«kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» im Landesmuseum Zürich: Wie gehen wir mit unserem kolonialen Erbe um?

«Wer wirtschaftlich so tüchtig mithurt wie die Schweiz, kann politisch nicht als Jungfrau auftreten.» So äusserte sich der als Provokateur bekannte Schweizer Schriftsteller und Nestbeschmutzer Friedrich Dürrenmatt über das Paradox der eidgenössischen Neutralität. Hätte zu Dürrenmatts Zeit eine Debatte über Schweizer Kolonialismus stattgefunden, hätte der Autor gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Das Zitat hat unverkennbare Parallelen zum Paradox der post-kolonialen Schweiz. Zwar hat sich die Schweiz nie direkt am Kolonialismus beteiligt. Sie hat aber davon profitiert und trägt somit eine bisher vernachlässigte Mitverantwortung.

Dem Thema der post-kolonialen Schweiz widmet sich die diesjährige Herbstausstellung des Landesmuseums «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz». In einem ersten Teil bietet die Ausstellung den Besucher:innen anhand von «Objekten, Biografien und Kunstwerken» einen Einblick in die vielfältige koloniale Vergangenheit der Schweiz und stellt bei jedem Themenbereich die Frage: «Was hat das mit heute zu tun?». In einem zweiten Teil werden aktuelle kontroverse Debatten in Zusammenhang mit dem postkolonialen Schweizer Erbe behandelt.

Unter der schräg abfallenden Decke des nüchternen Beton-Erweiterungsbaus befindet sich der erste Ausstellungsteil mit seinen elf Themenbereichen. Weisse Trennmauern umgeben diesen ersten Teil und weisen dem Publikum den Weg durch die verschiedenen Themen. Davor stösst man auf eine kurze, allgemein gehaltene Einführung ins Thema des Kolonialismus, die eurozentristische Sichtweisen in den Mittelpunkt stellt – eine zentrale Problematik des Untersuchungsfeldes.

Bern, Zürich und 250 Unternehmen am Sklavenhandel beteiligt

Durch einen grosszügigen Torbogen wird das Publikum nun zum ersten Themenbereich geleitet: die Sklaverei. Hier fällt eine zentral platzierte, mit goldenem Licht beschienene Vitrine auf, in welcher Baumwollzweige stehen. Die Verknüpfung dieses Sklaverei-Symbols mit der Schweiz verfängt: 250 Schweizer Unternehmen, aber auch die Städte Bern und Zürich, waren direkt oder indirekt am Sklavenhandel beteiligt. Die Ausstellung macht mittels ihrer Gestaltung von Beginn an klar, um was es geht: eine unverblümte Kolonialismus- und Verflechtungsgeschichte.

Bild: Landesmuseum Zürich

Die Themenbereiche werden jeweils mit einer violetten Wand abgeschlossen, auf der die Frage «und heute?» steht. In Form von auf Bildschirmen abrufbaren Monologen ordnen Expert:innen die Aktualitätsbezüge ein. Diese Einordnungen verdeutlichen die vielschichtigen Komplexitäten des Themas. 

Die Komplexität des zweiten Themas «Handel» wird in einer bereitgestellten Radiodiskussion aufgegriffen, die sich dem Einfluss des Kolonialwarenhandels auf den heutigen Schweizer Wohlstand widmet. Die Ausstellung vermeidet eine klare Antwort auf diese zentrale Frage aus gutem Grund: Die fehlende Institutionalisierung des Schweizer Kolonialismus erschwert einheitliche und umfassende Untersuchungen – die Schweiz, der klassische Sonderfall.

Sinnbilder imperialer Macht

Die schräg abfallende Decke nähert sich den weissen Trennmauern stetig bis zum Themenbereich «Experten». Dort befindet sich in einer besonders zentral platzierten Vitrine jener Tropenhelm, der auch auf dem Ausstellungsplakat abgebildet ist. Dieser diente den Kolonialherren – und -frauen – hauptsächlich zum Zweck der Abgrenzung von der indigenen Bevölkerung. Diese Abgrenzung von den Anderen stellte einen zentralen Charakterzug des Kolonialismus dar und mündete im Rassismus, der sich in den Kolonien herausbildete. Der Tropenhelm als «Sinnbild imperialer Macht» markiert mit seiner zentralen Platzierung den Übergang zu den Themenbereichen «Wissenschaft» und «Rassismus». Hier zeigt sich, dass es der Ausstellung gelingt, Gestaltung und Inhalt auf subtile Weise zusammenzuführen und damit einen bleibenden Eindruck zu erzeugen.

«De chli Pflanzer», Bild: Landesmuseum Zürich

Die inhaltlich-gestalterische Kraft bleibt auf hohem Niveau. Die nun schräg ansteigende Decke vergrössert den Raum, die weissen Trennmauern sind hoch und imposant; es scheint sich dem Publikum ein zweiter Teilbereich zu eröffnen. Dort verarbeitet die Künstlerin Deneth Piumakshi mit einer Selbstdarstellung die von der «Zürcher Schule» massgeblich beeinflusste Rassenanthropologie. Anhand von Körperteilen von Vorfahren Deneth Piumakshis waren pseudowissenschaftliche Untersuchungen angestellt worden. Als halb bekleidete Wachsfigur hält die Künstlerin einen Schädel in der Hand – ein Anblick, der zu denken gibt. Mit dieser Selbstdarstellung ihres nackten Körpers erlangt die Künstlerin die Selbstbestimmung über ihre koloniale Geschichte zurück. Dies ist eines von vielen Beispielen dafür, wie die Ausstellungsmacher:innen den vom Kolonialismus Betroffenen eine Stimme geben. Eurozentrische Stolperfallen werden vermieden, indem aufgezeigt wird, dass die Sichtweisen und Handlungsspielräume von Kolonialisierten und deren Nachfahren konstitutiv für ein Verständnis des Post-Kolonialismus sind.

Widerstandskunst: Ein Tiger frisst einen britischen Soldaten auf. Bild: Landesmuseum Zürich

Der Bezug zur Gegenwart

Mit dem gegenwartsbezogenen Thema der «Dekolonisierung» endet der erste Ausstellungsteil. Die Besucher:innen können die weissen Trennmauern hinter sich lassen und im nächsten Abschnitt der Ausstellung eine virtuelle Podiumsdiskussion verfolgen, in der Expert:innen den Umgang mit aktuellen kontroversen Debatten im Zusammenhang mit dem post- kolonialen Schweizer Erbe erörtern. Damit leistet das Landesmuseum einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Schweizer Kolonialismus- und Verflechtungsgeschichte.

Kurz und gut: Den Besuch von «kolonial – Globale Verflechtungen der Schweiz» kann ich wärmstens empfehlen. Die Ausstellung bietet einem breiten Publikum Gelegenheit, sich der vielschichtigen Schweizer Verflechtungen in die transnationale Geschichte des Kolonialismus bewusst zu werden, einen unverblümten und neuartigen Blick auf die Schweizer Gesellschaft zu erhalten und sich dem heiklen Thema des kolonialen Schweizer Erbes anzunähern. Und nun zum Schluss noch eine speziell an die Historiker:innen gerichtete Anregung: Durch die vielen aufgezeigten Forschungslücken lädt die Ausstellung dazu ein, einen weiterführenden geschichtlichen Beitrag zum bisher vernachlässigten Thema der postkolonialen Schweiz zu leisten.

Literaturempfehlungen:

Falk, Francesca; Lüthi, Barbara; Purtschert, Patricia (Hg.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien, Bielefeld 2012. (online Verfügbar)

Schweizerisches Nationalmuseum (Hg.): Kolonial: globale Verflechtungen der Schweiz, Zürich 2024. (Katalog zur Ausstellung)