2019 feiert der Elfenbeintürmer (etü) sein 50-jähriges Bestehen. 1976-1977 war auch Ex-Europarat, alt Nationalrat und Demokratieforscher Andreas «Andi» Gross, damals Student in Zürich, an der Redaktion beteiligt. Ein Gespräch über Konflikte mit der Seminarleitung, politischen Aktivismus – und über die Geschichte und Zukunft der direkten Demokratie.
etü: Herr Gross, wie kamen Sie dazu, beim Zürcher Historiker (dem Vorläufer des heutigen etü) mitzuschreiben?
Andreas Gross: Ich hatte schon früh journalistische Erfahrungen gesammelt und habe mir auf diese Weise auch mein Studium in Zürich finanziert. Ich hatte meine Matura in Basel abgeschlossen und erhielt 1972, unmittelbar danach, eine Stelle als Redaktionsassistent bei einer Zürcher Auto-Zeitschrift. Ich kannte damals keinen Menschen in Zürich und musste in einem Zimmer im Redaktionsgebäude schlafen. Da ich aber rasch zum Spezialisten für Formel-2-Rennsport wurde, konnte ich zeitweise für sieben Zeitungen gleichzeitig schreiben. Ich hatte damals im Sinn, politischer Journalist zu werden. Ich war aber auch unipolitisch aktiv, im Historischen Seminar (HS) und im grossen Studentenrat. Das war der Grund, weshalb ich mich entschloss, bei dem Kollektiv des Zürcher Historikers mitzuwirken.
Was waren denn Ihre unipolitischen Anliegen?
Wir wollten das Studium reformieren, sowohl inhaltlich wie auch strukturell. Es ging damals darum, Mitbestimmungsstrukturen an der Universität aufzubauen. Die Kraft einer solcher studentischen Bewegung entscheidet sich in ihrem Bezug zur Öffentlichkeit. Eine Zeitung war daher das naheliegende Organ, um diese Inhalte zu reflektieren, transparent zu machen und zu propagieren.
«Aber dann eskalierte der Konflikt mit der Seminarleitung»
Meinen Sie damit eine breite Öffentlichkeit oder den engeren Rahmen des studentischen Umfelds?
Beides! Wir haben oft in der Nacht an der Zeitung gearbeitet – das fiel zunächst nicht auf, weil das Historische Seminar damals in einem Gebäude der Swissair untergebracht war, wo sowieso Tag und Nacht gearbeitet wurde. Aber der Konflikt mit der Seminarleitung eskalierte: Zuerst haben Sie die Räume um elf Uhr abends geschlossen und drohten uns, das Seminar auch übers Wochenende und über die Feiertage zu schliessen. Als sie diese Drohung umsetzten, mussten wir in die Churchill-Bibliothek ausweichen. Auf diese Situation wollten wir die Öffentlichkeit aufmerksam machen. Tatsächlich griff dann der Tages Anzeiger unsere Kritik auf und titelte von «Zwangsferien» am HS.
Konnten Sie von Ihrer Mitarbeit beim Zürcher Historiker profitieren? Haben Sie für Ihren späteren Werdegang etwas mitnehmen können?
Ich selbst habe im Zürcher Historiker keine riesigen Werke hinterlassen, ich war eher der dokumentierende Aktivist. Der spätere Professor Jakob Tanner und ich waren vor allem für unsere hangeschrieben farbigen Wandzeitungen berühmt, die wir in den Gängen des HS aufhängten. Alle diese journalistischen Aktivitäten waren auch Teil meines unipolitischen Engagements. Ich gehörte zur ersten Generation nach 1968 und habe viel von den feministischen KritikerInnen der 68er-Bewegung gelernt, etwa von der feministischen Bewegung, die den 68ern die Reproduktion patriarchalischer Strukturen vorgeworfen hat. Bei uns waren alle gleichberechtigt an den verschiedenen Produktionsschritten der Zeitung beteiligt. Davon konnte ich für meine späteren politischen und beruflichen Tätigkeiten profitieren: nicht nur von Gleichberechtigung, Chancengleichheit und Demokratie reden, sondern sie auch praktizieren.
In Politik und Forschung stand und steht für Sie immer wieder ein Thema im Vordergrund: direkte Demokratie.
Dank eines von uns Studierenden in Zürich organisierten Kolloquiums um den Paris Professor Georges Haupt entdeckte ich die direkte Demokratie als Lebensthema. Das hat mich auch motiviert, ab 1978 in Lausanne Politikwissenschaften zu studieren. Dort war vor allem der Professor für Soziologie der Arbeit, Kultur und Utopie, Fred Willener, wichtig für mich: Zum ersten Mal habe ich mich mit «Utopien» befasst – ebenfalls ein Thema, das mich bis heute beschäftigt. Für uns von der Juso, die ich ab 1979 präsidierte, war das damals ein wichtiges Thema: Unsere Utopie war die Abschaffung der Armee. Um für dieses Anliegen zu kämpfen, gründeten wir 1981 die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). In diese Arbeit ist sehr viel wissenschaftliches Know-how über die direkte Demokratie eingeflossen. Ihre Macht liegt darin, dass man mit einigen Unterschriften die Gesellschaft zu einer Diskussion zwingen kann, die sie vielleicht gar nicht führen möchte. Auf diese Weise müssen sich die Leute mit Alternativen und Kompromissen zu den radikalen Vorschlägen auseinandersetzen – das Resultat war in unserem Fall die Einführung des Zivildienstes.
«Schon 1981 brachte der Sonntags-Blick eine Doppelseite über mich und fragte: ‹Herr Gross, sind Sie ein Spinner?›. Seit da galt ich als Bösewicht und Volksverräter»
Man kann also aus der Wissenschaft etwas für die Praxis lernen?
Ja, unbedingt. Man sollte immer versuchen, Arbeiten, Denken und Handeln zu verbinden.
Durch Ihre Aktivitäten bei der GSoA wurden Sie schweizweit bekannt.
Schon 1981 brachte der Sonntags-Blick eine Doppelseite über mich und fragte: «Herr Gross, sind Sie ein Spinner?». Seit da galt ich als Bösewicht und Volksverräter. Sie können sich nicht vorstellen, was es damals bedeutete, Armeekritiker zu sein. Es ist wohl unser grösster Fortschritt, das man heute in jeder Beiz laut sagen kann, man sei gegen die Armee, und dabei höchstens ein Achselzucken erntet. Früher wäre man rausgeworfen worden.
Die GSoA-Initiative war also der Startpunkt ihrer politischen Karriere?
Ja, ich war dann ab 1986 Gemeinderat und ab den 1990ern Nationalrat und Europarat. Als erster Schweizer durfte ich von 2008 bis 2016 die sozialdemokratische Fraktion präsidieren. Im Auftrag des Europarats habe ich unter anderem 44 Berichte verfasst und 99 Wahlen als Wahlbeobachter verfolgt – beides bis heute Rekorde in dessen 70-jähriger Geschichte. Das einzige, was ich heute bereue, ist, dass ich wegen meiner intensiven politischen Aktivitäten nie eine Dissertation geschrieben habe. Trotzdem habe ich viele Lehraufträge zu meinem Forschungsschwerpunkt, der direkten Demokratie, erhalten.
Wenn wir Menschen auf der Strasse nach einem Symbolbild für direkte Demokratie fragen würden, würden wohl viele ein Foto einer Landsgemeinde wählen…
Genau.
…Sie auch?
Nein! Das ist eine Katastrophe! Wer so ein Bild wählt, zeigt, dass er vieles nicht verstanden hat.
«Mit einer guten Volksinitiative kann man Tabus brechen, die Gesellschaft zu Diskussionen zwingen»
Was sollte den VerfechterInnen der Landsgemeinde zu verstehen gegeben werden?
Die Landsgemeinde ist eine vormoderne Form der direkten Demokratie. Ich schreibe gerade an einem Buch über den Dialog im Landboten zur Frage der direkten Demokratie 1867-1869. Zürich hat sich in dieser Phase die erste direktdemokratische Verfassung der Welt erkämpft – gegen den Widerstand des Freisinns. Der Philosoph Friedrich Albert Lange, damals Co-Redaktor des Landboten, kommentierte die neue Verfassung so: Zürich habe den Schritt von der vormodernen in die moderne direkte Demokratie vollzogen: Dank des technologischen Fortschritts könne nun an der Urne abgestimmt werden. Der Vorteil: An der Urne sind die Grundrechte garantiert, an der Landsgemeinde hingegen überhaupt nicht. Die Landsgemeinde ist gut für Diskussionen, aber ungeeignet für Abstimmungen. Sie ist keine reife direkte Demokratie. Ausserdem war die Landsgemeinde in vielen Fällen ein oligarchisches Herrschaftssystem reicher Bauern. Wer kein Eigentum besass, war ausgeschlossen.
Wo liegt für Sie der Vorteil direktdemokratischer Institutionen?
Die direkte Demokratie ist eine Verfeinerung und Erweiterung der repräsentativen Demokratie. Das Parlament ist zwar wichtig, aber die Leute können zusätzlich aktiv an der Gesetzesentwicklung mitarbeiten. Die Zürcher Bauern und Arbeiter sagten sich 1869: «Wir brauchen ein Instrument, damit wir gehört werden». Das Kommunikative – eine Stimme zu haben, von den Mächtigen gehört und gesehen zu werden – spielt bei vielen sozialen Bewegung eine zentrale Rolle, so auch aktuell bei den Gilet-Jaune-Protesten in Frankreich. Mit einer guten Initiative kann man Tabus brechen, die Gesellschaft zu Diskussionen zwingen. Das ist doch ein fantastische Einrichtung!
Einverstanden! Aber eine 2016 erschienen Aufsatzsammlung von Ihnen trägt den Titel «Die unvollendete direkte Demokratie». Da wäre danach zu fragen, was denn eine vollendete direkte Demokratie wäre…
…es gibt natürlich nie eine vollendete Demokratie, darauf wollten Sie mit Ihrer Frage ja hinaus. Demokratie ist von Menschen gemacht und daher nie perfekt. Aber man kann sie verbessern. Dazu würde zum Beispiel die Einführung der Gesetzesinitiative beitragen. Alle Kantone kennen sie und es gibt keinen Grund, das auf Bundesebene nicht auch umzusetzen. Sinnvoll wäre auch das konstruktive Referendum, mit dem nicht nur ein «Ja» oder «Nein», sondern auch Alternativvorschläge zur Abstimmung gestellt werden könnten.
«In der Schweiz sind ein Viertel der Bevölkerung von Abstimmungen ausgeschlossen, weil sie keinen roten Pass haben – obwohl sie davon betroffen sind!»
Kann man aus historischer Perspektive urteilen, dass direkte Demokratie weniger ein Zustand, als ein Prozess ist?
Ja, in jeder Beziehung. Demokratie heisst, dass diejenigen, die von den Entscheidung betroffen sind, auch an den Entscheidungsprozessen teilnehmen dürfen. Daher war in jeder Entwicklungsstufe der Demokratie die Frage: Wer ist eigentlich der demos? In der Schweiz sind 25% der Bevölkerung ausgeschlossen, weil sie keinen roten Pass haben – obwohl sie betroffen sind! Man müsste sich auch überlegen, Kindern das Stimmrecht zu geben und es durch die Eltern vertreten zu lassen. Sie dürften dann selbst entscheiden, ab wann sie es wahrnehmen wollen. Ich habe das mal im Nationalrat vorgebracht. Die FeministInnen waren dagegen, weil das dazu einladen würde, viele Kinder zu haben. Nur die EVP hat mich unterstützt – denen hat natürlich genau das gefallen (lacht).
Wenn Sie sagen, die Direktbetroffenen sollten eine Stimme haben, würde mich interessieren, was Sie über das Verhältnis von Föderalismus und Demokratie denken.
Ich bin ein grosser Anhänger des Föderalismus. Ich bin überzeugter Europäer, gehöre aber nicht zu den Zentralisten, sondern finde, dass Europa eine föderalistische Bundesverfassung braucht. Auch die Souveränität der Kantone im Bundesstaat Schweiz finde ich sinnvoll – auch wenn man’s beim Steuerföderalismus übertreibt.
«Mit nationalen Mitteln kann man die Wirtschaft nicht mehr sozial gestalten»
Von der niedrigsten Ebene mit der Tendenz zu Gemeindefusionen, bis hin zur europäischen Integration habe ich aber eher den Eindruck, dass die Entscheidungsinstanzen sich je länger, je weiter weg von der direktbetroffenen lokalen Bevölkerung bewegen. Sehen Sie das auch so? Was bedeutet das für die Demokratie?
Die Demokratie ist heute in einer gewaltigen Krise. Der zentrale Punkt ist, dass der Nationalstaat nicht mehr die wichtigste Kategorie in der Organisation unserer Existenz ist. Im 19. Jahrhundert gab es nationale Wirtschaftsräume und daher war eine national organisierte Demokratie sinnvoll. Heute haben wir es mit Weltmarkstrukturen zu tun. Mit nationalen Mitteln kann man die Wirtschaft nicht mehr sozial gestalten. Der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf europäischer Ebene müsste ein demokratischer Rahmen gesetzt werden. Wegen des Kalten Kriegs war das früher nicht möglich – die EU wurde zunächst als wirtschaftliches Bündnis aufgegleist, mit einem Vertrag statt einer Verfassung als Basis, und den Regierungen statt den BürgerInnen als Akteuren.
Hat die EU als eine demokratisch höchst unzureichende Organisation überhaupt eine Existenzberechtigung?
Als Schweizer wissen wir: Die EU hat mehr Demokratie nötig. Aber als 1793 in Frankreich das erste Referendum organisiert wurde, brauchte das – auch angesichts von nur 10% Alphabetisierung – mehr Mut, als heute für 500 Millionen Europäer mit guter Schulbildung und weitgehend ähnlichen Lebensentwürfen ein Referendum einzuführen. Trotzdem passiert da zu wenig. Aber umgekehrt hat die Demokratie eben auch das Transnationale nötig. Dessen sind wir uns viel zu wenig bewusst. Die europäische Demokratie ist aber nur die «kleine» Utopie, wir bräuchten in Zeiten der globalen Märkte auch eine globale Demokratie. Der Nationalstaat kann das nicht mehr bieten, was regressive Kräfte in ihm suchen. Ich bin ein überzeugter Europäer, aber ich sehe es ähnlich, wie der Schriftsteller Robert Menasse: Als Europäer muss man für eine Totalrevision der EU sein. Ansonsten wird die EU ihrem Anspruch nicht gerecht.
Eine interessante Haltung – auch wenn ich sie nicht teile…
Aber man könnte sie diskutieren, auch mit der SVP. Christoph Blocher sagte mir vor ein paar Jahren auf der Bundeshaustreppe: «Weisst du, wenn Europa so wäre, wie du willst, wäre ich auch nicht mehr dagegen.» Das ist gar nicht so schlecht für die SVP (lacht).
Trotzdem erlaube ich mir, ein Gegenmodell vorzuschlagen…
…Sie brauchen nicht «erlauben» zu sagen…
Gerade weil die Globalisierung viele VerliererInnen produziert, sollte eben die supranationale oder «postnationale» Integration nicht weitergeführt werden. Nur eine Rückbesinnung auf das Lokale und Kleinräumige verschafft der Stimme der Direktbetroffenen das nötige Gewicht. Hier in Saint-Ursanne hat einE StimmbürgerIn das Gewicht eines Sechshundertstels aller Stimmen, auf europäischer Ebene wäre es ein Fünfhundertmillionstel. Das ist doch marginal, nicht?
Ihre Frage ist völlig berechtigt. Wenn ich für eine europäische Verfassung bin, heisst das nicht nur Referendums- und Initiativrecht, sondern auch eine sinnvolle Instanzenordnung. Die EU soll zum Beispiel nicht über die Kompetenzen der Gemeinden bestimmen. Dass die USA und die Schweiz die besten direktdemokratischen Strukturen haben, hat damit zu tun, dass beide nie Monarchien waren. Beide Staaten haben sich selbst aus ihren Teilen formiert. Auch wenn man bemerken muss, dass die Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848 nur dank der Revolutionsversuche in den anderen europäischen Staaten gelungen ist. Diese Zusammenhänge einzusehen, würde die Überheblichkeit vieler SchweizerInnen gegenüber Europa relativieren.
Das hat aber keinen direkten Zusammenhang mit dem Problem des Zentralismus.
In vielen zentralistischen Staaten ist man sich der Organisationsmöglichkeiten zu wenig bewusst. Einem Schweden scheint schon Stockholm zu weit weg und Brüssel darum erst recht. Aber wir haben erfahren, dass Bern auch nah sein kann – sofern man partizipative Rechte hat.
Aber die partizipativen Rechte sind nur die eine Seite. Es geht auch um die Frage der Souveränität.
Ja, das auch.
Die Schweiz könnte sich in den EU-Gremien in der Regel mit 5% Stimmenanteil einbringen. Da kann doch die Preisgabe wesentlicher Teile der Souveränität keine Option sein, oder?
Da habe ich zwei Antworten. Erstens: Innerhalb der Schweiz hat der einzelne Urner dank der Vertretung im Ständerat 33 mal mehr zu sagen als der einzelne Zürcher. Föderalismus bedeutet für mich auch ein Zweikammersystem. In einer föderalistischen Struktur gewinnen die BürgerInnen an Souveränität, auch wenn der Staat als solcher an Souveränität einbüsst. Zweitens: Was passiert denn mit den Bilateralen Verträgen? Die bilateralen Strukturen haben eine permanente Abgabe von Souveränität an Europa zur Folge, ohne das man bei den Regeln, denen man sich unterstellt, etwas zu sagen hat. BürgerInnen und Parlament können nur «Ja» oder «Nein» sagen, aber nicht mitgestalten. Die Souveränität schwindet sowieso im Zuge der Globalisierung. Die Politik muss das kompensieren. Mit einem europäischen, föderalistischen Bundesstaat gewinnt der oder die BürgerIn letztlich an Macht.
«Den Schutz der Menschenrechte abzubauen, ist ein Verlust an Demokratie»
Die Nationalstaaten sind überflüssig?
Nein, im Unterschied zu Robert Menasse bin ich nicht für die Abschaffung der Staaten, es geht um die Relativierung der Staaten. De facto hat diese Relativierung längst stattgefunden. Auch die Bundesstaatsgründung 1848 resultierte aus der Einsicht, dass die kantonale Souveränität eine erfolgreiche Organisation der Wirtschaft nicht mehr zuliess. Die Demokratie als eine gute Seite des Nationalstaats ist auf die höheren Ebenen zu übertragen.
Eine nationale Weltordnung, die durch Freihandelsabkommen ökonomisch vernetzt ist, wäre keine Alternative?
Nein. Die Kapitalbewegungsfreiheit führt zu einem Erpressungszwang der Ökonomie gegenüber den Staaten: Eine Regierung kann zum Beispiel nicht zulassen, dass Unternehmen wegen zu hoher Sozialkosten wegziehen. Man muss sich daher international auf einige minimale Standards einigen – mit Freihandel allein ist das nicht zu machen. Trump und der Brexit sind Folgen der Deregulierungs- und Freihandelspolitik. Die Auslagerung der Industrie führte zur Verarmung der Bevölkerung. Gerade in den einstigen Industriegegenden des rust belt in den USA hat Trump seine Mehrheiten gewonnen und der Brexit hat in den deindustrialisierten Gegenden Englands die grösste Zustimmungen erhalten. Diese Menschen sind nicht dumm, sie treffen rationale Entscheidungen, aber sie werden die Lösung der Probleme nicht dort finden, wo sie sie suchen: beim Nationalstaat. Es gibt aber, gerade in England, auch Linke, die gegen die EU sind.
«Direkte Demokratie hat nichts mit links und rechts zu tun»
In den Lehrbüchern wird der Linken ja die prodemokratische Haltung zugeschrieben. Tatsächlich votieren aber vor allem Rechtsparteien wie die SVP oder die FPÖ für den Ausbau demokratischer Volksrechte. Auch die letzten Schweizer Initiativen zur Stärkung der Demokratie – die Staatsvertragsinitiative und die Selbstbestimmungsinitiative – kamen von rechts.
Die Selbstbestimmungsinitiative hatte nichts zu tun mit dem Ausbau der direkten Demokratie. Den Schutz der Menschenrechte abzubauen, wie die Initiative dies wollte, ist ein Verlust an Demokratie. Ich gehe mit Ihnen einig, dass die SVP – aber auch die SP – im Gegensatz zu der FDP und der CVP die direkte Demokratie verteidigt haben, etwa gegen die Bemühungen, die Unterschriftenhürden für Initiativen und Referenden heraufzusetzen. Aber immer wenn es um die Verfeinerung ging – etwa um die Senkung der Unterschriftenhürden –, war die SVP dagegen. Sie haben aber recht, dass in Europa viele rechtsnationale Parteien für die direkte Demokratie sind – Marine Le Pen übrigens auch, die haben Sie anständigerweise nicht erwähnt. Aber bei denen frage ich mich, ob sie wirkliche Demokratie meinen oder nur ein suggestives Plebiszit zur Legitimierung ihres politischen Programms. Aber es ist komplizierter: Die SPD etwa will in Bayern wirklich direkte Demokratie, auf Bundesebene dagegen nur formal…
Die Patei Die Linke setzt sich dafür ein…
Ja, die sind dafür. Aber worauf ich hinaus will: Direkte Demokratie hat nichts mit links und rechts zu tun. Sie finden heute in allen Parteien Leute, die erkennen, dass man die Demokratie ausbauen muss. Es gibt aber auch Linke und Rechte, die ganz dagegen sind. Es hat mehr damit zu tun: Gehe ich bei jedem Menschen, dem ich begegne, grundsätzlich davon aus, dass er oder sie dümmer ist als ich? Es hat also mit dem Menschenbild zu tun.
«Sowohl der Eliten- wie auch der Populismusbegriff haben analytisch keinerlei Wert»
Sie sprechen von der Krise der Demokratie. Nun gibt es je nach politischem Spektrum doch unterschiedliche Erklärungsmuster: Die politische Rechte sieht die Demokratie durch die Konsolidierung der Herrschaft «bürgerferner Eliten» bedroht.
Das war in der Demokratiebewegung im Zürich des 19. Jahrhunderts nicht anders. Da hat man Alfred Escher als Teil einer weit entfernten Elite gesehen. Aber der Elitenbegriff taugt hier auch nichts. Christoph Blocher ist zum Beispiel das beste Beispiel eines Elitemenschen, auch wenn er sich nicht dazu gesellen will. Er ist milliardenschwerer Unternehmer und langjähriger Parlamentarier. Dennoch gelang es ihm, dass sich die Armen mit ihm identifizieren konnten.
Die politische Linke dagegen wähnt die Bedrohung der Demokratie gerade in «demokratiefeindlichen rechtspopulistischen Bewegungen».
Der Begriff des Populismus ist genauso untauglich. Alle populären Bewegungen hatten auch populistische Elemente. Sowohl der Eliten- wie auch der Populismusbegriff haben analytisch keinerlei Wert. Wir haben schon vor 25 Jahren darauf hingewiesen, dass die SVP keine populistische, sondern eine nationalkonservative Bewegung ist. PopulistInnen behaupten zu wissen, was das Volk will. So jemand kann auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn er oder sie damit immer recht hat. Ausserdem kann man das Volk nicht als homogene Masse begreifen – es besteht aus vielen kleinen «Völklein». PopulistInnen müssen irgendwann zugeben, dass sie nur einzelne dieser «Völklein» vertreten können. Beide Begriffe führen an der Kernfrage vorbei: Soll der oder die einzelne BürgerIn etwas zu sagen haben oder nicht?
«Volksinitiativen, die den Grundrechten wiedersprechen, dürften gar nicht erst zugelassen werden»
Ich möchte Ihnen noch eine andere Kernfrage stellen: Darf in einer Demokratie alles hinterfragt werden oder gibt es absolut gültige und unanfechtbare Grundsätze?
Im Prinzip darf alles hinterfragt werden. Es gibt keine Grenzen. Wichtig ist aber der Schutz der Grundrechte. Diese sind Voraussetzungen dafür, dass Demokratie funktionieren kann und dürfen nicht angefochten werden. Meinungsäusserungsfreiheit oder Minderheitenrechte dürfen von der Mehrheit nicht in Frage gestellt werden.
Also darf man doch nicht alles hinterfragen?
Doch, hinterfragen dürfen Sie es schon, aber Sie dürfen es nicht zur Abstimmung bringen. Es diskreditiert die Schweizer Demokratie international, dass in den letzten Jahren zunehmend Mehrheiten über Minderheitsrechte abstimmen durften. Initiativen, die den Grundrechten wiedersprechen, dürften gar nicht erst zugelassen werden, sondern müssten vom Bundesgericht für ungültig erklärt werden.
Das wäre letztlich eine Verfassungsgerichtsbarkeit?
Ja, aber nicht als abstrakte Normenkontrolle im Vornherein, sondern im konkreten Anwendungsfall. Das Gericht sollte sagen dürfen: «Der konkrete Teil des Gesetzesentwurfs widerspricht der Bundesverfassung und muss geändert werden.» Die Verfassung ist der demokratischste Gesetzestext, jeder Satz wurde von Volk und Ständen abgesegnet. Und ausgerechnet dieses Papier ist nicht geschützt. Das liegt daran, dass die Rolle des Bundesgerichts 1874 festgelegt wurde, als der Bund noch viel weniger weitreichende Kompetenzen hatte als heute.
Im Zusammenhang mit der Minarettinitiative haben Sie sich auch in diese Richtung geäussert…
Ja, da habe ich auch für Ungültigkeit plädiert.
Da möchte ich provokativ fragen: Wie kann man eine Demokratie noch ernst nehmen, wenn Richter und Intellektuelle die Vorentscheidung treffen, ob etwas überhaupt dem Volk vorgelegt wird?
Naja, Sie können sagen, wir treten aus der EMRK aus. Dann müssen Sie eine entsprechende Kündigungsinitiative lancieren. Aber solange wir in der Menschenrechtskonvention dabei sind, ist die Religionsfreiheit geschützt. Auch das Zeigen und Manifestieren der Religion gehört zur grundrechtlich geschützten Freiheit. Der Bundesrat hat dann aber behauptet, der Ausdruck der Religion gehöre nicht zu den so genannten notstandfesten Rechten, aber…
Das zeigt doch, dass es offenbar unterschiedliche Auffassungen davon gibt, ob diese konkrete Vorlage die Religionsfreiheit verletze. Hier gab es Dissens, nicht hinsichtlich der Religionsfreiheit im Grundsatz…
Das stimmt.
Wieso kann man dann dem Volk nicht zutrauen, selber darüber zu befinden, ob diese konkrete Vorlage gegen ein Grundrecht verstösst, das ja ebenfalls vom Volk in der Verfassung verankert wurde?
Es verletzt die Würde der Betroffenen, einer kleinen Minderheit, wenn sie sich gegen solch eine Anmassung wehren müssen. Ich bin überzeugt, dass der EGMR in Strassburg in einem konkreten Fall das Verbot nicht aufrechterhalten würde. Der Artikel ist daher toter Buchstabe. Es geht aber nicht um’s Zutrauen. Ein Problem war, dass die Leute vor allem diejenigen Muslime kennen, die sie im Fernsehen sehen – die Radikalen. Aber nicht die 400’000 liberalen Muslime, die in der Schweiz leben. Es gibt über 400 Moscheen, aber nur zwei Minarette. Da ist es doch absurd…
Ich persönlich finde diese Vorlage auch eher absurd. Aber ich verstehe nicht, warum eine Abstimmung darüber verhindert werden sollte. Die Unanfechtbarkeit von Rechtsgrundsätzen ist doch letztlich undemokratisch, ja sogar totalitär.
Unanfechtbar ist nicht das richtige Wort. Sie können ja immer vor das Bundesgericht gehen. Nicht abstimmen zu dürfen, heisst nicht, dass etwas unanfechtbar ist. Nochmals: Zuerst müssten sie aus der EMRK austreten. Aber ich finde, es ist eine zivilisatorische Errungenschaft, dass die Grundrechte auf europäischer Ebene geschützt sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg war deutlich, dass der Staat die Grundrechte nicht immer garantieren kann. Heute können Sie dank dem EGMR auch gegen Ihren eigenen Staat klagen. Das ist eine unglaubliche Errungenschaft!
«Auch der grösste Sauhund hat Grundrechte»
Aber gerade wenn man an dieser Errungenschaft und an der direkten Demokratie festhalten will, sollte man alle Vorlagen zur Abstimmung bringen. Denn letztlich drehen sich diese Diskussionen nicht um die Rechte als solche, sondern um Rechtsauffassungen und -auslegungen.
Schon Alexis de Tocqueville warnte davor, dass die Demokratie zur Tyrannei der Mehrheit wird. Dieser Gefahr dürfen wir nicht erliegen. Minderheitenrechte dürfen deshalb nicht zum Gegenstand von Mehrheitsentscheidungen werden. Demokratie ist ein Gesamtkunstwerk aus vielen Elementen und besteht nicht nur aus dem Recht, abzustimmen. Ich habe grosse Sympathien für die Idee, dass man über nichts nicht abstimmen darf, aber die Tatsache, dass wir in den letzten Jahren oft über Minderheitenrechte abgestimmt haben, diskreditiert die Demokratie. Ein anderes Beispiel wäre die Pädophileninitiative, die Menschen für immer wegsperren will. Auch der grösste Sauhund hat Grundrechte. Dazu gehört: Sie dürfen nie jemandem die Hoffnung nehmen. Nichts rechtfertigt das. Diese Initiative war vielleicht nur unsorgfältig formuliert. Jedenfalls musste die Vorlage nachgebessert werden. Man ergänzte sie um eine Klausel, die periodische Prüfungen der Dauerhaft vorsah. Aber die Minarettinitiative hätte man mit Nachbesserungen auch nicht retten können.
«Am Abend raunte die Wahlbüro-Leiterin ihren Kollegen zu: ‹Herr Gross war leider den ganzen Tag hier, wir konnten nicht schummeln›»
Themenwechsel: Sie haben für den Europarat 99 Wahlen beobachtet, wie Sie vorhin sagten. Was haben Sie da für Erfahrungen gemacht?
Ich habe immer sehr gerne Wahlen beobachtet. Man lernt wohl auf keine andere Weise ein Land innert fünf Tagen so gut kennen. Ein Highlight meiner Tätigkeit habe ich in Aserbaidschan erlebt, einer üblen Oligarchie. Ich war eine Stunde vor Öffnung des Wahllokals vor Ort und fand im Safe unter dem Zucker für den Tee 60 ausgefüllte Wahlzettel, die sie dann im Laufe des Tages unauffällig in die Urne warfen. Ein paar Jahre später war ich wieder dort. Ausnahmsweise blieb ich während des ganzen Wahltages in einem einzigen Wahllokal. Am Abend raunte die Wahlbüro-Leiterin ihren Kollegen zu: «Herr Gross war leider den ganzen Tag hier, wir konnten nicht schummeln.» (lacht)
Man merkt im Gespräch mit Ihnen, das Sie auch Historiker sind. Gibt es ein Buch, von dem Sie sagen würden: Als Geschichtsinteressierte müssen Sie das lesen?
Das ist eine gute Frage… (überlegt) Einerseits würde ich Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft von Hannah Arendt empfehlen. Man kann das Buch sowohl radikaldemokratisch als auch elitär lesen. Und Jakob Tanners Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Damit wären wir wieder beim Anfang. Jakob war in meiner Studienzeit einer meiner besten Kollegen und Freunde.
Und das ist immer noch so?
Ja, wir treffen uns immer wieder. Kürzlich haben wir im «Neumarkt» zu Mittag gegessen. Das einzige, was ich ihm an seinem Buch ankreide ist, dass er seine eigene Rolle als Aktivist in der Geschichte nicht einbringen konnte. Das hat er verstanden. Denn das entspricht unserem Demokratieverständnis, dass Geschichte von allen gemacht werden soll, nicht nur von wenigen Mächtigen. Daher soll die Geschichtsschreibung zeigen, dass es manchmal auch auf Einzelne ankommt.
Das ist doch ein schönes Schlusswort. Herr Gross, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Zur Person
Andreas Gross, 1952 in Japan geboren, studierte Geschichte und Politikwissenschaften in Zürich und Lausanne. 1989 gründete er ein Institut für direkte Demokratie und widmete sich der Forschung sowie internationalen Lehraufträgen zu dieser Thematik. Als Mitbegründer der GSoA wurde er 1982 schweizweit bekannt. Von 1991 bis 2015 war er Nationalrat der SP und von 1995 bis 2016 Europarat. Das Gespräch mit Gross fand in seinem Atelier in Saint-Ursanne, Kanton Jura, statt.
Dieses Interview wurde der Lesbarkeit halber gekürzt und redigiert. Wie in solchen Fällen üblich, wurde es dem Interviewpartner nochmals vorgelegt. Andreas Gross hatte inhaltlich nichts auszusetzten, legt aber Wert auf die Aussage, dass er seine eigenen Antworten oft «verkürzt und ungenügend» findet und sich «an mancherlei unzulänglichen Formulierungen» stört.