen, alles ist irgendwie stiller, langsamer. Es ist neun Uhr morgens, ich habe vergessen, welcher Wochentag heute ist und sitze im Nachthemd an meinem Pult, vor mir ein Buch über Prostitution im 19. Jahrhundert (ein Forschungsbericht soll geschrieben werden). Der Mensch sei doch ein Anpassungsweltmeister, meint eine Freundin zu mir. Sie hat mich zum Download der Houseparty-App überredet – die haben jetzt alle, meint sie. Das Konzept: Ein Videocall im virtuellen Raum, in den andere FreundInnen unangemeldet dazustossen können. So ergeben sich verschiedene Räume, die man wie bei einer Hausparty betreten und verlassen kann. Jeden Abend Hausparty – so hätte ich mir mein erstes Semester an der Uni auch nicht vorgestellt.
Anpassungsweltmeister? Wohl kaum. Es fällt mir auch nach einem Monat nicht leicht, einem Tagesablauf zu folgen, eine Struktur in der Strukturleere zu finden, die soziale Distanz zu meinen Liebsten einzuhalten. Meinen Wecker stelle ich jeden Morgen brav auf acht Uhr – das scheint mir eine angemessene, ja herrliche Zeit, um den Tag anzugehen. Vier Wochen schon bin ich zu Hause, genauso lange wie ich vorher an der Uni war. Wehmütig denke ich an den sonnendurchfluteten Lichthof zurück, in dem ich am letzten Unifreitag bis zum bitteren Ende sass und neben Kuros von Samos die Pressekonferenz des Bundesrates mitverfolgte. Etwas traurig denke ich auch an die vielen steinernen Stockwerke, die ich gerade zu unterscheiden gelernt hatte, an das satte Tippen hunderter flinker Finger in der Einführungsvorlesung, das mich und meine neugefundenen FreundInnen wie ein Insektenschwarm jeden Mittwochabend umgeben hat. Nun sitze ich im Schneidersitz auf einem rosa Stoffkissen in meinem Zimmer und höre einer fünfzehnminütigen Audio-Datei zu, die an eine PowerPoint-Folie angehängt wurde. Geschichtsschreibung im Mittelalter. Für so eine Vorlesung brauche ich in der Regel zwei Stunden. Ich höre, halte den Ton an, spule zurück, höre nochmal. Manche Professoren lesen einfach einen Text vor, ich verliere andauernd den Faden, versuche, das schöne Wetter vor meinem Fenster zu vergessen. Im Hintergrund Beethovens Violinkonzert in D Major in ohrenbetäubender Lautstärke – mein Vater ertränkt sich seit Tagen in klassischer Musik. Er darf gar nicht mehr arbeiten. Ein Professor fragt nach einem guten Rezept für ein Sauerteigbrot, man solle sich doch melden. Im Forum werden Sauerteig und die sozio-ökonomischen Unruhen der 1860er in Japan diskutiert, während die Geigen weiter jubeln. Meine Mutter ist Professorin und fährt einmal die Woche in leeren Zügen zur Uni, um eine Vorlesung vor einem leeren Saal zu halten. Abends sitzen wir auf dem Sofa und schauen die Tagesschau. Endzeitliche Stimmung, wie immer. «Noch so einen Monat halte ich nicht durch», meint mein Vater. Tröstend legt ihm meine Mutter den Arm um die Schulter und schlägt vor, sich bei der Fremdenlegion zu melden und in den Regenwald zu gehen. «Alles besser als noch so ein Monat zu Hause.» Regenwald klingt gut, finde ich.
Es ist Mittwoch, ich lese Senecas 47. Epistel, es geht um die grausame Behandlung von Sklaven. ,Servi sunt.’ Immo homines. / ’They are slaves.’ people declare. Nay, rather they are men. Ein schöner Brief, wie ich finde. Mit Seneca wäre ich auch gern mal einen Kaffee trinken gegangen. Hinter unserem Haus ist eine Kuhweide, zwei Bauern stecken die Weide ab und unterhalten sich laut auf Nidwaldnerdeytsch. Ich winke hinter meinem Laptop aus dem Fenster. Eigentlich wollte ich joggen gehen, doch der Berg an Zu-Erledigendem ist in den letzten Tagen mit einschüchternder Geschwindigkeit gewachsen. Dennoch beginnt sich irgendetwas in mir leichter anzufühlen, ich fange beinahe an, in der jetzigen Lebenslage etwas Neues, ja wunderbar Entschleunigtes zu erkennen. Ein Freund sagt zu mir, dass sich die Welt zum ersten Mal in seinem Tempo drehen würde. Es sei beruhigend zu wissen, dass nichts anderes passiere, dass man nichts verpassen könne. Nachdenklich nicke ich, so habe ich das noch nie gesehen. Entschleunigung – für mich ein sehr schönes Wort in einer Welt, in der so vieles auf Schnelligkeit, hektischen Konsum und Wachstum ausgerichtet zu sein scheint, in der die Angst des «Verpassen-Könnens» allgegenwärtig und greifbar geworden ist. Ich bin erstaunt vom unerschütterlichen Optimismus meiner FreundInnen, geknickt von der beklemmenden Bedrückung meiner Eltern und beobachte neugierig den gähnenden Graben zwischen Anpassungsweltmeistern und Sorgenweltmeistern. Aber vielleicht mach ich es mir damit zu einfach. Doch es ist wahr – neben einer erschreckenden Polarisierung, einer Zuordnung zu Gut und Böse erlebe ich eine neue Form des Zusammenseins, der Wertschätzung. Wir haben viel mehr Zeit zum Nachdenken, so viel steht fest. Meine Freundin aus der Grundschule liegt neben mir im Rasen in der Sonne, wir reden über Reinkarnation, Astrologie und das Leben nach dem Tod. Fast unwirklich nach einem Tag voller Online-Vorlesungen, Exzerpten und einer Teams-Sitzung, die mein Laptop einfach nicht zulassen wollte. Die zwei Meter halten wir nicht ein – mea culpa, mea culpa!
Ende Woche liegt ein Brief für mich im Briefkasten. Er ist von Agnes (69, alleinstehend, grossartige Kuchenbäckerin), einer guten Freundin meiner Mutter. Beim Lesen huscht mir ein Lächeln übers Gesicht. «Wir brauchen nur die Magnolienbäume, die sich jetzt in ihrer ganzen Pracht zeigen, anzusehen, um dieses immer wiederkehrende Wunder zu verstehen. Kein Mensch, und auch nicht der Virus, kann den Frühling und dessen Osterfest stoppen.» Wunderbare Worte, die mich in ihrer erbaulichen Einfachheit berühren, mich in ihrer schmal geschwungenen Leichtigkeit ermutigen, beflügeln. Im Umschlag finde ich einen kleinen Monet, Poiriers en Fleurs (1885). Ja, denke ich mir – zwischen Sauerteig, Seneca und Sorgen findet sich doch trotz allem der sich leis’ nahende Frühling – vor meinem Fenster und hoffentlich irgendwie auch in uns allen.
Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
Hier geht es…
… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt
…zu Teil IV: Quarantänegeburtstage
…zu Teil V: Dem Trotz entfliehen
…zu Teil VI: Nach dem Lockdown der Kater?
…zu Teil VII: Tatendrang aus Leistungszwang