2016 – 2022 nahm die Anzahl Neueintritte ins Geschichtsstudium an der Universität Zürich kontinuierlich ab, wie eine kürzlich durchgeführte Untersuchung des Bereichs Studium und Lehre zeigt. Der etü hat nun bei Bereichsleiterin Marietta Meier zu den sinkenden Studierendenzahlen und den vielen Abbrüchen nachgehakt.
etü: Frau Meier, an der Seminarkonferenz im Oktober haben Sie dem Historischen Seminar erstmals die Ergebnisse Ihrer Untersuchung zu den Studierendenzahlen vorgestellt. Diese sind ernüchternd: Die Anzahl Neueintritte hat markant abgenommen. Gleichzeitig liegt die Abbruchquote im Bachelor im Haupt- und im Nebenfach bei 40 respektive 60 Prozent…
Marietta Meier: Es ist wichtig, über diese Zahlen zu sprechen. Aber es gibt keinen Grund, in Panik auszubrechen. Gerade die hohen Abbruchquoten müssen in einen Kontext gesetzt werden: Hier liegen uns erst die Zahlen der Eintrittskohorten 2020 und 2021 vor – bekanntlich die zwei ‹Corona-Jahre›. Zudem sind die Quoten bei den Abbrüchen und den Studienprogrammwechseln auch in anderen Disziplinen hoch.
«Es gibt Fächer mit einem stärkeren Rückgang …»
Zu den Neueintritten liegen allerdings Zahlen seit 2016 vor. Die Studierendenzahlen in der Geschichte sinken seit sechs Jahren kontinuierlich.
Naja, weder in den BA-Minor-Programmen noch im Master gibt es einen Rückgang. Aber im BA-Major haben die Eintritte seit 2016 abgenommen, das stimmt leider. Das führt zu einer deutlichen Verkleinerung der Studierendengruppe. Doch auch diese Zahlen muss man in einen Kontext stellen: Wir hatten 2023 wieder gleich viele Studieneintritte wie 2022. Und im Vergleich zu anderen Fächern der Philosophischen Fakultät und anderen Universitäten ist die Abnahme relativ geringfügig. Es gibt Fächer mit einem stärkeren Rückgang…
… Fächer wie etwa die Germanistik und andere Sprachen …
… und gleichzeitig haben wir bestimmte Boom-Fächer. Die Psychologie, die Politikwissenschaft und der Studiengang Kommunikationswissenschaft und Medienforschung erfahren seit einiger Zeit einen grossen Aufwind. Dies spiegelt auch gesellschaftspolitische Trends wider. Diese Fächer sind derzeit en vogue.
Die Zahlen zu den Studieneintritten und -abbrüchen
Die genauen Zahlen, die Marietta Meier im Oktober 2023 der Seminarkonferenz des Historischen Seminars vorgestellt hat, darf der etü nicht publizieren. Doch die Ergebnisse der Untersuchung zeigen: Von den Studierenden, die 2020 bzw. 2021 ein Geschichtsstudium aufgenommen haben, hat rund die Hälfte nach sechs bzw. vier Semestern das Geschichtsstudium abgebrochen. Es wird vermutet, dass sich diese hohen Abbruchquoten zu einem wesentlichen Teil auf die Corona-Pandemie zurückführen lassen. Die Entwicklung der Quoten im Jahr 2023 scheint diese Vermutung zu bestätigen. Genauere Zahlen sind im seminarinternen SK-Protokoll ersichtlich, das jeweils beim Seminarsekretariat eingesehen werden kann.
Wie erklären Sie sich den Rückgang bei Geschichte im BA-Major?
Seit der letzten Bologna-Reform ist es nicht mehr möglich, zwei Hauptfächer miteinander zu kombinieren. Die abnehmenden Studieneintritte im Hauptfach lassen vermuten: Geschichte wird nun eher im Nebenfach gewählt, das Hauptfach konnte in Konkurrenz zu anderen Fächern nicht zulegen. Das finden wir schade. Aber es gibt glücklicherweise auch immer wieder Studierende, die vom Nebenfach Geschichte ins Hauptfach wechseln.
Wieso ist es überhaupt wichtig, dass es viele Studierende am Historischen Seminar in Zürich hat?
Viele Studierende um jeden Preis ist nicht unser Ziel. Wir möchten vor allem gute Studierende, die nachher in die Welt hinausgehen und im Berufsleben – ob in der Wissenschaft, in den Schulen, den Medien oder wo auch immer – ihr Know-how einbringen. Dass wir Leute zu Historiker:innen ausbilden, ist auch aus gesellschaftspolitischen Gründen sinnvoll. Ich bin eine leidenschaftliche Historikerin und finde: Die Geschichtswissenschaft ist eine extrem wichtige Disziplin.
Welche Auswirkungen hätte denn eine Verkleinerung des Instituts?
Eine Verkleinerung des Instituts würde sich vor allem auf das Spektrum der Forschung und des Lehrangebots auswirken. Wenn die Zahl der Studierenden stark und über einen längeren Zeitraum abnimmt, ist es möglich, dass das Budget und die Zahl der Lehrstühle reduziert werden. Aber die Grösse eines Seminars sagt an sich nichts über die Qualität von Forschung und Lehre aus. Und es gäbe vielleicht auch Studierende, die sich an einem kleineren Seminar wohler fühlen würden.
«Viele Studierende verlassen das Historische Seminar erst nach Abschluss des Basisstudiums»
Sprechen wir über die Studienabbrüche: Grob die Hälfte aller Studierenden schliesst ihren Bachelor in Geschichte nicht ab.
Bei den Eintrittskohorten 2020 und 2021 ist die Quote der Abbrüche tatsächlich sehr hoch. Uns beschäftigt aber vor allem der Zeitpunkt, zu dem die Studierenden ihr Geschichtsstudium aufgeben. Die meisten entscheiden sich zwar in den ersten zwei Semestern zu diesem Schritt, aber viele Studierende verlassen das Historische Seminar erst nach Abschluss des Basisstudiums.
Weshalb stellt dies ein Problem dar?
Mit der Bolognareform kamen auch Vorschriften zum Curriculum. Im Basisstudium, das gemäss Regelstudienzeit immer ein Jahr dauert, soll selektioniert werden. Das heisst: Die Studierenden sollen im Basisstudium merken, wenn das Fach oder die Universität nichts für sie ist, und ungeeignete Leute sollen rausfliegen. Das hat natürlich auch mit neoliberalem Gedankengut zu tun. Das Bologna-System möchte die Ressourcen effizienter einsetzen und die Leute schnell und gezielt in den Arbeitsmarkt bringen. Man kann das persönlich gut oder schlecht finden – aber die Idee des aktuellen Systems ist nun einmal nicht, dass jemand nach fünf Semestern noch das Studium abbricht.
Und Sie haben nun festgestellt, dass viele Leute das Studium doch erst nach drei oder sogar mehr Semestern abbrechen?
Ja. Der Anteil Studierender, die so spät abbrechen, ist unserer Meinung nach zu hoch. Ein später Studienabbruch ist meist ein Frust für die Studierenden und weder für sie noch für die Dozierenden sinnvoll. Interessanterweise ist die Abbruchquote in den Nebenfächern deutlich höher als im Major. Aber wir finden sie auch im Major zu hoch. Im Master ist die Abbruchquote klein. Man kann sagen: Wer einmal im Master ist, wird den Abschluss ziemlich sicher schaffen. Unser Ziel wäre also, dass die Abbruchquote bei Studierenden ab dem dritten, vierten Semester gesenkt wird.
Wie will das HS hierbei vorgehen?
Ich glaube, dass der Übergang vom Basisstudium zum Aufbaustudium relativ hart ist. Im Basisstudium werden die Studierenden intensiver betreut. Danach sind sie stärker auf sich allein gestellt. Der Forschungsprozess, den man beim Schreiben einer Arbeit durchläuft, sollte auch in Seminaren thematisiert werden. Seminare sollten also nicht nur Inhalt vermitteln, sondern vermehrt auch auf methodische Fragen eingehen. In unseren Seminaren geben relativ viele Leute keine Seminararbeit ab. In der Regel besuchen sie dann im nächsten Semester ein anderes Seminar. Das ist schade und zeigt, dass wir die Studierenden beim Verfassen dieser Leistungsnachweise besser unterstützen könnten.
Das heisst, die Leute brechen das Studium ab, weil sie es nicht schaffen, ihre Seminararbeiten abzugeben?
Es ist gefährlich, einen direkten kausalen Zusammenhang herzustellen. Aber das Geschichtsstudium bringt nun einmal gewisse Herausforderungen mit sich, die andere Studiengänge nicht haben. Bei uns muss man zwar nicht auswendig lernen, dafür muss man ein hohes Mass an Selbstorganisation und Eigeninitiative aufbringen – gerade bei Seminar- und Abschlussarbeiten. Wir haben im Gegensatz zu anderen Fächern auch keine Liste von Themen für Seminararbeiten. Hinzu kommt, dass unsere Seminare zweisemestrig sind und die Studierenden die Arbeit nach der eigentlichen Lehrveranstaltung schreiben. Niemand fragt ein paar Wochen vor dem Abgabetermin bei ihnen nach, wo sie stehen und ob sie noch Fragen haben. Man kann bei uns also interessengeleitet studieren, was toll ist, aber auch anspruchsvoll. Hier findet zurzeit ein Pilotprojekt statt – ein Seminar mit begleitetem Forschungsprozess im zweiten Semester. Leider haben sich nur acht Studierende angemeldet.
Liegt die Lösung denn in einer Verschulung des Studiums? Dass man Leute mehr an die Hand nimmt, mehr Sitzungen und Abgabetermine einführt?
Ich würde das nicht als Verschulung bezeichnen. Mehr Austausch, mehr Meilensteine und gegenseitiges Feedback entsprechen eigentlich genau dem, was in der Wissenschaft üblich ist. Wenn ich ein Forschungsprojekt durchführe, tausche ich mich ja auch nicht nur in der Phase des Einlesens aus. Man reicht Anträge ein, besucht Tagungen, pflegt Kontakte, erhält Feedback auf Textentwürfe. Kein gutes Forschungsprojekt gelingt ohne diesen Austausch. Das versuche ich auch, in diesem Pilotprojekt-Seminar zu vermitteln.
Fragen wir von der anderen Seite her: Ist das Geschichtsstudium in Zürich zu streng? Man erhält manchmal schon den Eindruck, dass von den Geschichtsstudis in Zürich viel abverlangt wird; dass das Studium in Basel und Bern studierendenfreundlicher ist. An der Uni Bern ist man viel flexibler mit den Abgabeterminen – man kann die Abgabefristen verlängern und Arbeiten auch noch mehrere Semester später abgeben.
Ich bin mir nicht sicher, ob das flexible Abgabesystem in Bern wirklich studierendenfreundlicher ist. Für einzelne Studierende ist es vielleicht attraktiv. Wenn man aber seine Arbeit irgendwann einreichen kann und schon für den ersten Teil des Seminars Credits erhält, wird es für Leute, die Probleme mit der Selbstorganisation haben, noch schwieriger. Dozierende beider Unis melden mir zurück, dass sie unser System viel besser finden. Wir diskutieren zurzeit also eher in die entgegengesetzte Richtung: Sollten wir den Forschungsprozess stärker begleiten?
Sprechen wir über Basel. Dort erhält man erst für die BA-Arbeit und die mündliche Prüfung Noten. Die Seminararbeiten sind nicht benotet; der Fokus liegt auf den Rückmeldungen. In Zürich wird man relativ unvorbereitet ins kalte Wasser geworfen und erhält bereits ab der ersten Seminararbeit Noten – und oftmals nur spärliche Rückmeldungen.
Zum Thema Noten: Gemäss Studienordnung müssen hier im BA 30 Prozent und im MA 50 Prozent der Studienleistungen benotet sein. In Basel gleicht das pass or fail-System noch viel mehr dem alten Liz-System. Ich persönlich finde das nicht gut. Und: Noten und Feedback schliessen sich ja überhaupt nicht aus.
«Bestimmte Medien entwerfen das Bild, Historiker:innen seien nach dem Studium arbeitslos oder arbeiteten nur Teilzeit. Dieses Bashing ist nicht gerade förderlich»
Frau Meier, zum Abschluss: Was macht das HS nun, um wieder mehr Leute fürs Geschichtsstudium zu gewinnen?
Die Schweizerische Gesellschaft für Geschichte hat 2023 eine Kampagne lanciert, an der wir uns inhaltlich und finanziell beteiligen. Dieses Jahr werden wir einen Versuch starten: Geschichtsstudierende besuchen Kantonsschulen und erzählen von ihrem Studium. Und wir haben versucht, die HS-Website ansprechender zu gestalten. Auf der Website finden sich nun beispielsweise alle sechs Monate neue Testimonials von Leuten, die Geschichte studieren oder bereits abgeschlossen haben. Denn die am häufigsten gestellte Frage an den Studieninformationstagen ist immer noch: «Was macht man nach dem Studium?». Viele Leute kennen nur ein mögliches Berufsfeld unter vielen: die Schule. Andere denken, ein Geschichtsstudium gehe mit einem schwierigen Berufseinstieg einher.
Ist an diesem Bild auch die Berichterstattung in gewissen Medien schuld?
Bestimmte Medien entwerfen das Bild, Historiker:innen seien nach dem Studium arbeitslos oder arbeiteten nur Teilzeit. Dieses Bashing ist nicht gerade förderlich. Gewisse Aussagen lassen sich auch klar widerlegen. Die Arbeitslosenquote unter Historiker:innen ist beispielsweise vergleichsweise tief. Und die Geschichtswissenschaft ist in den Medien eigentlich sehr präsent. Wir sehen das am Beispiel Osteuropa. Nada Boškovska und Jeronim Perović werden von den Medien immer wieder befragt. Oder unser Projekt zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche, das Monika Dommann und ich mit unserem Team durchführen. Wir haben einem breiten Publikum zeigen können, wie wir als Historikerinnen vorgehen und mit den Quellen gearbeitet haben. Es ist also nicht so, dass wir im Fernsehen, Radio und in Zeitungen nicht vorkommen und die Relevanz der Geschichtswissenschaft nicht aufzeigen würden. Aber klar: Es kommt auch viel Gegenwind gegenüber Phil. I-Fächern.
Dürfen – und müssten wir – wieder stolzer sein, Geschichte zu studieren?
Auf jeden Fall. Man darf mit diesem Studium durchaus selbstbewusst auftreten. Es gibt in meinem Umfeld viele Leute – Juristinnen, Ärzte und so weiter –, die finden: «Das ist interessant» und «Ich hätte eigentlich auch gerne Geschichte studiert». Grundsätzlich haben sehr viele Leute Interesse an Geschichte. Wir Historiker:innen bringen viele gefragte Fähigkeiten mit. Man sollte dem Bashing nicht noch Nahrung geben, indem man sein Licht unter den Scheffel stellt oder sich zurückzieht.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Erhebung
Die Institute und Seminare können die Zahl der Studieneintritte und -abbrüche selbst aus dem sogenannten MSL-Dashboard («Monitoring Studium und Lehre») ziehen. Die Zahlen für das Historische Seminar wurden von Livia Merz (Lehrplanung Historisches Seminar) zusammengestellt. Diese tabellarische Übersicht wird die Lehrplanung nun künftig weiterführen.