COVID19 hat unser Leben auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Der etü führt über die nächsten Wochen Tagebuch – den Anfang macht Anke Schindler, Zeitgeschichts- und Kulturanalysestudentin im 2. Mastersemester.
20:34. Heute habe ich sechs Stunden in Videokonferenzen verbracht. Irgendwie habe ich es aber geschafft, gleichzeitig meinen Werkzeugkasten zu putzen und neu einzuräumen, das Bad zu wischen, Hummus zu kochen und Pitas zu backen.
Rückblickend wäre es klüger gewesen, mich ganz auf die Genitivverbindungen im Arabischen zu konzentrieren, statt nebenbei tausend Dinge zu tun. Mein Lehrbuch ist jetzt mehlig und das iPad teigverklebt – dafür schmeckt das Abendessen.
21:17. Ich lese in Grass’ Butt und blättere zu diesem einen Satz zurück, der zu schön ist, um ihn nicht auch hier wiederzugeben: «In ihrem Gesicht feiert die Schönheit der Kartoffel Alltag.» Morgen, nehme ich mir vor, gehe ich raus, Kartoffeln kaufen.
00:39. Ich versuche, meinem Radiowecker das Rauschen abzugewöhnen. Morgen stehe ich früh auf und arbeite an meiner Seminararbeit. Hundertpro.
08:15. Der Radiowecker meldet sich mit einer Filmrezension. «MOSKAU EIFACH!», kreischt er. Nein, nein, nein. Besser, ich schalte das aus.
09:47. Das mit dem frühen Aufstehen klappt im Heimstudium nicht besser als sonst. Die Bialetti kocht über, ich eiere zwischen einer Frühneuzeitlichen Handschrift und einem Text von Quinn Slobodian herum und freue mich aufs Mittagessen.
14:22. Ich sollte für meine Seminararbeit über die Mikroelektronische Revolution recherchieren, aber irgendwie klappt das nicht. Ich wische den Küchenboden und mache Limonade, mit Honig und Zitrone.
14:53. Das mit der Mikroelektronik wird heute nichts mehr. Ich radle zu Paranoia City, um ein Buch für unsere neugegründete feministische Lesegruppe zu holen. Viele Buchläden haben Abholbriefkästen oder verschicken Bücher per Post. Also, Person, die du das liest: Gönn’ dir jetzt alle Bücher, die du schon lange haben wolltest, und denk dabei an die kleinen Buchläden und Verlage. Die gibt es sonst bald nicht mehr.
17:45. Giorgio schickt mir das etü-Twitterlogin, ich finde das hier:
Die nächsten paar Tage möchte ich auf Twitter verbringen.
8:00. Heute wache ich tatsächlich früh auf und beschliesse, erst mal auf keinen einzigen Bildschirm zu schauen. Draussen zwitschern die Vögel, ich trinke Kaffee im Bett und lese ein bisschen in der WOZ. Sie hat jetzt eine Corona-Rubrik. Ich mag dieses blöde Wort nicht mehr hören.
8:42. Meine Mitbewohnerin und ich plaudern in der Küche über Corona.
9:13. Zurück im Bett, mit neuem Kaffee, blättere ich für meine Seminararbeit in einem Buch und komme mir sehr pflichtbewusst vor. Vielleicht schaffe ich es diesen Monat, die Dispo abzugeben?
11:14. Ich öffne Telegram und sehe, dass ich um 10 Uhr mit Sophie und Leonie auf Teams verabredet gewesen wäre, um die morgige etü-Sitzung vorzubesprechen. Ich Blöde! Wir verschieben das Treffen auf den Mittag und beschliessen, für die Sitzung einen Zoom-Account zu lösen, obwohl Zoom datenschutztechnisch problematisch ist. Aber so können sich alle immer sehen, nicht nur die letzten vier Leute, die gesprochen haben, und an der Sitzung soll ja eine Diskussion entstehen können.
15:46. Auf OLAT diskutieren ein paar (nämlich drei) Mitstudent_innen und ich unsere Transkriptionen, die wir fürs Handschriften-Kolloquium gemacht haben. Eigentlich wären zwei Archivbesuche geplant gewesen, die jetzt natürlich ins Wasser fallen. Ein virtueller Fantasiearchivbesuch auf Ad fontes muss genügen.
11:00. Für Frau W. hole ich Zander an der bedienten Theke in der Migros. Ein erhebendes Gefühl! Ich werde übermütig und kaufe mir selbst ein halbes Filet. Als ich ihr die Einkäufe bringe, mustert sie kritisch meine Schuhe, die zugegebenermassen in miserablem Zustand sind, und schenkt mir eine Jacke.
13:12. Zu Mittag Bärlauchsuppe, dann Prokrastination.
16:15. Arabischunterricht – wieder in der Küche, aber diesmal passe ich besser auf. Meine Mitbewohnerin ist im Wohnzimmer in einer online-Yogalektion.
18:00. Die etü-Sitzung auf Zoom klappt ganz gut, aber das Nachsitzungsbier im Zähringer ersetzt auch das beste Tool nicht. Wir entscheiden uns für ein Heftthema und ich hoffe, dass wir uns bis zu den Produktionswochen wieder alle ganz in echt sehen dürfen.
10:15. Im Infrastruktur-Seminar reden wir über Autobahnen. Es ist das letzte Mal vor den Frühlingsferien, vielleicht dürfen wir ja nach Ostern wieder an die Uni?
17:40. Ping, eine Mail: «Gestern hat die Universitätsleitung entschieden, dass bis Ende der Vorlesungszeit, also bis 30. Mai 2020, alle Lehrveranstaltungen an der UZH kontaktlos durchgeführt werden.»
19:12. Ich radle zu meinen Eltern, weil mein Vater heute 60 wird. #StaytheFuckHome mit Ausnahmen, zugegeben. Vier Freund_innen und Verwandte schauen ganz kurz vorbei und wir stehen alle mit zwei Metern Abstand im Garten und trinken ein Bier. Auf Twitter ( <3 ) finde ich später einen Tweet von Nina Kunz: «I miss the old meaning of ‘Frühlingshaft’»
11.54. Ich merke, dass ich mit einer Abgabe zu spät dran bin, und erledige die Arbeit, für die ich sonst einen halben Tag gebraucht hätte, in einer Stunde. Sie wird deswegen nicht schlechter, ich hatte nur weniger Zeit zu prokrastinieren. Für ein Kolloquium muss ich einen Text und Fragen bereitstellen. Wir werden übers Cyborg Manifesto und übers Lesen reden, ich freue mich auf nächste Woche.
13:16. Meine Mitbewohnerin und ich telefonieren mit zwei Freundinnen. Auf einem der Balkone im Innenhof spielt jemand Oboe und Geige, alle klatschen.
14:24. Ich liege auf dem Balkon in der Sonne, lese Mary Beards Women and Power für die Lesegruppe und esse Belugalinsen mit karamellisierten Baumnüssen.
19:00. Oder 19:15? An Samstagen sollte es eigentlich keine Uhren geben. Gleichzeitig sind, seit der Bundesrat vor drei (schon drei!) Wochen die ausserordentliche Lage ausgerufen hat, Wochentage auch irgendwie überflüssig geworden. Auf jeden Fall, während meine Mitbewohnerin und ich friedlich im Wohnzimmer sitzen und arbeiten, fangen die Kirchenglocken an zu läuten. Das bedeutet, dass wir jetzt auf den Balkon gehen und ein Bier trinken müssen. Sie erzählt mir von einem Problem, das sie quält, es hat mit Vektoren und einer Matrix auf Matlab zu tun. Ich kann ihr leider nicht helfen. Wir finden das Leben trotzdem schön. Damit das auch noch festgehalten ist: Beklagen können wir uns wirklich nicht.
09:23. Kaffee in der Küchensonne. In den letzten Tagen hat mich die Sprache, die um dieses Virus bemüht wird, immer wieder erstaunt: Kampf, Krieg, Front. In der WOZ der Satz: «Bei der Bekämpfung von Covid-19 geht es um einen gefährlichen Keim und nicht um einen Krieg: Die Grundrechte müssen so bald wie möglich wieder umfassend gelten.» Später finde ich in einem Spiegel-Artikel einen ähnlichen Gedanken wieder.
10:38. Grossmami anrufen, Labaneh mit dem guten Öl, Mikroelektronik.
16:00. Skypeverabredung mit einer Freundin. Ihre Prüfungen sind auf September verschoben worden, sie hat sich vom Sommer schon verabschiedet.
17:30. Zum dritten Mal in Folge Apero mit der ganzen Familie auf Zoom, inklusive Grosseltern. Später, nehme ich mir vor, klappe ich den Laptop zu und versuche mich an einem analogen Abend. Morgen ist ja theoretisch Montag, dann setze ich mich wieder vor den Bildschirm und schreibe den ganzen Tag an dieser verflixten Seminararbeit.
Ich weiss jetzt schon, dass ich das nicht tun werde. Ich weiss auch, dass ich eigentlich Spass am Schreiben haben werde, sobald ich mal richtig angefangen habe damit. Nur ist das mit dem Anfangen jetzt, wo das Historische Seminar und die Bibliothek so weit fort sind, nicht ganz einfach. Ich freue mich darauf, im Herbstsemester morgens (oder nachmittags) wieder an die Uni zu radeln. Weil viel Liebe für Tocotronic, aber digital ist besser? Nicht für mich.
Studieren in Zeiten von Corona: Der etü schreibt Tagebuch
COVID19 hat unser Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Wie lebt es sich als Geschichtsstudent_in im Lockdown? Die etü-Redaktion erzählt in einer Corona-Serie aus ihrem Alltag.
Hier geht es…
… zu Teil I: Tocotronic lügt!
… zu Teil II: Sauerteig, Seneca und Sorgenweltmeister
…zu Teil III: Auf fünfzig Quadratmetern eine ganze Welt
…zu Teil IV: Quarantänegeburtstage
…zu Teil V: Dem Trotz entfliehen
…zu Teil VI: Nach dem Lockdown der Kater?
…zu Teil VII: Tatendrang aus Leistungszwang