Vom Beweismittel zum historischen Dokument: Tatortfotografien waren bereits in den 1920er-Jahren ein zentraler Bestandteil polizeilicher Ermittlungen. Heute ermöglichen sie seltene Einblicke in die nur wenig dokumentierten Themenbereiche der Abtreibung und der Prostitution. Ein Gastbeitrag von Mara Haas, Masterstudentin der Zeitgeschichte.
Das Zürcher Stadtarchiv hat vor Kurzem eine online zugängliche Sammlung von gut 700 ausgewählten Tatortfotografien des Erkennungsdienstes der Stadtpolizei Zürich veröffentlicht. Hauptsächlich sind in der Galerie Bilder von Verkehrsunfällen enthalten, sie dokumentiert aber auch eine Explosion, mit Hakenkreuzen beschmierte Verkaufsläden oder einen Gerüsteinsturz im Hallenstadion Zürich. Teilweise sind die Fotos über 100 Jahre alt und doch wecken sie aktuell unser Interesse: Was macht die Bilder aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive spannend? Um darauf Antworten zu finden, habe ich mich mit vier Fotografien näher beschäftigt. Sie zeigen zwei verschiedene Tatorte in Zürich, an der Mainaugasse sowie der Höschgasse. Hier wurde Kuppelei als Straftat vermutet, womit die Beihilfe zur «Unzucht», also zu sexuellen Handlungen ausserhalb der Ehe, gemeint war. In den Räumlichkeiten an der Höschgasse war es, so der Verdacht, zusätzlich auch zu Abtreibungen gekommen.
Schauen wir uns die Fotos zunächst einmal genauer an. Zu sehen sind Übersichtsaufnahmen von vier nüchtern anmutenden Räumen. Weil von einer vorangehenden Hausdurchsuchung und der Unmittelbarkeit der Tatortfotografien auszugehen ist, fallen die Ordnung und die Sauberkeit besonders auf. Auch sonst sind keine Gegenstände zu sehen, die auf ein Alltagsleben in den Zimmern hindeuten. Auf einem Foto (Abb. 2) sind ein Spiegel und eine Waschstelle mit Becken und Krug erkennbar, die weissen Laken auf den Betten und ein Schrank, der mit gefalteten Tüchern gefüllt ist, bezeugen einen regelmässigen Reinigungsturnus.
Augenfällig ist zudem ein Objekt, das auf dem Bett liegt und via Kabel mit einem Koffer verbunden ist. Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um das Corpus Delicti, also den Gegenstand, mit dem die Tat begangen und der danach von der Polizei als Beweismittel gesichert wurde. Dafür spricht auch die Position des Objekts, die wirkt, als habe es der Erkennungsdienst vor der Fotoaufnahme eigens zur Beweisführung hingelegt. Es könnte sich um ein Abtreibungsinstrument handeln. Oder ist es ein Gerät zur Druckmessung im Muttermund, Teil eines Hebammenkoffers? Was genau sich auf dem Bett befand, lässt sich mit dem Tatortfoto allein nicht abschliessend klären.
In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage, was ein Tatortfoto überhaupt ist und wie es entsteht. Die Erkennungsdienstgruppe der Stadtpolizei Zürich wurde in den 1920er-Jahren gegründet. Unter anderem suchte, sicherte und verwertete sie Spuren bei Kriminalfällen. Zusätzlich hatte die Gruppe die Unveränderlichkeit des Tatorts ab Eintreffen der alarmierten Polizei sicherzustellen. Zu den Spuren gehörten auch die Tatortfotografien, die als Beweismittel in einem allfälligen Strafprozess und gleichzeitig zur Dokumentation der polizeilichen Arbeit dienten. Wenn ein:e Richter:in einen Tatgegenstand über ihre:seine Sinne wahrnimmt, so wird er als sogenannter Augenschein zum Beweis. In beiden Funktionen – Beweis und Dokument – sollen Tatortfotografien also ein vergangenes Geschehnis vergegenwärtigen. Damit entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Fülle von behördlichen Akten, aus welchen der heutige Wissensstand über Prostitution in Zürich zu dieser Zeit hauptsächlich hervorgeht.
Was aber sind die Voraussetzungen dafür, dass eine Tatortfotografie zum historischen Dokument wird? In der vorliegenden Bildgalerie wurde von den Angestellten des Stadtarchivs zunächst eine Auswahl getroffen und einzelne Fotos nach rechtlichen, ästhetischen und ethischen Kriterien für die Veröffentlichung herausgesucht. So sind beispielsweise keine Leichen zu sehen. Das erfordert der Persönlichkeitsschutz von Verstorbenen und deren Angehörigen. Generell finden sich in der veröffentlichten Bildgalerie nur wenige Fotos, auf denen Personen zu erkennen sind. Auch dass die betreffenden Fälle heute hinfällig sind, ermöglicht es, dass die Fotografien zu historischen Dokumenten werden können. Tatortbilder werden so öffentlich zugänglich, ohne eine Rechtsmittelfrist zu verletzen.
Und schliesslich ist das, was die Fotografien einst zu Beweiszwecken dokumentierten, heute aus geschichtswissenschaftlicher Sicht besonders interessant: Die Bilder bieten Einblick in den Arbeitsalltag von Prostituierten vor hundert Jahren und die Abtreibung als klandestine Verhütungsmethode. Was genau verraten uns die Tatortfotografien darüber?
Beide Tatorte lagen im Seefeld, also nahe am Niederdorf, wo sich im betreffenden Zeitraum ein Rotlichtmilieu befand. Die Ausstattung, Sauberkeit, Grösse und Lage der Räumlichkeiten lassen ein grosses Vermögen der Mieter:innen vermuten. Daher dürften die Zimmer nicht als Wohn-, sondern als Arbeitsort gedient haben. Auch die Tatsache, dass mehr Betten als Zimmer vorhanden waren, spricht für diese Beobachtung. In den Tatbeständen waren ja auch Kuppler:innen und nicht Prostituierte angeklagt. Das ermöglicht für beide Schauplätze eine erste Schlussfolgerung: In den Zimmern arbeiteten mehrere Prostituierte, vermittelt wurden sie jeweils von gut vernetzten und vermögenden Kuppler:innen.
Bordelle und Strassenprostitution waren in der Schweiz bis 1942 verboten. Neben den sexuellen Handlungen selbst waren alle dazugehörigen Tätigkeiten wie zum Beispiel öffentliches Anwerben oder Kuppelei strafbar. Nichtsdestotrotz florierte das Zürcher Sexarbeitsgewerbe in den 1920er-Jahren und etablierte sich zu einem professionalisierten Berufsfeld. Damit verbunden ist die Frage, in welchem Zusammenhang die Kuppelei, beispielsweise an der Höschgasse, mit der mutmasslichen Abtreibung stand. Abtreibungen waren in der Schweiz bis zur Annahme der Fristenlösung 2002 illegal. Das Verbot verhinderte jedoch nicht, dass Abtreibungen vorgenommen wurden – im Gegenteil: In den 1920er-Jahren waren sie gar die häufigste Massnahme zur Empfängnisverhütung. Ihre Illegalität brachte in erster Linie gesellschaftliche Stigmatisierung und gesundheitliche Gefahren für die Betroffenen mit sich. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass eine Prostituierte, die in den Räumlichkeiten an der Höschgasse tätig war, im Falle einer Schwangerschaft hier auch mit Abtreibungsmöglichkeiten in Berührung kam. Vielleicht gab es Kontakt zu Laienabtreiber:innen, sogenannten Engelmacher:innen, oder die Kuppler:innen selbst nahmen den Eingriff vor. Höchstwahrscheinlich stellten sie die Instrumente und Räumlichkeiten dafür zu Verfügung. Wie bereits erwähnt, ist allerdings unklar, ob es sich beim mutmasslichen Corpus Delicti tatsächlich um ein Abtreibungsinstrument handelte. Ebenso bleibt offen, ob das Sexarbeitsgewerbe und Abtreibungspraktiken im Zürich der 1920er-Jahre in einem systematischen Zusammenhang standen.
Meine kurze Spurensuche ergibt also folgendes: An beiden Tatorten haben anfangs des 20. Jahrhunderts wohl mehrere Prostituierte unter Aufsicht von gut organisierten und vermögenden Kuppler:innen gearbeitet. Wurde eine Prostituierte ungewollt schwanger, so war die Abtreibung die wahrscheinlichste Massnahme zur Geburtenkontrolle. Viele Objekte auf den Fotografien scheinen die Tatbestände zu bestätigen: Die vielen Betten, die weissen Tücher, die Ordnung und Reinlichkeit und das mutmassliche Abtreibungsinstrument. Allerdings beweist kaum ein Element auf den Fotos die Tatbestände explizit – um hier weiter zu forschen, könnten Polizeirapporte und andere erkennungsdienstliche Materialien zu den konkreten Fälle weitere Anhaltspunkte liefern.
Was durch die Beschäftigung mit Tatortfotografien deutlich wird, ist, wie stark bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht wurde, Abtreibung und Prostitution zu regulieren. Rückblickend erinnern die fotografischen Quellen folglich auch daran, wie hart umkämpft die Entkriminalisierung von Sexarbeitenden und das Recht auf Abtreibung hierzulande waren – und es teilweise bis heute sind.