Nächste Woche wählen die USA ihren nächsten Präsidenten. Aber das Vertrauen in die Demokratie ist erschüttert, Berichte über angebliche Betrugsfälle häufen sich. Das ist nichts neues: Wahlbetrug hat in den USA eine lange Vergangenheit und nimmt in mancher Hinsicht skurrile Ausmasse an. Ein kurzer Exkurs in die Geschichte des voting fraud.
Spätestens seit der ersten Debatte zwischen Donald Trump und Joe Biden am 29. September 2020 ist klar, welches Thema den derzeitigen Präsidenten der Vereinigten Staaten stark beschäftigt: Wahlbetrug. Seither behauptete Trump mehrmals, dass die Wahlen zu Gunsten seines Konkurrenten verfälscht würden. Die meisten seiner Aussagen konnten im Nachhinein als falsch oder unbewiesen eingeordnet werden. So auch diese:
«There’s fraud. They found [the voting ballots] in creeks. … They are being dumped in rivers. This is a horrible thing for our country.»
Donald Trump
Trump bezieht sich hier auf einen Vorfall in Wisconsin, wo drei öffentliche Briefkästen vandaliert und in ein Flussbett geworfen wurden. Seine Aussage impliziert, dass Wahlbetrug das Motiv hinter dem Vandalismus war. Dies konnte jedoch nicht bewiesen werden, da sich ein Grossteil der beschädigten Post auf private Adressat*innen zurückführen liess. Ganz zu schweigen von den fehlenden Beweisen, die auf ein politisch motiviertes Handeln schliessen lassen und die Unwissenheit, wie viele der tatsächlich beschädigten Wahlumschläge auch wirklich eine Stimme für Trump bedeutet hätten.
Nach der Debatte hat mir eine weitere Aussage Trumps zu denken gegeben.
«I am urging my supporters to go into the polls and watch very carefully because that is what has to happen, I am urging them to do it.»
Donald Trump
Es ist nicht das erste Mal, dass Trump seine Unterstützer*innen dazu aufruft, die Wahllokale zu überfluten, um die Abstimmung genauestens zu kontrollieren. Und für viele klingt dies nach Einschüchterungstaktiken, wie sie in den 1980ern praktiziert wurden. Damals positionierten sich Anhänger*innen der Republikanischen Partei vor Wahllokalen – mit Waffen. Laut eigener Aussage diente dies zur Sicherstellung einer ehrlichen und fairen Wahl.
Aber die National Ballot Security Task Force bedrohte schwarze und hispanische Wähler*innen – manche wurden sogar vertrieben. Lokale Bürgerrechtsaktivist*innen reichten Klage gegen das Vorgehen der Republikaner*innen ein. Die Beschwerde wurde von einem Gericht anerkannt und das Verbot der Wählereinschüchterung durch die Präsenz von bewaffneten poll watchers wurde auf nationaler Ebene eingeführt.
Unglücklicherweise verfiel dieses Dekret im Jahre 2018. Die Demokraten hatten zuvor erfolglos versucht, es zu erneuern. Sie gingen mit der Begründung vor Gericht, dass die Gefahr bestehe, die Einschüchterungstaktiken der 1980er Jahre würden wieder aufleben. Ihr Antrag wurde abgelehnt: Heute ist es wieder erlaubt, bewaffnet vor Wahllokalen zu patrouillieren.
Systematischer Wahlbetrug geht jedoch noch weiter zurück als die 1980er-Jahre. Als Fallbeispiel nehme man Baltimore zwischen 1849 und 1859, knapp 70 Jahre vor der Einführung des Frauenwahlrechts. Damals wanderte gerade eine grosse Zahl europäischer Immigrant*innen in die Stadt ein. In vielen US-Staaten durften damals auch Immigranten wählen, die noch nicht eingebürgert waren. So auch in Maryland.
Weil sich beispielsweise deutsche Einwanderer*innen nicht an sonntägliche Alkoholverbote hielten, verbreiteten sich schnell negative Stereotypen. Die Bürger*innen Baltimores fürchteten um die Qualität ihrer lokalen Politiker. Die Unzufriedenheit mit der Einwanderungspolitik der Stadt führte schliesslich dazu, dass sich eine Gruppierung aus der republikanischen Partei herauskristallisierte, die Know-Nothing-Partei. Aus dieser Partei heraus bildeten sich Strassengangs, die auf unterschiedlichste Art und Weise versuchten, die Wahlen zu beeinflussen. Oft gingen sie mit massiver Gewalt besonders gegen deutsche und irisch-katholische Migrant*innen vor, von denen sie glaubten, sie würden der katholischen Kirche mehr Autorität zusprechen als der amerikanischen Regierung. Dazu entwickelten sie Methoden, die potenzielle Wähler von den Wahllokalen fernhalten sollten. Eine davon war der blood tub: Parteianhänger transportierten Blut von lokalen Metzgereien in grossen Fässern zu den Wahllokalen, wo sie auf ihre Opfer warteten, und ihnen Schwämme mit Tierblut über den Köpfen und Gesichtern ausdrückten. Verständlicherweise führte dies dazu, dass sich nur wenige Migranten trauten, abstimmen zu gehen.
Oftmals gingen die Gewaltausschreitungen noch weiter. Eine weitere Methode der Einschüchterung und Bedrohung der potenziellen Wähler war das cooping.
Das cooping ist im Protokoll eines Gerichtsprozesses von 1860 dokumentiert. Zeuge ist der irische Einwanderer J. Justus Ritzmin, der zum Zeitpunkt der Wahlen von 1859 seit 18 Monaten in den Vereinigten Staaten lebt. Er sagt aus, dass er auf der Suche nach Arbeit gewesen sei und ein Warenhausarbeiter ihm eine Stelle angeboten habe. Zuerst sei er eingeladen worden, mit dem Arbeitgeber zu trinken – und anschliessend sei er in ein Warenhaus geführt und durch eine Tür geschubst worden, wo mehrere Männer, bewaffnet mit Knüppeln und Gewehren, auf ihn warteten. Sie entführten Ritzmin, nahmen ihm seine Kleider weg und sperrten ihn zusammen mit anderen Männern in einen Stall, einen coop. Laut eigener Aussage blieb er dort drei Tage, bis zum Abstimmungsmittwoch. Die Entführten erhielten wenig Essen und wurden durch Prügel zum übermässigen Alkoholkonsum gezwungen. Peter Fitzpatrick, ein weiteres Opfer der Strassengangs sagte dazu aus:
«[the gang] dealt me two blows with a billy on the head and two on the knees, to make me drink liquor.»
Peter Fitzpatrick
Am Tag der Wahlen gaben die Entführer ihren Opfern vorbereitete Wahlunterlagen und fuhren sie in kleinen Gruppen zu den Wahllokalen. Damit die Männer weiterhin fügsam blieben, wurden ihnen zwischen Abstimmungen immer wieder Alkohol verabreicht und sie wurden gezwungen, regelmässig die Kleider zu tauschen. J. Justus Ritzmin sagt aus, dass er am Wahltag 1859 so insgesamt 16 Mal gewählt habe.
Heute vermutet man, dass der amerikanische Schriftsteller Edgar Allan Poe ebenfalls Opfer dieser Taktik wurde und dass der übermässige Alkoholkonsum und die grausame Behandlung der Opfer zu seinem Tod führten. Allerdings kann diese Theorie nicht hundertprozentig nachgewiesen werden.
Wir dürfen ausserdem nicht vergessen, dass die Wahlen einem grossen Teil der US-Bevölkerung lange gar nicht offenstanden. Das 1787 in der Amerikanischen Verfassung festgeschriebene Wahlrecht galt de facto für weisse, protestantische Männer. Über die Jahre wurde es ausgedehnt, konfessionelle und an Besitz gekoppelte Auflagen verschwanden. Nach der Abschaffung der Sklaverei erhielten 1870 auch die ehemaligen männlichen Sklaven das Wahlrecht. Aber in den Südstaaten wurden sie oft mit Gewalt davon abgehalten. Mancherorts erliessen lokale Politiker diskriminierende Gesetze. An vielen Orten wurden ausserdem Gebühren fürs Wählen erhoben oder es gab Lesetests, was vor allem schwarze Bürger am Wählen hinderte. Erst 1964 setzte die Bürgerrechtsbewegung diesen diskriminatorischen Praktiken ein Ende. Frauen erkämpften sich das uneingeschränkte Wahlrecht 1920.
Obwohl sich die Vereinigten Staaten mit ihrer Demokratie rühmen, so wird doch relativ schnell klar, dass Korruption und Manipulation von Wahlergebnissen eine grosse Rolle in der Geschichte der amerikanischen Wahlen spielen. Auch die zeitgenössische USA zielt mit diversen Methoden auf die Manipulation und Unterschlagung von Stimmen von Minderheiten ab. Aktuell ist die Rede von strengeren Identifikationsprozessen, wie die korrekte Orthographie in Vor- und Nachnamen. Dies betrifft in den meisten Fällen schwarze und hispanische Wähler*innen. Auch wurde die Anzahl von Wahllokalen in Nachbarschaften mit hohem Minderheitenanteil verringert. Gruppierungen, die mit der republikanischen Partei alliieren, verbreiten Fehlinformationen. Dazu kommen die dystopischen Zustände der Pandemie, die Amerika hart getroffen hat.
Das Volk ist der Grundpfeiler der Demokratie. Am 3. November entscheidet sich Amerika für ein Staatsoberhaupt, welches das Land für die nächsten vier Jahre repräsentiert. Trotz aller Hürden bedarf es an Menschen, die sich zu den Wahllokalen begeben, um sich für ihre Zukunft einzusetzen. Aber Trump beschädigt das Vertrauen in die Wahlen. Dazu kommen Berichte von russischen und iranischen Hackerangriffen, die den Wahlkampf manipulieren würden.
Ich blicke dem Ergebnis des 3. Novembers mit Anspannung entgegen. Und ich hoffe, dass das Gefühl von Gemeinschaft und Verantwortung schlussendlich stärker ist als das Misstrauen.