Lange Zeit wurden Reenactments von der Geschichtswissenschaft belächelt («Freaaak-Alarm!»). In den letzten fünfzehn Jahren begannen sich jedoch einige HistorikerInnen mit der Frage zu beschäftigen, ob und wie sich Reenactments in die historische Forschung einbinden lassen. Lässt sich also Geschichte bald nicht mehr nur sehen, sondern auch direkt erfahren?
Es ist heiss. Die Luft ist erfüllt von Honigweinduft, der aus zahlreichen Horntrinkkelchen aufsteigt. Schwerter klirren in der Ferne, ein Schmied bearbeitet mit rhythmischen Schlägen ein Stück Metall. Ab und zu ertönt eine mittelalterliche Melodie mit dazu passendem Gesang, gefolgt von Gelächter und Applaus. Kleine Kinder in langen, weissen Gewändern spielen neben grossen, weissen Zelten im Gras, während die Erwachsenen über einem Lagerfeuer Essen zubereiten oder an einem Stand ihre Waren zum Verkauf anbieten. Es gibt allerlei zu kaufen und auszuprobieren: Neben Süssigkeiten wie Zapfeneis und Zuckerwolken gibt es auch einen Bogenschiess-Stand, ein Mäuseroulette, eine Folterkammer und vieles mehr.
Wir befinden uns, wie es scheint, mitten im Mittelalter. Genauer gesagt: Auf dem Gelände des Mittelalterspektakels in Hinwil, das im Sommer 2018 stattfand. Im Rahmen eines Kolloquiums reisten meine Studierendengruppe und ich zusammen mit unserem Dozenten Jan-Friedrich Missfelder in der Zeit zurück. Unsere Mission: mit unseren Körpern Geschichte erfahren. So wurde vieles ausprobiert, nebst Bogenschiessen und Waffenvortrag-Lauschen fand ich mich plötzlich auf der Streckbank beim Folterstand namens «Henkerey, Folterey, Spasz dabei» wieder. Zwar konnte die Intensität des Arme-über-Rücken-Streckens mittels Stopp-Sagens gesteuert werden, aber während mein Körper auf seine Dehnfähigkeit getestet wurde, blieben mehrere Leute stehen. Anstatt mich wie erwartet schnell wieder loszubinden, wandte sich der Folterknecht nun der Menge zu und liess sich zu einem längeren Vortrag über seine Tätigkeiten hinreissen.
Und während ich so auf der Streckbank lag und der «Scharfrichter» anfing, die sich ansammelnde Menschenmenge über diverse Foltermethoden aufzuklären, begann sich die Historikerin in mir zu fragen, ob aus diesen Erlebnissen auf dem Markt wirklich eine wissenschaftliche Erkenntnis gezogen werden kann. Hatte ich nun Geschichte mit meinem Körper erlebt? Bin ich durch meine (über-) strapazierten Rücken- und Armmuskeln nun in der Zeit zurückgereist?
Diese und weitere Fragen wurden in den letzten fünfzehn Jahren in der Geschichtswissenschaft vermehrt diskutiert. Reenactment ist hier das Stichwort. Mittelaltermärkte setzen auf den Körper als Medium der Geschichtserfahrung. Genau hier liegt die Verbindung: Es geht um historische Erfahrungen am Körper selbst.
In einem Aufsatz aus dem Jahr 2008 beschreibt Adrian Jones ein altes Dilemma in der Geschichtsschreibung: Allgemein interessierten sich die Leser der Geschichte mehr für die «Atmosphäre» der beschriebenen Ära, und weniger für die rekonstruierten Fakten. Jedoch würden angehende Historiker genau dafür trainiert, und ebendiese Fakten «überdeckten» die Atmosphäre. Jones propagiert alternative Ansätze für die Geschichtswissenschaft, da die akademische Weise, Geschichte zu schreiben, zu dominant sei.
Der Begriff Reenactment taucht seit den 60ern immer wieder auf. Ursprünglich bezeichnete er das Nachspielen historischer Schlachten oder sonstiger konkreter historischer Ereignisse. Er wird meistens als Synonym zu Living History verwendet. Bei Living History steht aber weniger das Nachstellen geschichtlicher Ereignisse im Fokus. Die Betonung liegt vielmehr auf der generellen Nachahmung vergangener Lebensverhältnisse (also dem Alltag) in der zeitgenössischen Umgebung. Bei beiden Begriffen geht es nicht darum, zu zeigen, wie es war, sondern zu erfahren, wie es sich angefühlt haben könnte.
Mithilfe von Living History als neuer Forschungsmethode soll die akademische Geschichtsschreibung mit einer Perspektive der sinnlichen Erfahrung (also durch Reenactments und Living History-Events) neu erzählt und ergänzt werden. Dafür sind Genauigkeit und Richtigkeit der Nachahmungen sehr wichtig. Nicht Interpretation, sondern Rekonstruktion und Recherche sind unerlässlich. Hier kommen die HistorikerInnen wieder ins Spiel.
Living History-Events oder Reenactments wurden lange Zeit von der akademischen Geschichtsforschung belächelt. Um den Vorurteilen entgegenzutreten, versuchte die australische Historikerin Katherine Johnson mittels einer Feldstudie beim Jane Austen Festival Australia am eigenen Leib zu zeigen, wie und welches Wissen bei einem Living History-Event produziert wird. Dabei zwängte sie sich in ein Korsett und beschreibt ihre eigene Wissensaneignung. Die einengende Eigenschaft des Korsetts und die damit einhergehende Veränderung ihrer Bewegungen gaben ihr zumindest teilweise ein Gespür für das Gefühl von Frauenkörpern einer bestimmten sozialen Gruppe in einer bestimmten Zeit. Das Wissen, das durch den Körper angeeignet wird, macht es nachvollziehbar, wie sich kulturelle Praktiken vergangener Gesellschaften in körperlichen Praktiken manifestierten. Durch die verwendeten Materialien, die Aneignung der Bewegungen und des Verhaltens vergangener Personen wird so ein historisches Einfühlungsvermögen ermöglicht.
Für HistorikerInnen könnte sich mit der Living History-Methode viel Potential entfalten – vor allem für die Analyse des Kontextes oder der materiellen Bedingungen der untersuchten Zeit. Für Johnson ist hier die Zusammenarbeit von HistorikerInnen und den Reenactors grundlegend. Essentiell sind dabei die Selbstreflexion der Reenactors und die konstruktive Kritik der HistorikerInnen. Es muss aber auch akzeptiert werden, dass mit der Living History-Methode nicht alle Lücken in der Forschung gefüllt werden können. Schlussendlich können wir niemals genau sagen, wie sich die Vergangenheit tatsächlich angefühlt hat, schliesslich sind Zeitreisen heutzutage bestenfalls in Science-Fiction-Romanen möglich. Es lassen sich aber immer neue Wege finden, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und neue Fragen zu stellen, sei es nun durch die Einschränkung der Atmungsfähigkeit oder (über-) strapazierte Rücken- oder Armmuskeln.
Ob Mittelaltermärkte oder Jane-Austen-Festivals in Zukunft für die historische Forschung relevant werden, steht heute noch in den Sternen. Die Historikerin in mir hat mit diesem neuen körpergeschichtlichen Ansatz sicherlich einen neuen persönlichen Zugang zur Vergangenheit entdeckt. Allgemein könnte sich mit dieser Methode das populäre Interesse an der Geschichte möglicherweise anheizen lassen, Events der Living History-Szene können sich meist nicht über Besucherzahlen beklagen. Der Besuch auf dem Mittelaltermarkt hat sich jedenfalls für mich gelohnt, auch wenn danach der Rücken protestierte.