Die Geschichte des modernen Sports ist eine Geschichte der Geschlechterbilder. Von Beginn an wurden dem Sport völlig unterschiedliche Funktionen zugeschrieben, je nachdem ob Frauen oder Männer ihn betrieben. Von den bürgerlichen Männlichkeits- und Weiblichkeitsidealen, nach denen der Sport im 19. Jahrhundert geformt wurde, emanzipieren sich viele Sportarten bis heute nur schwer.
In diesem Sommer wird sich wieder alles um die Fussball-Weltmeisterschaft drehen. Geschätzte 30 Milliarden Franken wird Moskau gesamthaft für das Spektakel ausgegeben haben – trotz wirtschaftlicher Rezession. Millionen Menschen weltweit werden den potenziellen Helden ihrer Nation auf dem Feld zujubeln. Die Frauen-Fussball-WM 2019 in Frankreich wird hingegen wohl wie alle Frauen-WMs zuvor unbemerkt an den meisten Leuten vorbeiziehen.
Fussball ist immer noch ein Männersport. Das zeigen Einschaltquoten, Zuschauerzahlen, die mediale Berichterstattung, aber auch die viel geringere Partizipation von Frauen an diesem Sport. Auch in Disziplinen wie Eishockey oder Rugby werden Frauen kaum wahrgenommen. Es gibt andere Sportarten wie beispielsweise Tennis oder Skifahren, bei denen das Geschlecht eine kleinere Rolle für die Beliebtheit spielt und bei denen auch die Löhne und Preisgelder ausgeglichen sind. Woran liegt das? Warum interessieren in gewissen Kult-Sportarten immer noch nur die Männerteams, während sich in anderen die Frauen emanzipiert haben? Ein Blick in die Zeit, in der sich Sport als institutionalisierter Teil der bürgerlichen Gesellschaft etablierte, bietet einige Antworten.
Einer der ersten deutschen Sportpädagogen, Johann Christoph Friedrich GutsMuths, stellte 1804 eine ernüchternde Diagnose: Untätigkeit, ein Hang zur Bequemlichkeit und Abscheu gegen körperliche Anstrengung hätten zur Folge, dass der bürgerliche Mann schwächlich, kränklich und verweichlicht sei. Man lege zu viel Wert auf die intellektuelle Erziehung, der Körper werde völlig vernachlässigt. GutsMuths sah den physischen Verfall der modernen Gesellschaft vor sich. Um diesen aufzuhalten, plädierte er für eine körperliche Erziehung von Knaben, die durch Turnen und Gymnastik verwirklicht werden sollte.
Mit männlicher Leibeserziehung zur starken Nation
Als preussischer Patriot empfahl er die Einführung von Gymnastik und Turnunterricht nicht nur als Gesundheitsmassnahme, sondern auch zur Besserung der Wehrtüchtigkeit. Die gymnastische Erziehung mit Übungen für Kraft, Schnelligkeit und Disziplin zielte nicht zuletzt auf die kollektive Stärkung der männlichen Schüler als potenzielle Soldaten ab.
GutsMuths Gymnastik für die Jugend schlug hohe Wellen und wurde international bekannt. Es beeinflusste den später als «Turnvater Jahn» bekannten Friedrich Ludwig Jahn, der bei GutsMuths studierte, und auch die zeitgenössischen skandinavischen Leibeserzieher Franz Nachtegall und Per Henrik. Pädagogen und Ärzte in vielen europäischen ländern gelangten in dieser Zeit zur Überzeugung, dass eine gesunde und naturgemässe Entwicklung des Menschen nur durch regelmässige sportliche Betätigung möglich sei. Neben der Pädagogik erlebten auch die klinische Medizin, die Psychologie und die Biologie einen extremen Aufschwung. Der Mensch und sein Körper wurden vor allem als Objekte der wissenschaftlichen Forschung betrachtet. Die Erkenntnisse und Theorien von Ärzten spielten für viele Pädagogen eine grosse Rolle. Jede sportliche Aktivität musste genau auf die Funktionsweise des menschlichen Körpers abgestimmt sein. Während in Deutschland und Skandinavien die neue Bewegungserziehung gleichbedeutend wurde mit Turnen und Gymnastik, gewannen im selben geistigen Klima an den Schulen des viktorianischen Englands Sportarten wie Fussball an Popularität. Ebenfalls als Erziehungsmittel eingesetzt, sollten mit ihm Disziplin, Durchsetzungsfähigkeit und Stärke, aber auch Unterordnung und Umgang mit Niederlagen erlernt werden. Überall schrieb sich das bürgerliche Männlichkeitsideal mit seinen Tugenden in die frühe Entwicklung der sportlichen Erziehung mit ein.
Das schwache Geschlecht ist zu schwach
Was bei Knaben als verweichlicht und schwächlich galt, war bei Mädchen die Norm. Reformpädagogen wie GuthMuths standen in der Tradition von Rousseaus Konzept einer naturgemässen, dem Geschlecht entsprechenden Erziehung: «Das eine soll tätig und stark sein, das andere empfangend und schwach; bei dem einen muss notwendig Wille und Kraft herrschen, bei dem anderen zarte Nachgiebigkeit», schrieb Rousseau. Mann und Frau versteht er als gegensätzliche, sich aber gegenseitig vervollkommnende Teile der Natur. Der eine Teil aktiv, der andere passiv, der eine vernünftig, der andere einfühlsam und von Emotionen geleitet. Die bürgerliche Erziehung sah für Mädchen kaum Bewegung vor. Sportliche Betätigung wurde als Gefahr für die Sittlichkeit, Schönheit und Gesundheit der Frau gesehen. Sich still und passiv verhalten und Haltung bewahren, hiessen die Tugenden. Das bürgerliche Weiblichkeitsideal mit seinen Verhaltens- und Kleidernormen ist im Kern unsportlich.
Ein paar Jahrzehnte später wurde vielen klar, dass Bewegung der Gesundheit der Frauen nicht schadete, sondern dass eigentlich das Gegenteil zutraf. Glaubt man den Berichten von Zeitgenossen, stand es um den gesundheitlichen Zustand der bürgerlichen Frau Mitte des 19. Jahrhunderts miserabel. Moritz Kloss, einer der advokaten und Wegbereiter des Turnunterrichts für Mädchen, schrieb 1862, dass die «Vernachlässigung ihres Körpers» aufgrund der strengen sittlichen Zwänge das Leben von bürgerlichen Frauen unerträglich machten und sie «oft genug einem frühen Grabe zuführt(en)». Die Schlussfolgerung: Es brauchte auch ein systematisches Sportprogramm für Mädchen und Frauen. Aber: Es musste genau auf den Körperbau und das Wesen der Frau zugeschnitten sein. «Für die weibliche Organisation musste die Gymnastik eigens nach allgemeinen, aus ihrem Naturell entnommenen Grundsätzen bearbeitet und das richtige Mass einer ebenso nützlichen wie schönen Gymnastik festgesetzt werden», schrieb Moritz Kloss. Frauensport sollte immer die ethischen, ästhetischen und biologischen Grundsätze des weiblichen Geschlechts berücksichtigen. In der Zeitschrift für Schulgesundheitspflege heisst es 1897: «Übungen, welche den Charakter männlicher Tat haben und zu keckem, kühnem und männlichem Wesen führen, stehen mit den ästhetischen Principien der weiblichen Gymnastik im grellsten Widerspruche, denn nichts missfällt uns am Weibe so sehr, wie männliches auftreten.» Für Frauen wurden leichtere Gymnastikübungen, Spiele, Tanz, und in England auch das Bogenschiessen vorgesehen. Alles Übungen, die der weiblichen Haltung und Grazie entsprechen sollten. In diesem Sinne erscheinen auch Sportarten wie Tennis oder Skifahren als weiblich: Es geht um Selbstbeherrschung und Anmut. Die Bewegungen wirken leicht und schön, nicht angestrengt.
Die frühen Befürworter des Frauensports forderten den Einbezug von Frauen, erschraken aber gleichzeitig vor dem möglichen Szenario einer zu muskulösen, «abnormalen» Frau. Das Widersprüchliche in ihren Plädoyers: Obwohl sie erkannten, dass der bedenkenswerte Zustand des weiblichen Körpers sozial bedingt war – schuld an der diagnostizierten Schwäche war die Erziehung – versuchten sie trotzdem, an der angeblich natürlichen Unterteilung von Mann und Frau in ein starkes und schwaches Geschlecht festzuhalten.
Der steinige Weg zur Emanzipation
Die meisten Sportformen waren im 19. Jahrhundert in erster Linie männlich konnotiert. Wo es Frauensport gab, wurde versucht, ihn soweit wie möglich dem bürgerlichen Weiblichkeitsideal der schönen, zarten und passiven Frau anzupassen. Schon früh war aber auch klar: der Sport hatte ein nie vermutetes emanzipatorisches Potenzial. Für die amerikanische Frauenrechtlerin Susan Brownell Anthony war es Ende des 19. Jahrhunderts das Radfahren, das mehr zur Emanzipation der Frau beigetragen hat als irgendetwas anderes. Kleidernormen wurden gelockert, Frauen nahmen an Sportwettkämpfen teil und gründeten eigene Sportzeitschriften. Doch die Sorge in der bürgerlichen Gesellschaft blieb: Viele Frauen und Männer waren immer noch der Ansicht, dass Kampfgeist und Anstrengung nicht zu einer Frau passten. In der Alpenländischen Sportzeitschrift hiess es noch 1900, dass das Radfahren für Frauen ausschliesslich der Gesundheit dienen solle und dass Frauen davon abgeraten werde, sofern «Emancipationsgelüste, Eitelkeit oder Gefallsucht» dahintersteckten. Die Sicht auf Frauen im Sport zu dieser Zeit zeigt eine grundlegende Spannung, die in Sportdiskussionen bis heute mitschwingt: Frauensport wird befürwortet, ist aber in den Sportarten am wenigsten populär, die dem bürgerlichen Weiblichkeitsideal widersprechen.