Noch können wir (können wir noch?) ins Dunkel der Kinos eintauchen – und den Dokumentarfilm «W. – Was von der Lüge bleibt» anschauen. Darin treffen wir auf Binjamin Wilkomirski und dessen vermeintliche Holocaustbiografie von 1995. Die filmischen Spuren führen uns zu den Fallstricken der menschlichen Psyche in ihrem komplizierten Verhältnis zur Vergangenheit.
Bruno Grosjean, Bruno Dössekker und Binjamin Wilkomirski haben eines gemein: Sie sind die Namen ein und desselben Mannes und damit Teil einer schier unfassbaren Biografie. Mitte der 1990er betrat dieser Mann die öffentliche Bühne. Getragen wurde er dabei von seinem autobiografischen Buch «Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1942» und der überschwänglichen Resonanz, die es auslöste. Es schilderte die traumatischen Erlebnisse des kleinen Binjamin, der 1939 in Riga geboren worden war und die Konzentrationslager von Majdanek und Auschwitz überlebte. Die von Suhrkamp publizierte Geschichte dieses jüdischen Jungen löste weltweit eine Welle der Anteilnahme aus. Das Buch wurde mit lobenden Rezensionen überhäuft und gleich in zwölf Sprachen übersetzt. Auf einen Schlag war der gelernte Historiker und Berufsmusiker ein mit internationalen Preisen versehener Autor und gefragter Zeitzeuge. Doch wenige Jahre darauf zerbrach diese Glaubwürdigkeit.
Die Recherchen des Journalisten Daniel Ganzfried zeigten 1998, dass es Binjamin Wilkomirski so, wie im Buch geschildert, nie gegeben hat. Übrig blieben stattdessen ein entblösster Bruno Dössekker – so sein amtlicher Name –, seine eingebildete Vergangenheit und die Frage, wieso der Schwindel nicht eher aufgeflogen war. Die erst zögerliche, aber dann doch vom Verlag in Auftrag gegebene Aufarbeitung durch den Historiker Stefan Mächler bestätigten das, was kaum noch zu bestreiten war: Bruno wurde 1941 in Biel als uneheliches, nichtjüdisches Kind einer Yvette Berthe Grosjean geboren, lebte erst bei einer Pflegefamilie und dann in einem Waisenhaus in Adelboden. Als Vierjähriger kam er als Adoptivkind in ein Herrenhaus am Zürichberg. Hier wuchs er gut situiert als Sohn des Ehepaar Dössekker auf.
Aus einhelligem Lob wurde vielstimmige Kritik: Enttäuschung, Zorn oder auch die Furcht vor einer Instrumentalisierung durch Holocaustleugner lagen in der Luft. Verhöhnung wirklicher NS-Opfer, «Gedächtnis-Dieb» und aufmerksamkeitsökonomischer Nutzniesser lauteten die Vorwürfe. Das Buch verschwand aus den Auslagen der Buchhandlungen und sein Autor, der seine Erinnerungen damals stets verteidigte, aus der Öffentlichkeit.
Nun, nach über 20 Jahren, lässt Rolando Collas Film den zurückgezogenen Protagonisten aus seinem Schweigen hervortreten und fächert die diversen Facetten der Geschichte vor uns aus. Es handelt sich dabei um keine chronologische Erzählung von den Ereignissen, vielmehr um ein behutsames Kreisen um die Hauptperson. Die fiktionale Welt Wilkomirskis erhält hier ebenso Raum wie das faktisch Belegte. Die unterschiedlichen Wirklichkeiten kommen nebeneinander zu liegen und man beginnt zu begreifen, wie sie ineinander gleiten konnten. Colla ist nicht um die eine eindeutige Wahrheit bemüht und schon gar nicht um die Frage nach der Schuld. Vielmehr geht es ihm um die leisen Zwischentöne, die diesen Mann und seine entgrenzte Selbstfindung umschwirren; es geht ihm um das Widersprüchliche, um die Wahrheit in der Lüge.
«Bruno Dössekker-Wilkomirski» steht heute auf dem Briefkasten. Das halbe Leben war dieser Mann auf der Suche nach seiner Identität, die er schliesslich gefunden zu haben glaubte. Auf der Leinwand zeigt sich uns ein alter, gebrechlicher und einsamer Mensch, der sich an seinen Gehstöcken festhält, wie am «W» in seinem Namen. Er sieht sich ungebrochen als Jude, praktiziert den Glauben, auch wenn er nun einräumt, keine jüdischen Vorfahren zu haben. Stattdessen sagt er Dinge wie: «Die Wahrheit liegt da, wo das Herz ist. Und dort muss man bleiben».
Erstmals gibt er auch öffentlich zu, dass «Bruchstücke» nicht autobiografisch im engeren Sinn sei und rückblickend als Roman hätte veröffentlicht werden sollen. Es klingt nach ausweichendem Aufbäumen gegen den Vorwurf des Täterseins. Er, der ein Leben als Opfer führte und nie intentional und schon gar nie böswillig gelogen habe. Seine Worte wiegen schwer und geben den Blick frei auf seine inneren Abgründe, wenn er sagt: «Ein misshandeltes Kind ist ein misshandeltes Kind, ob in einem Lager, in einem Bauernhof oder in einem zweifelhaften Waisenhaus in der Schweiz. Das Leiden und die Traumatisierung sind dieselben.»
«W.» verweigert sich dem moralischen Urteil. Collas Film verfolgt ein anderes Ziel und stellt, wie der NZZ-Rezensent Tobias Sedelmaier bemerkt, die gewohnte Komplexitätsreduktion von Dokumentarfilmen auf den Kopf: Je mehr wir erfahren und je tiefer wir eindringen, desto weniger scheinen wir wirklich zu wissen. Dies ist womöglich das grösste Verdienst des Films, dass er nicht der Versuchung biografischer Kohärenz erliegt. Stattdessen wird die Identität als vielschichtige Konstruktion, die sich wesentlich aus unserem Gedächtnis schöpft, ernst genommen.
Je mehr wir erfahren und je tiefer wir eindringen, desto weniger scheinen wir wirklich zu wissen.
Ein zentrales Thema des Films ist die Rekonstruktion von Dössekkers Gedankenwelt und wie sich diese zu «Bruchstücke» entwickeln konnte. Es scheint, dass er kein schamloser Lügner war, sondern wirklich an das geglaubt hat, was er schrieb. Bei den Adoptiveltern habe sich Bruno «wie in einem goldenen Käfig» gefühlt, aber nie Zuhause. Seine Lebensjahre zuvor seien dort nie zur Sprache gekommen; doch waren sie präsent in ihm. Quälende Erinnerungen, Spuren einer früheren Zeit, suchten ihn heim. Erst Jahrzehnte später ging er mit Hilfe des befreundeten Psychotherapeuten Elitsur Bernstein diesen Erinnerungsfetzen nach. Gemeinsame Therapiesitzungen, Recherchen in Archiven, Erkundungsreisen nach Lettland und Polen sowie das ausführliche Studium der einschlägigen Holocaustliteratur verhärteten seine Vermutung und veränderten offenbar seine Erinnerung.
Diffuse Gedächtnisfragmente (im Film durch schemenhafte Schwarz-Weiss-Animationen des Comiczeichners Thomas Ott beklemmend schön inszeniert) erhielten Kontur und füllten sich mit Leben. Ein kohärenter Lebenslauf zeichnete sich ab. Seit seiner Kindheit begleiteten ihn jüdische Bezugspersonen, bei denen er sich mitunter am wohlsten gefühlt habe. Auch im Rahmen seines Studiums und weit darüber hinaus hatte er vornehmlich an der Geschichte der Shoa geforscht. Der Holocaust wurde für ihn zur passenden Kulisse, wo sein Trauma Sinn erhielt. Dössekker legte sich einen neuen Namen zu – Wilkomirski glaubte, Orte und Menschen aus dem erinnerten Damals wiederzuerkennen. Kritik und Zweifel an der Geschichte blockten an dieser Erinnerungskonstruktion ab. Was nicht passte, wurde gewissermassen passend gemacht, wie bewusst oder unbewusst, wissen wir letztlich nicht.
Während den knapp zwei Stunden Laufzeit kommt man kaum je auf die Idee, sich zu langweilen. Ein aussergewöhnliches Leben, ein unerhörter Skandal und reihenweise offene Fragen bannen den Blick auf die Leinwand und fokussieren diesen ständig neu. Nie glaubt man, alles durchblickt zu haben, und wenn man es doch glaubt, rüttelt die nächste Einstellung gleich wieder daran. Zumindest ging es mir so. Von all den Irrungen und Wirrungen dieser wirklichen Lügen und unwirklichen Wahrheiten schaukelte ich nach dem Filmende etwas schwindelig aus dem Kino hinaus. Doch trotz allem wogte ich geborgen im Gefühl, die Welt nun ein wenig klarer zu sehen.
Und damit meine ich primär nicht das neugewonnene Wissen um den Fall Wilkomirski, sondern die so menschliche Dimension, die dessen Selbstfindung und den Film umhüllt: Die Frage nach dem Ich und wie dieses zu dem wird, was es ist. Was mit Worten und Fakten nur schwer zu beschreiben ist, führt «W.» (entlang dieses gewiss extremen Beispiels) nachvollziehbar vor Augen. Sofern meine bruchstückhafte Einsicht in die Literatur zu Biografie und zum spätmodernen Subjekt nicht täuscht, kann sich die Forschung durch den Film bestätigt sehen: Die Identitätsfrage offenbart sich als raum- und zeitgebundene Suche nach Sinn, Orientierung und Authentizität. Dafür zimmert unser Verstand aus dem, was er hat, eine für uns möglichst schlüssige Einheit und bastelt aus den insgesamt eher zufälligen Ereignissen unseres Lebenslaufes eine sinnfällige Narration. Diese verortet uns unmittelbar in unserer Umwelt und setzt uns ins Verhältnis mit der Gesellschaft. Ausdruck davon ist ein rekursiver Blick auf uns selbst. Tatsächliche Erfahrungen gerinnen dabei zu eher fiktiven Erinnerungen, die sich vor allem an jenem Bild orientieren, das unser Verstand von der Welt zeichnet. Unsere Vergangenheit erscheint in jenem Licht, das unser Jetzt ausstrahlt.
Unsere Vergangenheit erscheint in jenem Licht, das unser Jetzt ausstrahlt.
Augenscheinlich stört uns das nur selten und wir gehen unbehelligt im Schein der Authentizität unseres Weges. Wilkomirski bringt uns hier aber aus dem Trott. Sein Gedächtnis scheint dabei nicht anders zu funktionieren, nur war es noch fragmentierter und dazu tief verletzt. Dössekker ging seinen dunklen Kindheitserinnerungen in den 1980er und 90er Jahren nach und damit genau zu einer Zeit, als das Trauma den Rang gesellschaftlicher Relevanz erreichte, der Opfer-Begriff neue Bedeutung und die Aufarbeitung des Holocaust zunehmend Aufmerksamkeit erhielt. Dies mag auch zu erklären helfen, wieso die Biografie auf so wenig Widerstand stiess. Sie entsprang dem Puls der Zeit und entsprach exakt den Erwartungen. In diesem Kontext und mit seinem persönlichen Trauma stiess Dössekker auf den für ihn so logischen Lebenslauf und fand im Judentum und im Holocaust die haltgebenden Anknüpfungspunkte.
Der Film zeigt eindrücklich, wie diese Geschichte sein Zuhause wurde; zum Ort, wo er sich bis heute geborgen fühlt. Zugleich schärft «W.» unseren Blick dafür, dass sich die Selbstwahrnehmung aus der Geschichte speisen, diese in sich einverleiben und wieder verzerrt in die Geschichte einschreiben kann.
Der Dokumentarfilm «W. – Was von der Lüge bleibt» von Rolando Colla ist aktuell noch in Zürich im Kosmos zu sehen: Mi 13:30, 20:00 / Do-Di 19:45.