Im Rahmen einer Lehrveranstaltung reiste ich diesen Sommer nach Jerusalem und privat weiter nach Tel Aviv. Ein Erfahrungsbericht über ein Gebiet, das mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Als ich diesen Januar von einer Lehrveranstaltung des theologischen Seminars erfahren habe, die eine Exkursion nach Jerusalem beinhaltete, war mein Interesse sofort geweckt. Elf Tage lang geführte Ausflüge zu historischen Stätten, archäologischen Ausgrabungen und religiösen Pilgerorten, noch dazu 3 ECTS, die ich mir für mein Nebenfach Religionswissenschaften anrechnen lassen kann.
Einige Gedanken machte ich mir dennoch, bevor ich mich definitiv anmeldete. Neben einer leichten Flugscham, die sich bemerkbar machte, bereitete mir auch die schwierige politische Situation in der Gegend einiges an Unbehagen. Während des Semesters verfolgte ich die Nachrichten über die Proteste in Israel, aber eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik blieb aus. Die Zeit verging wie im Flug und nach den letzten stressigen Wochen des Semesters sitze ich plötzlich mit den anderen Exkursionsteilnehmer:innen im Flieger Richtung Israel.
Vom Flughafen aus beschliessen wir, mit dem ÖV zu unserer Unterkunft zu fahren, was uns einen ersten Eindruck von Jerusalem vermittelt. Es ist viel los an diesem Montagnachmittag. Durch die Fenster unseres Busses können wir bereits die starken Gegensätze erahnen, die die Bevölkerung Israels ausmachen: Während in einem Quartier fast nur orthodoxe Jüd:innen unterwegs sind, ist das Stadtbild einige Busstationen weiter muslimisch geprägt.
Angekommen in unserem Gasthaus finden wir uns erneut in einer anderen Welt wieder: Unsere Unterkunft gehört zu einer deutschsprachigen Benediktinerabtei, in der normalerweise Theologiestudent:nnen unterkommen. Wie in vielen christlichen Einrichtungen ist das Hauspersonal mehrheitlich arabisch-palästinensisch.
Bereits am nächsten Tag sind wir unterwegs im Nationalpark City of David, der das älteste Siedlungsgebiet Jerusalems touristisch erschliesst. Dort erhalten wir dank den Beziehungen unserer Professoren eine Führung von einem lokalen Archäologen, der sich als Shlomo vorstellt. Shlomo führt uns durch eine aktive Ausgrabungsstätte, deren Ziel es ist, eine antike Strasse frei zu legen, die zur Zeit Herodes des Grossen vom Süden her zu einem jüdischen Tempel verlief. Da die Strasse jedoch mehrere Meter unter dem heutigen Bodenniveau liegt, mitten in einem palästinensischen Stadtteil Jerusalems, wird tunnelförmig in den Hügel gegraben. Jeder Meter muss mittels Metallkonstruktionen abgestützt werden, damit die Häuser darüber nicht einstürzen. Shlomo lässt durchblicken, dass die israelischen Palästinenser:innen, die über diesem Tunnel leben, über dieses millionenschwere Grabungsprojekt alles andere als erfreut sind: «In Jerusalem», meint er, «ist archäologische Forschung nie einfach nur Forschung. Alles ist hier politisch.»
Nachdem wir den ganzen Vormittag durch enge Tunnels und staubige Ausgrabungen marschiert sind, schlendern wir am Nachmittag wie viele andere Tourist:innen gemütlich durch den Souk der Altstadt und lassen uns von den Ladenbesitzern zum Kauf von Souvenirs überreden. Am Abend sitzen wir mit einem Bier auf der Dachterrasse unserer Unterkunft und geniessen den umwerfenden Ausblick über die Stadt. Vereinzelt kann man blau leuchtende LED-Sterne auf den Dächern ausmachen – sie kennzeichnen Häuser jüdischer Siedler:innen, die mit fragwürdigen Mitteln ihre Präsenz im umstrittenen Ostjerusalem markieren wollen.
Am nächsten Tag wollen wir frühmorgens auf den Tempelberg. Es ist jedoch der erste Tag des islamischen Opferfestes Eid al-Adha, und somit ist der Zugang zum Tempelberg, auf dem mit dem Felsendom das drittwichtigste Heiligtum des Islams steht, für Nichtmuslim:as gesperrt. Wir verschieben die Besichtigung des Tempels auf später und besuchen stattdessen die Western Wall – oder Klagemauer – gleich neben dem Zugang zum Felsendom. Hierhin kommen Menschen jüdischen Glaubens, um zu beten, da die Reste der Umfassungsmauer dem zerstörten jüdischen Tempel aus der Antike am nächsten kommen. Währenddessen klingt der Ruf der Muezzins von den Dächern.
Als wir den Platz vor der Western Wall am späten Nachmittag im Vorbeigehen ein zweites Mal betreten, beten nur noch wenige jüdische Personen vor der Mauer. Stattdessen marschieren junge Frauen und Männer in Uniform im Gleichschritt auf den Platz – an diesem bedeutenden Ort werden sie vereidigt, um ihren obligatorischen zwei- bis drei-jährigen Militärdienst anzutreten. Momente wie dieser machen deutlich wie durchmilitarisiert dieses Land ist und wie sehr die Realität, abseits von Pilger:innenströmen und interesserierten Student:innen, eine andere ist.
Erneut bewusst wird mir das auf unserer Exkursion nach Bethlehem. In unserem Reisecar überqueren wir die Grenze ins Westjordanland mühelos: Den bewaffneten Grenzbeamten reicht ein Blick auf unsere roten Pässe. Für die Bevölkerung des Westjordanlands ohne ausdrückliche Reisebewilligung stellt diese Grenze jedoch eine unüberwindbare Barriere dar. Diesen Umstand betont der palästinensische Theologe, den wir in Bethlehem für ein Gespräch treffen. Dr. Mitri Raheb gehört zur christlichen Minderheit, die schon lange vor dem Staat Israel in der Region Palästina existierte. Doch in unserem Gespräch betonte er, dass es im Konflikt zwischen Israel und Palästina nicht um verfeindete Religionen geht, sondern um einen Machtkampf zwischen dem Westen und dem Osten. Gemäss dem Theologen ist die Besetzung des Westjordanlands durch Israel das letzte grosse koloniale Projekt des Westens. Mitri Raheb wird auf unserer ganzen Reise die einzige palästinensische Stimme sein, die wir Student:innen hören.
Abgelenkt von den Ereignissen des Tages erfuhr ich erst später, dass an an jenem Tag zwei Autostunden entfernt in Jenin ein israelischer Militäreinsatz begonnen hat. Laut Medienberichtenhandelte es sich dabei um die grösste Militäroffensive im Westjordanland seit 20 Jahren. Mindestens 13 Menschen starben. Mehr als 100 wurden verletzt.
Noch am selben Abend kommen wir in einer koscheren Bar mit zwei orthodoxe Juden ins Gespräch. Einer der beiden jungen Männer ist mit einer Zürcherin verheiratet und hat erkannt, dass wir Schweizerdeutsch sprechen.
Wir nutzen die Gelegenheit und fragen die beiden über ihr Leben als orthodoxe Juden aus. Es erstaunt mich, wie offen und selbstironisch die beiden auf unsere forschen Fragen antworten. So sagt einer der Männer zum Beispiel grinsend, dass arrangierte Ehen in ihrer Community deshalb funktionieren, weil sowieso alle Männer wegen ihrer traditionellen Kleidung gleich aussehen. Das Englisch, das er dabei spricht, hat er sich – wie auch einige andere Sprachen – selbst beigebracht. Es zu lernen, scheint ihm wichtig gewesen zu sein, auch weil er gerne reist. Der Kontrast zum Gespräch am Nachmittag könnte nicht grösser sein: Diese Männer leben in einer komplett anderen Welt als Mitri Raheb. Wie sie zu dem Konflikt zwischen Israel und Palästina stehen, erfahren wir an jenem Abend nicht. Die Bedrohungslage scheint für die beiden jedoch sicherlich nicht gleich akut, wie für die Menschen in den Palästinensergebieten zu sein.
Am darauffolgenden Abend gesellt sich eine weitere Stimme zu meinen Eindrücken hinzu: Haim Weiss, ein Professor der Ben-Gurion-Universität, hat sich Zeit genommen, um uns unsere Fragen über die aktuelle Lage in Israel zu beantworten. Er selbst bezeichnet sich als säkularer Jude und engagiert sich aktiv für die Proteste gegen die Justizreform von Ministerpräsident Netanjahu. Würde diese Reform umgesetzt, wäre es dem Parlament in Zukunft möglich, Entscheidungen des höchsten Gerichts aufzuheben. Von Haim Weiss hören wir zum ersten Mal klar staatskritische Worte von einem Israeli: Erst selbst hat sich während seines Militärdiensts geweigert, im Gaza-Streifen zu dienen und er verurteilt den Umgang der Israeli mit den Palästinenser:innen. Durch das Gespräch mit ihm wird mir einmal mehr bewusst, wie vertrackt die Situation im Land ist. Frieden scheint eine ferne Utopie, die jüdische Bevölkerung und die palästinensischen Israeli leben getrennt voneinander. Das zeigt sich auch an den Protesten gegen die Justizreform: Es handelt sich um eine jüdische Bewegung, an der sich die arabischen Israeli laut dem Professor nicht beteiligen, auch aus Angst vor verstärkten staatlichen Repressionen.
Unsere elftägige Exkursion neigt sich dem Ende zu. Mit vier Freundinnen, die mit mir Religionswissenschaften studieren, reisen wir für eine weitere Woche nach Tel Aviv. Am letzten Tag vor unserer Abreise gönnen wir uns noch etwas Kultur – es geht ins Kunstmuseum von Tel Aviv. Schon von weitem hören wir Lärm und Sprechchöre: Eine kleine Gruppe von Menschen protestiert vor dem Gerichtsgebäude gleich neben dem Museum. Sie wehren sich gegen die Justizreform, die die Regierung plant.
Vor dem Eingang des Kunstmuseums werden wir kurz darauf von einem grossen Schriftzug empfangen: «We hereby declare our unrelenting commitment to the values proclaimed in the Declaration of Independence, which was signed at the Tel Aviv Museum of Art on 14 May 1948». Mit diesem Statement bezieht auch das Kunstmuseum Stellung gegen die geplanten Massnahmen der Regierung.
Wo ich stehe, weiss ich nach meiner 17-tägigen Reise nach Israel nicht. Ich konnte mir zwar eine Meinung bilden über die Proteste gegen die Justizreform und über den israelischen Umgang mit Palästinenser:innen inner- und ausserhalb israelischen Grenzen, doch vieles bleibt für mich unklar. Ist es vertretbar, in einem solch zerrissenen Land seine Ferien zu geniessen, wie ich es getan habe? Welche Verantwortung tragen ausländische Institutionen wie Universitäten, die in Jerusalem forschen, lehren und Exkursionen veranstalten? Welche Haltung vertrete ich, die als eine Geschichtsstudentin gelernt hat, zu reflektieren und zu hinterfragen? All dies sind Fragen, die mich auch noch lange nach meinem Rückflug in die Schweiz begleiten.