Ende der 1990er-Jahre war Zürich sogar in Berlin berüchtigt für seine wilden Partys. Eine Geschichte davon, wie der Technorausch von Detroit nach Zürich gelangte. Und was die bewegte Jugend der 80er-Jahre dazu zu sagen hatte.
Dunkle Räume, schnell aufblitzende Lichteffekte und dröhnende Bässe. Menschen, die in Ekstase zu tiefen Bassdrum-Schlägen und gelegentlich auftauchenden Melodien tanzen. Strobo-Lichter lassen vereinzelt die Gesichter der Feiernden aufleuchten, die zum Rhythmus der Musik umherspringen. Zürichs Techno-Clubs sind gut besucht und erfreuen sich grosser Beliebtheit. Das Partyverhalten in Techno-Clubs unterscheidet sich derweil von anderen Clubs. Denn elektronische Tanzmusik funktioniert anders als gängige Lieder: Techno ist eine musikalische Langstrecke, meist ohne Refrain. Die Lieder werden auch Tracks genannt und sind auf übergangsloses Tanzen ausgelegt. Techno ist ein ultimatives Rauscherlebnis, da man durch die Musik in eine Art Flow oder Trance versetzt wird.
Diese Rauscherlebnisse sind zum festen Bestandteil des Alltags vieler Menschen geworden. Das Feiern im Club kann ein Übergangsritual zum Geburtstag oder nach dem Abschliessen von Prüfungen darstellen. Partymachen stellt eine Belohnung dar, wenn man etwas Ausserordentliches geleistet, Mühen überstanden hat oder sich einfach mal wieder etwas gönnen möchte. Es wird aber auch gefeiert, um im Schutz der Nacht dem enormen Leistungsdruck des modernen Alltags zu entfliehen. Das Nachtleben ist schon lange auch zu einem Schauplatz für die Persönlichkeit, geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen geworden. Es ist ein Raum, in welchem die Normen der Gesellschaft hinterfragt und ausgelotet werden können.
Um die Anfänge des Technos zu verstehen, muss man den Blick nach Detroit um 1988 richten. Crack, Beschaffungskriminalität, kaputte Infrastruktur: Das ist die ruinöse Kulisse, vor welcher der Techno entstand. Der Untergang der Autoindustrie in Detroit bedeutete auch den Niedergang der ehemaligen Autometropole. Vorreiter der ersten Stunde in Sachen elektronische Musik war ein afroamerikanischer Radio-DJ namens Electrifying Mojo, der in der Innenstadt der Motor City erste Shows der wummernden, textlosen Musik veranstaltete. Es ist aber Juan Atkins, der als der Erfinder des Detroit-Techno gilt und der Musikrichtung den Namen gab. 1988 erschien in England ein Album mit dem Titel «Techno: The New Dance Sound of Detroit». Darauf: «Techno Music» von Model 500, wie sich Atkins als Produzent nannte. Damit war der Name des Genres geboren.
Atkins gehört mit Derrick May und Kevin Saunderson zur ersten Generation von Detroit-Techno-Produzentinnen. Besser bekannt sind die drei unter dem Namen «The Belleville Three». Mit dem futuristischen Sound träumten sie, wie viele andere in Detroit, von einer besseren Zukunft. Techno machte die Härte der Stadt erträglich. Er versetzte die ehemaligen Industriehallen in Schwingung und vermochte es somit, ein Gefühl der Resonanz mit der heruntergekommenen Umgebung zu erzeugen. Aus der Industriebrache machte der Techno eine Partykulisse. Und diese Wirkung erzeugte er nicht nur in Detroit.
Obwohl die Verhältnisse in Europa andere waren, entwickelte sich der Techno auch dort zu einem Ort der Realitätsflucht. Berlin wurde zum Einfallstor für den Techno aus Detroit. So entstand die Grundlage der Musik, die heute zum globalen Clubstandard geworden ist. In Deutschland ist der Techno dabei auf besonders fruchtbaren Boden gefallen, weil sein Aufkommen mit der Wendezeit zusammenfiel. In einer Zeit von Demonstrationen und Mauerfall war die Jugend bereit für Musik ohne Worte und Ballast. Zudem brauchte es für die Technopartys viel Platz. Fast alle Clubs lagen im Osten der Stadt, in der ehemaligen DDR. Es wurde Nutzen aus den unklaren Besitzverhältnissen gezogen, die dort herrschten. Wohnungen von geflüchteten oder ausgereisten DDR-Bürgerinnen oder ehemals jüdischer Besitz, der durch die Nazis enteignet und in der DDR verstaatlicht worden war, dienten nun als Partygelände. So sind Ostberlin und Westberlin in den Technoclubs erstmals wieder so richtig aufeinandergetroffen.
Die Clubkultur in Berlin entstand also aus einer historisch einmaligen Situation. Die politischen Umstände in Deutschland dieser Zeit zeigen auf, welche soziale Relevanz Partys einnehmen können. Sie stellen einen Ort dar, an dem verschiedenste Gruppierungen von Menschen zusammenkommen können. Techno wurde deshalb zum Soundtrack der deutschen Wiedervereinigung. Er radierte soziale Unterschiede aus und versetzte Feiernde in eine körperliche Trance, durch welche sie der Härte der Realität für einige Zeit entfliehen konnten. Ein Rauscherlebnis, welches in den 90er-Jahren für viele essenziell wurde und bis heute nicht verschwunden ist.
Eine musikalische Revolution also, die gekommen war, um Grenzen zu sprengen, Leute wachzurütteln und den Rausch zu zelebrieren. Auch in der Schweiz war die Technowelle immer weniger zu überhören: Dabei gehörte vor allem Zürich zu den Städten, die den Techno früh aufnahmen. Sogar in Berlin erzählte man sich von den ausschweifenden Zürcher Afterhours, die man Ende der 90er-Jahre in der deutschen Hauptstadt so noch nicht kannte. Dass Zürich in dieser Zeit zum Partymekka aufsteigen konnte, hat unterschiedliche Gründe: Durch die Liberalisierung des Gastronomiegesetzes wurde in den 90er-Jahren die Sperrstunde aufgehoben. Viele internationale DJs legten auch deshalb in der Schweiz auf, weil hier hohe Gagen bezahlt wurden.
Ursprünglich waren die Technopartys einmalige Veranstaltungen in vorübergehend freistehenden Kellern und Lagerhallen. Und oftmals wurden die Underground-Partys auch illegal durchgeführt. Dabei weckte die neue Jugendkultur nicht nur Euphorie, sondern stiess bei ihrer Vorgängerin auch auf heftigen Widerstand: Dass man sich ohne politisches Engagement dem Rausch hingab und sich vergnügte, hatte bei der bewegten Jugend der 80er-Jahre noch als Sünde gegolten. So kam es im Zürcher Nachtleben auch immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den Raverinnen und den ein paar Jahre älteren Anhängerinnen der Jugendbewegung. Dabei löste die Technogeneration genau das ein, was zuvor die Jugendbewegung der 80er gefordert hatte: Sie holten sich den Spass und die Lebensfreude in die Stadt zurück und schufen sich urbane Freiräume. Die Disco- und House-Musik hatte dabei ihren Hintergrund in Black- und Queer-Communities. Dadurch wurde die Clubkultur zu einem Raum, in dem sich neue Vorstellungen von Körperlichkeit und neue Geschlechterbegriffe entwickeln konnten.
So etablierte sich in der Schweiz trotz Widerständen eine Clubszene, die fortan regelmässig Techno-Events durchführte. In den Nullerjahren wurde diese Clubkultur immer grösser und damit auch die Partys. Dadurch nahm zudem der Konsum von Partydrogen zu. Ganz nach dem Motto: länger Tanzen = mehr nehmen.
Und auch heute noch ist der weit verbreitete Konsum von Partydrogen in Clubs kein Geheimnis. Jedoch geht es in der Technokultur nicht hauptsächlich um den Drogenkonsum: Dieser stellt nur einen Aspekt davon dar. Ich würde Techno generell nicht als Drogen-Kultur verstehen. Vielmehr ist es eine Musik-, Tanz- und Jugendkultur, von der jedoch ein Teil ihrer Mitglieder den Konsum bestimmter Drogen für sich intentional adaptiert hat.
Die heutige Zürcher Clubszene ist umstritten. Unumstritten ist jedoch der Kultstatus der jährlich stattfindenden Street Parade. Diese hatte in den Anfängen der Zürcher Clubkultur insofern einen grossen Symbolwert, als dass die Kellerkultur Techno plötzlich inmitten der Zürcher Innenstadt am helllichten Tag für die gesamte Öffentlichkeit sichtbar tanzte. 1992 fand die erste Zürcher Street Parade statt. Heute gilt sie als grösste Technoparty der Welt. Sie steht für Liebe, Frieden, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz und zieht jeweils gegen eine Million Besucher*innen an. Die Zürcher Technokultur steht auch auf der Unesco-Liste der gelebten Schweizer Traditionen. Darüber, ob Zürich dieses Label noch verdient, ist man sich aber nicht ganz einig. Es gibt Stimmen, die meinen, dass die inspirierende Energie der Nullerjahre abhandengekommen sei. Dass der Techno früher frischer und unverbrauchter war. Auch über die Kommerzialisierung, die Gentrifizierung oder die Regulierung der Clubkultur lässt sich lamentieren. Es gab mehr Freiräume und weniger Reglemente in den Städten in den Zeiten des frühen Technos. Auf der anderen Seite ist die Musik vielfältiger geworden. In den 90er-Jahren hatten die DJs weniger Auswahl an Tracks, da sie nicht so viele Platten zur Verfügung hatten. Heute sieht die Situation ganz anders aus und es ist sehr beeindruckend, wie manche DJs auflegen. Auch durch die Pandemie hat die lokale Szene wieder Aufwind bekommen.
Den Höhepunkt hatte die Schweizer Technokultur wohl Anfang der Nullerjahre mit der Dachkantine, die zu den prägendsten Technoclubs Europas gehörte. Mit dieser hat sich über den Dächern von Zürich in den Jahren 2003 bis 2006 das vielleicht grösste Klubwunder für elektronische Musik ereignet, welches die Zwingli-Stadt bis dahin erlebt hatte. Aber auch heute noch kann man in Zürcher Clubs wie der Zukunft oder dem Hive im Rausch des Technos dem Alltag entfliehen und einfach mal die Sau rauslassen.
Ein Online-Archiv für die Schweizer Clubszene
Die Website clubculture.ch ist eine Initiative des Vereins ClubCultureCH. Dieser besteht aus einem Team von Journalistinnen, Wissenschaftlerinnen und Kulturschaffenden. Mit ihrem Projekt wollen sie die Geschichte und Geschichten der Schweizer Clubs und des Nachtlebens aufarbeiten. Auf ihrer Website findet sich eine tolle Sammlung mit Fotos, Flyern, Plakaten und Storys zu den Anfängen der Schweizer Clubkultur. Auch zwei Bilder in diesem Artikel stammen aus der Sammlung des Projekts. Die Website entsteht in Partnerschaft mit dem Schweizerischen Sozialarchiv, Radio Télévision Suisse (RTS), der Hochschule der Künste Bern (HKB), der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und der Roten Fabrik Zürich.