Angebot und Nachfrage, Alphabetisierungsrate und Schuldengrenze: Wohl kaum Begriffe, die man mit Videospielen in Verbindung bringen würde. Trotzdem will eine ambitionierte Neuerscheinung genau das einem breiten Publikum schmackhaft machen. Victoria 3 macht die Industrielle Revolution als Videospiel erlebbar – aber passt die auf einen Desktop?
Chile steht kurz vor dem Bankrott. Wild enthusiastisch hat der Staat in den Jahren 1836-37 die Expansion des Baugewerbes, der Sägewerke und der Textilindustrie finanziert. Aufgrund der stark angestiegenen Nachfrage sind die Preise für die Baumaterialien, die zur Errichtung der neuen Gebäude nötig sind, um mehr als das Doppelte angestiegen und stellen nun bei weitem den grössten Kostenpunkt in der Staatsbilanz dar. Kurzum wird das Bauprogramm auf Eis gelegt, die Steuern werden erhöht und die Gehälter der Beamten gesenkt. Mit diesen Sparmassnahmen verhindert der Staat, dass die Schuldengrenze geknackt wird. Die Krise ist abgewendet – aber wie soll es weitergehen?
Schuld an dem Schlamassel ist nicht Joaquín Prieto, der damalige Präsident Chiles, sondern der Autor dieses Beitrags. Denn die obige Episode ist keine wahrhaftige Begebenheit der chilenischen Geschichte: Es ist mein erster Versuch, in Victoria 3 Chile zu industrialisieren. Das Videospiel der schwedischen Entwickler*innen von Paradox Interactive fasst nämlich das kühne Unterfangen, seinen Spieler*innen über den Zeitraum von 1836 bis 1936 eine Art nationale Wirtschafts- und Gesellschaftssimulation zu bieten. Und zwar für jeden beliebigen Staat, der beim Startzeitpunkt 1836 existiert hat. Konkret heisst das, dass man als Spieler*in die Kontrolle über Grossbritannien, Preussen, das Kaiserreich der Qing-Dynastie oder eben auch Chile übernimmt.
Mit Geldmitteln, aber auch abstrakten Ressourcen wie «Bürokratie», «Autorität» und «Einfluss» interagiert man als verkörperter Wille des Staats mit dem Territorium und der Bevölkerung seines Landes. Besonders Letztere ist in Victoria 3 von überragender Bedeutung. Das Spiel erfasst nämlich die Ethnie, Religion, den Beruf und den Wohnort jeder einzelnen Person. Die Bürger und Nichtbürger*innen arbeiten und verdienen Geld, erstehen damit Konsumgüter, wandern ein und aus und sterben in der Armee fürs Vaterland. Ihren politischen Willen drücken die Menschen dann durch Partizipation in sogenannten «Interessensgruppen» wie den Grossgrundbesitzern oder den Gewerkschaften aus, wenn sie für ihre Anliegen nicht gleich auf die Strasse gehen – wie zum Beispiel das Frauenstimm- und Wahlrecht. Sind breite Schichten durch rechtliche Diskriminierung oder wirtschaftliches Unglück genügend radikalisiert, eskaliert das Ganze dann gerne bis in die Revolution und den Bürgerkrieg. Die Stimmung in der Bevölkerung ist somit für die Spieler*in ein überlebenswichtiges Barometer.
Den Verlauf des Geschehens beeinflusst die Spieler*in, indem sie Investitionen in Industrien und die Infrastruktur tätigt, die Aussenpolitik und den Aussenhandel bestimmt und die Innenpolitik beeinflusst. Auf diese Einflussnahmen reagiert das Spiel durch Preisänderungen der Güter auf dem Markt – die konkret durch das produzierte Angebot und der Nachfrage der Bevölkerung bestimmt sind – und über Zustimmung oder Ablehnung der Interessensgruppen, was Gesetzesänderungen erleichtert oder erschwert.
Der Clou und die Faszination des Spiels liegen darin, dass all diese simulierten Menschen, Industrien, Gesetze und Parteien ineinandergreifen wie das Räderwerk einer Dampfmaschine. Es ist ein beständiges Abwägen: Soll das defizitäre Budget mit einer Steuer auf Getreide gedeckt werden, wodurch dann aber zwingend die Wirtschaft gebremst und der Unmut der Armen geweckt würde? Soll gegen den Willen der übermächtigen Grossgrundbesitzer die Sklaverei abgeschafft werden, um die Steuereinnahmen zu steigern (denn Sklav*innen zahlen keine Steuern)?
Solche Abwägungen gestalten auch die Industrialisierung Chiles durch den Autor nach der Krise der 1830er Jahre. Die weiterhin hohen Kosten der Baumaterialien zwingen den Staat zu regelmässigen Sparphasen. Dies geht dann aber zwangsläufig auf Kosten der Sägewerke, Eisenbergwerke und Werkzeugfabriken, deren Haupteinnahmequellen gerade die staatliche Bautätigkeit ist. Daraus entwickelt sich eine Art Konjunkturzyklus, der davon abhängt, ob der Staat gerade für den Ausbau der Wirtschaft Schulden aufnehmen kann oder nicht.
Victoria 3 kann natürlich nicht beliebig tief ins Detail gehen. Der Grund liegt in der Natur des Mediums: Erstens haben Computer nur eine begrenzte Rechenleistung zur Verfügung, was der Komplexität Grenzen setzt; zweitens muss das Geschehen für die Spieler*innen verständlich und navigierbar bleiben. Diese Umstände führen zur Vereinfachung und Generalisierung der historischen Materie nach Gutdünken der Entwickler*innen.
Die historische Perspektive, die durch diesen Vereinfachungsprozess entsteht, ist konservativ gefärbt. Als Spieler*in schlüpft man nicht in die Rolle ein*er Politiker*in mit begrenzten Kompetenzen, sondern in die Rolle eines allwissenden, unsterblichen Geistes, der die simulierte Welt in Form einer stilisierten Weltkarte betrachtet. Der Bevölkerung indessen begegnet man nicht als Einzelpersonen, sondern in Gruppen aus dutzenden bis zehntausenden Menschen, welche dieselben Attribute zugewiesen bekommen haben. Die einzige Ausnahme stellen führende Politiker und Militärs dar – welche mit wenigen Ausnahmen wie der titelgebenden Victoria allesamt männlich sind. Neben diesem Patriarchat der «Great Men» reproduziert Victoria 3 auch eine koloniale Sichtweise. Gewisse Gebiete, wie die der Native Americans, gelten als dezentralisiert und sind damit lediglich passive Zuschauer, welche mit Waffengewalt kolonisiert werden können.
Es stellt sich bei einem Spiel auch die Frage nach Sieg und Niederlage. Grundsätzlich verkauft sich Victoria 3 als Sandkasten, in welchem sowohl modernste kapitalistische Demokratien wie auch autoritäre, ländliche Despotien errichtet werden können. Dennoch werden die Spieler*innen klar dazu angeleitet, die Wirtschaftsleistung, den Lebensstandard und die politische Partizipation all ihrer Bürger*innen zu steigern. Wer das tut, profitiert von technologischem Fortschritt, ruhiger Innenpolitik und aussenpolitischer Machtfülle. Auf der liebevoll ausgearbeiteten Weltkarte wachsen dann Städte zu Metropolen heran, die mit emsigen Eisenbahnen und majestätischen Zeppelinen miteinander verbunden sind. Die «leeren» Räume, in denen sich am Anfang des Spiels noch Kleinbauern und Ureinwohnerinnen verbergen, schwinden dagegen ohne grosse Gegenrede dahin.
Nach Spielbeginn im Jahr 1836 ist das Spielende um 1936 nach gut 15-25 realen Stunden erreicht. Mit immer anderen gespielten Ländern kann dieser Zeitraffer beliebig wiederholt werden. Oberflächlich ereignen sich dann die verschiedensten Dinge: Mal vereinigt Österreich-Ungarn Deutschland, mal gewinnen die Südstaaten den Amerikanischen Bürgerkrieg. Doch immer gibt es eine industrielle Revolution, immer kolonisieren Imperialisten den globalen Süden, immer bilden sich globale Handelsnetzwerke und immer sterben Millionen von Menschen aus Einsen und Nullen in den ersten industriell geführten Kriegen der Geschichte.
Dies ist die Geschichte des 19. Jahrhunderts, die dann auch den Spieler*innen weitergegeben wird. Und dieses Publikum kann sich sehen lassen: Geschätzte Verkaufszahlen beziffern sich auf über eine halbe Million Exemplare seit Erscheinen Ende Oktober 2022. Für weniger anspruchsvolle Videospiele mit historischer Thematik sind diese Zahlen ein Vielfaches höher. Es steht damit fest, dass Videospiele den Geschichtskonsum breiter Schichten der Gesellschaft inzwischen nachhaltig prägen. Um zu verstehen, welche Repräsentationen der Geschichte ausserhalb der Uni verbreitet sind, sollten sich Historiker*innen häufiger vor die Konsole setzen.
Victoria 3 ist seit dem 25. Oktober 2022 auf Steam und anderen Plattformen erhältlich. Entwickler: Paradox Development Studio, Publisher: Paradox Interactive. Download ab ca. CHF 50.- für Microsoft Windows, macOS und Linux. Weitere Informationen zum Spiel gibt es auf GameStar. Collagen: etü.