Mit der Ausstellung «Sedna. Mythos und Wandel in der Arktis» ermöglicht das NONAM noch bis Mitte September Einblicke in die ausdrucksstarke Kunst der Polarregionen. Eine Ausstellungsrezension.
«Viele Kunstschaffende verstehen sich als moderne Storyteller. Sie meisseln Mythen in Stein, schnitzen alte und neue Legenden in Knochen oder uraltes Elfenbein. Sie laden uns ein in eine andere Welt und fordern uns auf – endlich – zuzuhören». Die unter dem Titel «Sedna. Mythos und Wandel in der Arktis» im NONAM ausgestellten Kunstwerke erzählen eindrückliche Geschichten. In sieben Teile gegliedert lädt der «7-Insel-Archipel» ein auf eine Reise, die von den traditionellen Lebensweisen der Polarvölker über Mythen und Geister bis hin zu aktuellen Krisen und Herausforderungen reicht – vom Damals bis ins Heute und darüber hinaus. Von bläulichem Licht und sanftem Meeresrauschen empfangen betrete ich die Ausstellung, gespannt auf diese «andere Welt», die das NONAM verspricht.
Unter dem Titel «Die Jagd» beleuchtet der erste Teil der Ausstellung einen zentralen Aspekt des Lebens in den Polarregionen: Die Jagd auf Wassersäugetiere und Karibus ist auch heute noch wichtig für das Überleben in der Arktis. Trotz den Gefahren, mit denen eine solche Jagd verbunden ist – eisige Temperaturen oder die Unberechenbarkeit des Meeres – vermitteln die hier ausgestellten Kunstwerke den Besucher*innen das Bild einer «heilen Welt»: So macht beispielsweise der 1973 von Juanisialuk Irqumia geschaffene farbenfrohe Steinschnittdruck, der die Karibujagd der Inuit darstellt, einen fröhlichen Eindruck, wobei von der durch ein Trauma hervorgerufenen «Kajak-Angst» des Künstlers nichts zu spüren ist. Auch die «Drei verspielten Robben», die von eine*r unbekannten Künstler*in aus Walrosshauern geschnitzt und mit niedlichen Gesichtern versehen wurde, unterstützen das Bild der «heilen Welt» – ein Bild, das sich im Verlauf der Ausstellung definitiv noch verändern wird.
Stutzig machen die Materialien, aus denen viele der Kunstwerke geschaffen sind: Walknochen, Seehundfelle, Karibugeweihe und Walrosshauer sind nicht selten. Dabei muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass diese Materialien nicht mit Elfenbeinkunst vergleichbar sind: Anders als die Jagd auf Elefanten, bei der ausschliesslich das Elfenbein begehrt war, jagen die Völker der Polarregionen fürs Überleben und versuchen dabei, möglichst alle Teile der Beute zu verwenden. Dazu kommt, dass es sich bei den für die Kunstwerke verwendeten Materialien meist Gefundenes oder Gesammeltes handelt. Auffällig sind ausserdem die von den Kunstwerken vermittelten Geschlechterrollen: Starke, muskulöse Männer auf der Jagd und zierliche Frauen, die auf die Kinder aufpassen. Dabei ist anzumerken, dass die Ausstellung ausschliesslich aus zeitgenössischen Werken besteht. Darüber, ob diese Geschlechterrollen auch heute noch so gelebt werden, verrät das NONAM nichts. Eine kurze Internetrecherche zeigt jedoch, dass diese Rollenmuster – wenn auch präsenter als hier in der Schweiz – längst nicht mehr so starr sind: So gibt es auch in den Polarregionen durchaus Frauen, die mit Harpunen jagen oder Männer, die kochen.
Die Relevanz Sednas wird bereits bei den Kunstwerken, die die Jagd thematisieren, deutlich: Der Glaube, dass die Meeresgöttin über den Erfolg oder Misserfolg der Jäger*innen bestimmt, ist weit verbreitet. Demnach sind viele der Skulpturen Darstellungen von Sedna, die entweder selbst mit Pfeil und Bogen auf der Jagd ist, oder die Gestalt verschiedener Beutetiere annimmt – so beispielsweise die 2018 vom kanadischen Künstler Daniel Shimout aus einem Karibugeweih hergestellte Figur der Meeresgöttin, die sich in einen Narwal verwandelt.
Im zweiten Teil der Ausstellung, «Sednas Welt», veranschaulicht eine Videoinstallation des Regisseurs Zacharias Kunuk die Legende Sednas. Obwohl der Kunstfilm auch so sehr eindrücklich war, hätte ich mir englische oder deutsche Untertitel gewünscht, da ich in Inuktitut nicht bewandert bin.Dennoch machen sowohl der Film wie auch die zahlreichen Skulpturen und Gemälde, die die Meeresgöttin darstellen, deutlich: Niemand weiss so genau, wer oder was Sedna ist und wie sie zur Göttin wurde. Einig sind sich die vielen Legenden nur darin, dass Sedna über das Schicksal der Polarvölker entscheidet. Dass es demnach auch zum Alltag gehört, die Göttin zu besänftigen, verdeutlicht ein Druck der Grafikerin und Botschafterin Kenojuak Ashevak: Die mit «Zöpfe vergleichen» betitelte Darstellung zeigt eine Schamanin, die zum Meeresgrund schwimmt und in der Hoffnung auf Sednas Gunst die Haare der Göttin zu Zöpfen flechtet.
Die Legenden um Sedna sind nicht die einzigen Mythen, die für die zirkumpolaren Kulturen eine wichtige Rolle spielen. Die hier ausgestellten Kunstwerke erzählen Geschichten von Schamanen, Seelen oder Geistwesen und stellen die Rituale dar, die mit diesen mythischen Gestalten in Verbindung stehen. Eindrücklich sind beispielsweise die Skulpturen der Sirtya, einem mystischen Volk mit übernatürlichen Fähigkeiten, die der sibirische Künstler Evgeniy Salinder aus Rentiergeweihen geschnitzt hat. Das NONAM macht an dieser Stelle darauf aufmerksam, dass zurzeit nicht bekannt ist, ob der Künstler noch lebt – wie viele andere Männer indigener Völker in Sibirien wurde er 2022 von Russland für den Ukrainekrieg eingezogen.
Bald beginnt die «heile Welt» der Polarvölker, die die Kunstwerke vermitteln, zu bröckeln: Der massive Einfluss, den der Kontakt mit den Weissen auf das Leben in der Arktis hatte, wird deutlich. So führten beispielsweise die ersten Christianisierungsversuche in den Polarregionen, die im 18. Jahrhundert stattfanden, dazu, dass Jesus in die Geisterwelt der Polarvölker integriert wurde. Dies wird auch durch einige der ausgestellten Kunstwerke widergespiegelt.
Im nächsten Teil der Ausstellung kommt dieser Einfluss noch deutlicher zum Vorschein: Missionarsfiguren aus Karibugeweih, ein gekreuzigter Schamane und ein Serpentin-Priester erzählen Geschichten aus einer dunklen Vergangenheit. Der kanadische Künstler Samonie Toonoo will damit auf koloniale Traumata aufmerksam machen und die Christianisierung kritisieren. Doch der Einfluss des Kolonialismus beschränkte sich nicht auf die Religion: Noch heute kämpfen die Gemeinschaften des Nordens mit Drogenmissbrauch und Alkoholismus. Die Geschichten, die die Kunstwerke darüber erzählen, sind eindrücklich. So beispielsweise eine Skulptur, die der Künstler Bill Nasogaluak aus Serpentin hergestellt hat: Die Skulptur stellt Sedna dar, die mit Weinflaschen und Blechdosen unter einem Netz liegt – dem Netz des Kolonialismus. Eine andere Skulptur zeigt ein Flugzeug, das arktische Kinder raubt, um sie in sogenannte Residential Schools zu bringen. Vom friedlichen Alltag, der «heilen Welt», die der erste Teil der Ausstellung gezeigt hat, ist wenig übrig. Ausdrucksstark verdeutlichen die Kunstwerke aus den Polarregionen, wie der Kolonialismus bisherige Lebensweisen zerstört hat.
Zwangsumsiedlung, Alkoholismus und Christianisierung – die Betitelung dieses Ausstellungsteils, «Wandel», wird der düsteren Geschichte nicht gerecht. Vielleicht handelt es sich dabei um einen Versuch des NONAMs, neutral zu sein. Allerdings bin ich der Meinung, dass Neutralität gegenüber diesen Themen keine Option ist.
Der nächste Teil der Ausstellung beschäftigt sich mit der gemeinschaftlichen Lebensweise der arktischen Völker, die insbesondere während dem Kolonialismus stark auf die Probe gestellt wurde. Eine Knochenskulptur zeigt sechs Figuren, die im Kreis stehen und sich an den Händen halten: ein Symbol für den Zusammenhalt der Polargemeinschaften. Begleitend zu den Kunstwerken hat das NONAM Bildschirme installiert, die Ausschnitte aus dem Leben der arktischen Völker zeigen. Auch über deren Lebensgrundsätze informiert das Museum: Die sogenannten «Inuit Quajimajatuqangit», kurz IQ, sind Lebensprinzipien, die ein friedliches und nachhaltiges Miteinander fördern sollen. Dazu gehört beispielsweise inuuqatigiitsiarniq, was Respekt für andere und das gegenseitige Sorgetragen bedeutet.
Nicht nur der Kolonialismus veränderte die Lebensweisen in den Polarregionen, auch der Klimawandel hat massive Folgen. Unter dem Titel «Klima und Umwelt» zeigt das NONAM verschiedenste Kunstwerke, die sich mit dem schwindenden Eis und dem tauenden Permafrostboden beschäftigen. Eine Figur aus Karibugeweih zeigt Sedna, die über den Verlust des Meereises klagt; und eine Farbstiftzeichnung des Künstlers Jutai Toonoo macht auf die dünner werdende Ozonschicht aufmerksam. Ergänzt durch Texte erzählen die Werke Geschichten von den aktuellen Herausforderungen, mit denen die Völker der Polarregionen zu kämpfen haben.
In einem letzten Teil thematisiert die Ausstellung die Zukunft. Hier stehen der Kulturerhalt und die Übermittlung indigenen Wissens im Zentrum. Eine Serpentinfigur zeigt beispielsweise eine schwangere kniende Sedna, deren nachdenklicher Gesichtsausdruck stellvertretend für die unsichere Zukunft steht. Insbesondere die Bedeutung des Sprechens und des Zuhörens wird von vielen Kunstwerken verdeutlicht: Ein Bild der Künstlerin Soroseelutu Ashoona heisst «Über den Ozean sprechen»; eine Skulptur aus Perlmutt und Walknochen zeigt verschiedene Arten der mündlichen und schriftlichen Überlieferung. Die Kunstwerke erzählen Geschichten anderer Lebenswelten und sie erzählen vom verzweifelten Versuch, diese Geschichten zu bewahren.
Das NONAM setzt seit seiner Neubennenung im Jahr 2003 (früher “Indianermuseum”) vermehrt auf das Ausstellen zeitgenössischer Kunst indigener Künstler*innen, um diesen eine Plattform zu geben. Die erste Ausstellung des damals neuen NONAM handelte ebenfalls von der Kunst der Inuit und entstand in Kooperation mit der Sammlung Cerny in Bern. In den letzten zwanzig Jahren sei diese, wie auch die eigene Sammlung, beträchtlich gewachsen, schreibt das Museum. Ebenfalls gewachsen ist die vom Klimawandel ausgehende existenzielle Bedrohung für die Lebensweise der zirkumpolaren Völker.
Der «Reload» dieser Ausstellung von vor 20 Jahren lässt sich sehen. «Sedna. Mythos und Wandel in der Arktis» fordert uns als Besucher*innen dazu auf, zuzuhören und auch dann nicht wegzuschauen, wenn wir mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert werden. Nur so können wir darauf hoffen, dass Geschichten wie die der Völker der Polarregion und ihrer Meeresgöttin Sedna nicht vergessen gehen, dass deren Kulturen erhalten bleiben und dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.