Ende letzter Woche ist publik geworden: der Bundesrat möchte in der Verordnung zum neuen Nachrichtendienstgesetz die Schutzfristen des Bundes für Akten des Nachrichtendienstgesetzes von 50 auf 80 Jahre erhöhen. Was bedeutet das für Historikerinnen und Historiker? Der etü fragte bei Georg Kreis nach, dem Mann, der in der Fichen-Affäre an vorderster Front gegen die Aktenvernichtung kämpfte.
Etü: Wie schätzen Sie die Bedeutung der geplanten Verlängerung der Schutzfristen für die historische Forschung ein?
Georg Kreis: Es ist ein unverschämter zusätzlicher Einschränkungsversuch – allerdings von beschränkter Tragweite. Wenn «wir» als HistorikerInnen uns darüber empören, könnten wir dem Missverständnis Vorschub leisten, dass die Tätigkeit des Geheimdienstes in jedem Fall von ausserordentlich hoher Bedeutung an sich und darum auch für die Geschichtswissenschaft ist. Angesichts des Reichtums der Auseinandersetzung mit unserer Geschichte geht es da eher um einen Randbereich. Vieles, was wichtig ist, liegt frei zugänglich vor uns und wartet nur darauf, untersucht, aufbereitet und dem heutigen Verständnis zugeführt zu werden. Entschieden inakzeptabel ist aber, dass eine Gesetzesvorlage, über die abgestimmt wurde, sozusagen auf dem Schleichweg massiv verschärft werden soll. Als Bürger oder Bürgerin sollte man das beanstanden.
Bisher gilt für Geheimdienstakten eine Frist von fünfzig Jahren. Halten Sie diese Regelung für sinnvoll?
Es entspricht der Natur der Geheimdienste, dass sie ihr Tun möglichst geheim behalten wollen. Das beginnt schon damit, dass gewisse Aktivitäten wenn möglich überhaupt keine Spuren hinterlassen sollen. Diesbezüglich sollten wir uns keine Illusionen machen. Für die innere Organisation solcher Dienste ist dann aber doch so etwas wie eine unfreiwillige Spurenproduktion nötig. Und diese kann kompromittierend sein. Nicht umsonst hat der Nachrichtenchef Oberst Regli 1999 Akten vernichten lassen. Das war eigentlich weniger skandalös als die Tatsache, dass er deswegen vom Bundesrat nicht sanktioniert wurde.
«Ein offizieller Einspruch der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte wäre sicher angezeigt»
Denken Sie, Historiker sollten sich stärker politisch engagieren? Wenn ja, wie?
Ich hoffe, dass die wissenschaftliche Arbeit von Historiker/innen immer politisch relevant ist. Man sollte sich im eigenen Werk- und Wirkungsbereich immer engagieren. Dazu kann beispielsweise neben einem Engagement für tragbare Studiengebühren und Studienmobilität auch der Einsatz für einen möglichst freien Zugang zu öffentlichem Archivgut gehören. Als Veteran kann ich sagen, dass wir 1973 mit einer Petition für die Reduktion der Sperrfrist von 50 auf 30 Jahren gekämpft haben. Und im konkreten Fall wäre ein offizieller Einspruch der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte (SGG) sicher angezeigt. Andererseits muss man unresigniert anerkennen, dass hier zwei Kulturen aufeinander prallen: eine Kultur der maximalen Intransparenz gegen die Kultur einer maximalen Transparenz. Es ist nicht primär die Aufgabe der Historiografie, zeitverschobene Kontrollen der Geheimdienste zu betreiben, da ist in der Jetzt-Zeit vielmehr ein strenge Kontrolle durch parlamentarische Gremien gefordert.
Sie waren von 2000 bis 2005 Präsident der Leitungstruppe des Nationalen Forschungsprogramms «Beziehungen Schweiz-Südafrika». Das erklärte Ziel der Gruppe bestand darin, die Beurteilung der schweizerischen Südafrikapolitik während der Apartheid auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen und damit einen Beitrag für die künftige Gestaltung der schweizerischen Aussenpolitik zu leisten. Unter den Beständen, die gemäss der neuen Regelung für weitere 30 Jahre gesperrt würden, befinden sich womöglich brisante Dokumente zu den Beziehungen zwischen der Schweiz und dem südafrikanischen Apartheid-Regime. Halten Sie diese Vermutung für zutreffend? Und wieso denken Sie, möchte der Bundesrat diese Dokumente vor Forschung und Öffentlichkeit geheim halten?
Hinter der Verschärfung der Sperrklausel steckt meines Erachtens nicht die Absicht, den unverfrorenen Umgang mit dem Apartheid-Regime im Dunkeln zu halten. Zur Zeit würden mit der Rückdatierung der Sperrfrist von 1967 auf 1937 keine Südafrika-Akten der Einsicht entzogen, die Apartheid ist ein Thema der Zeit nach 1945. Man könnte freilich sagen, dass es zum Beispiel in 50 Jahren, also im Jahr 2067, dann doch um eine Aktensperre bis 1987 ginge, also eine heisse Phase der Südafrikageschichte. Aber so weit denkt auch der Nachrichtendienst nicht voraus. Wahrscheinlicher ist doch die abgegebene Erklärung, dass man dies aus Rücksicht auf die Partner-Geheimdienste tue. Diese transnationale Brüderlichkeit ist an sich ein Problem, weil sie zeigt, wie sehr da eine eigendynamische Kooperationspraxis am Werk ist, welche die nationalen Rechtssysteme im Bedarfsfall unter Zugzwang stellt.
«Vieles, was wichtig ist, liegt heute frei zugänglich vor uns und wartet darauf, untersucht, aufgearbeitet und dem heutigen Verständnis zugeführt zu werden.»
Vermuten Sie weitere brisante Dokumente unter denjenigen, die uns jetzt noch für weitere 30 Jahre vorenthalten werden sollen?
Wenn einem etwas vollständig entzogen ist, hat man keinen Grund es zu vermissen, es sei denn man kultiviere einen grundsätzlichen Urverdacht. Man müsste schon eine definierbare Lücke vermuten, damit man die Ränder vom Erschliessbaren zum Verborgenen überhaupt wahrnimmt. Weil diese Dringlichkeit im Moment fehlt oder einfach nicht gesehen wird, sollten wir unsere Energie auf den erschliessbaren Reichtum der gegenwartsrelevanten Beschäftigung mit dem Historischen konzentrieren.