1947 ereignet sich im Berner Oberland ein beispielloses Munitionsunglück. Die Gefahr einer weiteren Explosion wird jahrzehntelang unterschätzt. 70 Jahre später wird der Fall nun wieder aktuell – und er zeigt, wie sich die Rolle der Armee über die Jahrzehnte gewandelt hat. Eine Geschichte in fünf Kapiteln – und als Video.
Es war ein gewaltiger Knall. Schätzungsweise 3’500 Tonnen Munition gingen in der Nacht auf den 20. Dezember 1947 im Munitionslager Mitholz im Kandertal, Kanton Bern, in die Luft. Der Stollen wurde während des Zweiten Weltkrieges von der Schweizer Armee im Berg angelegt, um sich im Fall einer militärischen Bedrohung rasch und effektiv auszurüsten. Damit die besagte Munition schneller einsetzbar war, wurde ein Teil der Sprengsätze und Granaten gemeinsam mit ihren Zündern gelagert – ein Faktor, der massgeblich zur Stärke der Explosion beigetragen hatte. Ebenso begünstigte die Grösse der Anlage das Ausmass des Unglückes, denn – wie im Nachhinein in der gerichtsmilitärischen Korrespondenz festgehalten wurde – «muss zugegeben werden, dass beim Bau unserer Munitionslager Fehler begangen wurden». Eine grössere Anlage mit Verladestollen sei günstiger und einfacher wartbar gewesen, und habe mehr Munition an einem Ort bündeln können – mehr Munition, die aufs Mal in die Luft gehen konnte.
Die Explosion war so stark, dass sie den Felsvorsprung bei Mitholz zum Einsturz brachte. Selbst in Zürich – knapp 120 Kilometer entfernt – wurden noch Erschütterungen registriert. Zeitzeugen erzählen heute noch, wie der Berg neben dem Dorf «Feuer gespeit» habe, und die Bewohnerinnen und Bewohner von Mitholz mitten in der Nacht, teils nur im Pyjama, in die winterliche Kälte geflohen seien. Die NZZ berichtete zwei Tage später: «Die winterliche und weihnachtliche Ruhe, die bereits in die Bergtäler eingezogen ist, wurde im Berner Oberland in der Nacht auf Samstag unheilvoll gestört.»
Unheilvoll, weil das gesamte Dorf durch das Unglück verwüstet wurde. Unheilvoll, weil dabei neun Menschen ums Leben kamen. Und nicht zuletzt unheilvoll, weil die Armee in den Untersuchungsergebnissen zwei Jahren nach dem Vorfall festhielt, dass das Risiko der verbleibenden Munition nicht unterschätzt werden dürfe: «Die wesentlichste Erkenntnis dabei ist wohl die, dass man die Munition nicht als unbedingt sicher betrachten darf».
Umfassende Massnahmen zur Sicherung der besagten Restmunition wurden allerdings keine getroffen. Zwar wurde das verschüttete Lager soweit als möglich geräumt und nicht weiter genutzt, doch schätzte man die verschüttete Restmunition noch auf ca. 3’500 Tonnen. Das Dorf Mitholz wurde in der Folge wiederaufgebaut, sass aber sprichwörtlich auf einem Pulverfass. Die Bevölkerung lebte im Wissen um diese schlummernde Munition, wie gefährlich diese aber war, blieb im Dunkeln – und der Schlussbericht von 1949 unterlag bis Sommer 2018 der Geheimhaltung. «Wir haben schon früher gewusst, dass da noch Munition im Berg liegt», meint der heute 76-jährige Christian Trachsel, damals wie heute Einwohner von Mitholz. Aber an könne nichts dagegen machen. «Sonst machst du dich ja gäng kaputt, wenn du da noch viel studierst und nicht mehr schalfen kannst.» Die Mitholzer haben sich über die vergangenen Jahrzehnte an die Situation gewöhnt, passiert ist bisher nie etwas.
1986 wurde die Mitholzer Anlage wieder in Betrieb genommen. Zwar nicht mehr als Munitionslager, sondern als Truppenunterkunft und Armeeapotheke. Zuvor hatten die zuständigen Armeekader die alten Berichte konsultiert und eine knappe Neubeurteilung vorgenommen. Teile der Anlage dürften nicht ohne Aufsicht von Munitionsexperten betreten werden, doch in designierten Bereichen sei eine Nutzung ohne Risiko gewährleistet, hiess es im Bericht der Gruppe für Rüstungsdienste vom 14. Februar 1986. Konkrete Sicherheitsmassnahmen wurden keine empfohlen – mit einer Ausnahme: «Die morsche Leiter auf dem ‘Fluchtweg’ sollte entfernt werden.» Abgesehen davon, so die Armee, sei keine Gefährdung der Anlage zu erwarten. Diese Lappalie konnte 1986 rasch behoben werden. Das damalige Verhalten erscheint jedoch fragwürdig, wenn man die Ereignisse der letzten zwei Jahre in Betracht zieht.
Ende 2017 plante das Militärdepartement VBS, in der Mitholzer Anlage ein Rechenzentrum der Armee einzurichten. Dazu wurde erstmals seit 1949 ein umfassender Bericht verfasst und eine ausführliche Risikoanalyse vorgenommen – der Bericht von 1986 hatte nämlich trotz der Benennung von Risikobereichen keinerlei konkrete Aufschlüsse über den effektiven Zustand der Munition und das mögliche Risiko geliefert, das von ihr ausging. Erst die neue Risikoanalyse sollte nebst einer historischen Untersuchung der bestehenden Berichte auch neue Proben und Kontrollen der Anlage berücksichtigen.
Als die Untersuchungen für das Rechenzentrum im Frühling 2018 noch in vollem Gang waren, kam der Schlag. Die Gefahr sei erheblich grösser als bisher angenommen, denn «die zulässigen Grenzwerte sowohl für das kollektive wie auch das individuelle Risiko werden zum Teil massiv überschritten», sie fallen «in den nicht akzeptablen Bereich» wie der Zwischenbericht vom 27. April verlauten liess. Es wurden Sofortmassnahmen eruiert, die Armeeapotheke und die Truppenunterkunft geräumt. An ein neues Rechenzentrum war an diesem Ort nicht zu denken. Die Mitholzerinnen und Mitholzer wurden vom Bundesrat und damaligen Verteidigungsminister Guy Parmelin persönlich vor Ort informiert. Man riet ihnen, sich für den Ernstfall im Keller mit Notvorräten auszustatten. Und man versicherte der Bevölkerung, mit Hochtouren an einer Lösung des Problems zu arbeiten. Es wurde eine Arbeitsgruppe einberufen, die sich vollumfänglich der Munitionssicherung widmen sollte. Sie ist bis heute an der Arbeit.
Ganz einfach ist die Arbeit aber nicht, wie Brigitte Rindlisbacher, Leiterin der Arbeitsgruppe, kommentiert: «Die Hauptschwierigkeit ist die Sicherheit; dass man eine Variante findet, sodass wir die Sache sicher räumen können. Eine andere Schwierigkeit ist natürlich, dass wir es zuerst genau lokalisieren müssen.» Man wisse in etwa, um wie viel Munition es sich handelt, aber wo sich diese im verschütteten Stollen befindet, das sei schwieriger zu bestimmen. Bei einer allfälligen Räumung träten noch zwei weitere Probleme auf: Einerseits stelle das Lager in Mitholz im internationalen Vergleich einen einzigartigen Fall dar, bei dem selbst Experten aus dem Ausland keine oder nur wenige Vergleichswerte in ihre Evaluation einbeziehen könnten. Zudem beinhalte die Problematik eine paradoxe Konstellation: Die Munition ist zwar gefährlich, die Wahrscheinlichkeit einer Zündung steigt aber erst dann erheblich, wenn sie manipuliert wird – wenn also etwa Räumungsarbeiten unternommen werden.
Bis Sommer 2020 soll eine Hand voll konkreter Varianten dafür ausformuliert werden, wie das Problem behoben werden könnte. Die vollständige Räumung des Lagers ist eine davon, auch wenn dies höchstwahrscheinlich nicht möglich sein wird. Genau das sorgt in der Bevölkerung für Unmut. Gemeindepräsident Roman Lanz lässt verlauten: «In der Bevölkerung ist es täglich ein Thema, während der Arbeit, in der Freizeit, zur Essenszeit. Das belastet natürlich schon etwas. Und wir werden nicht Ruhe geben, bis wir von der Chefin vom VBS, ein klares Statement haben, dass, wenn eine Möglichkeit dazu besteht, auch wirklich eine Räumung anvisiert wird.» Zudem hält die Bevölkerung an der Maximalforderung einer kompletten Räumung fest. «Da dürfen wir auch nicht lockerlassen.»
Dass die Bevölkerung diese Maximalforderung stellt, ist seitens des VBS nachvollziehbar. Hanspeter Aellig ist ebenfalls Teil der Arbeitsgruppe Mitholz. Zur Stimmung in der Bevölkerung meint er: «Ich habe für jede Beunruhigung vollstes Verständnis, allerdings konnten wir in den letzten Monaten ein sehr gutes Vertrauensverhältnis aufbauen. In diesem Sinne spüre ich kein grosses Unsicherheitsgefühl.» Dennoch gebe es Fragen, zu denen man die richtigen Antworten geben müsse. Fragen wie: Warum hat man das Problem 70 Jahre lang nicht erkannt? Warum schreitet die Arbeit an der Evaluation möglicher Lösungen nicht schneller voran?
Es gibt einige Unstimmigkeiten, vor allem was die geschichtliche Aufarbeitung des Vorfalls anbelangt. Beispielsweise erstaunt es schon, wenn man heute im Dorf Geschichten aus den 1950er-Jahren hört, in denen Kinder, die im Wald neben dem Dorf Blindgänger und andere Munitionsreste fanden, diese ins Lagerfeuer warfen und warteten, bis sie explodierten. Wie kann es da sein, dass lange Zeit niemand eine mögliche Gefährdung der Bevölkerung genauer untersuchte?
Auf diese Fragen liefert das VBS auch heute keine ganz zufriedenstellenden Antworten. Einiges wird wohl selbst für die Armee nicht durchwegs nachvollziehbar sein, aber immerhin wurden im Sommer 2018 sämtliche relevante Dokumente und Archivalien entklassifiziert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mit dieser Transparenzoffensive hat das Departement Vertrauen geschaffen – und sich für die ganze Panne mit ihren enormen Ausmassen weniger angreifbar gemacht. Alles, was über die Jahrzehnte unter den Tisch gekehrt wurde, ist nun öffentlich. Man habe keine andere Wahl gehabt, als so zu handeln, heisst es beim VBS. Denn das Problem belastet auch das Departement selbst. Nebst enormem finanziellem Aufwand geht es auch um den Ruf der Armee.
Die Explosion von 1947 und das lange Schweigen der Armee zur schlummernden Gefahr zeigen eines auf: Wo das VBS (damals noch als EMD – Eidgenössisches Militärdepartement) unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Angelegenheit noch mehr oder minder unter den Tisch kehren konnte, kann es heute nicht mehr länger schweigen. Christian Trachsel meint auch: «Die Armee hatte damals anderes zu tun. Sie haben das Ganze schon einfach zugemauert und nichts gemacht. Das ist so.» Heute wäre das kaum mehr denkbar. Die frühere (Nicht-)Behandlung des Problems und die späte Transparenzoffensive zeigen exemplarisch, dass das VBS heutzutage im Umgang mit Fehlern nicht mehr einfach freie Hand hat, sondern sein Handeln gegenüber der Öffentlichkeit legitimieren muss. Nicht nur Abstimmungen über Kampfjets und rückläufige Zahlen der Armeeangehörigen zeigen dies auf. Sondern auch der Umgang mit der Munitionsaltlast aus dem Zweiten Weltkrieg.
Wie das Problem allerdings endgültig gelöst werden kann und ob es effektiv zur erhofften Totalräumung kommen wird, ist momentan noch offen. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Mitholz werden aber noch eine ganze Weile mit den explosiven Überresten einer vergangenen Zeit vor ihrer Haustür leben müssen.
Grundlage für diesen Artikel lieferte eine Recherche im Rahmen eines Praktikums beim Schweizer Fernsehen. Relevante Dokumente und Archivalien sowie weitere Auskünfte zu den laufenden Arbeiten der Arbeitsgruppe Mitholz sind auf der Website des VBS zu finden.