Erst 26 Jahre alt und schon Kolumnistin beim Tages-Anzeiger: Nina Kunz hat vor drei Jahren ihren Master abgeschlossen und verdient ihr Geld nun mit Schreiben – zum Beispiel darüber, wie wir uns während der Covid-19-Quarantäne in Geduld üben. Doch was nach einer linearen Erfolgsgeschichte klingt, fühlt sich für sie nicht immer so an. Das Gespräch über Unsicherheit nach dem Studium, Feministinnen der 1970er-Jahre und Rezepte gegen Schreibblockaden führten im Dezember Livia Merz und Nuria Piller.
etü: Im Magazin des Tages-Anzeigers schreibst du alle zwei Wochen eine Kolumne mit dem Titel «Lexikon der Gegenwart». Sind Kolumnen nicht eher ein Alte-Männer-Format?
Nina Kunz: Ja, das mit der Kolumne ist tatsächlich lustig. Oft frage ich mich: What on earth am I doing here? Was masse ich mir an, alle zwei Wochen meine Meinung zu verbreiten? Aber dann denke ich wieder: Männer tun das seit Urzeiten und vielleicht ist es jetzt einfach an der Zeit, dass sich auch Frauen diesen Platz nehmen.
Wie bist du zu dieser Kolumne gekommen?
Nach dem Studium habe ich bei der NZZ gearbeitet und um circa vier Ecken gehört, dass Hazel Brugger beim «Tagimagi» als Kolumnistin aufhört. Dann habe ich dem Chef des Magazins geschrieben, dass ich eine Idee für eine Kolumne hätte. Er hat mich eingeladen, wir haben geschwatzt, ich habe Probetexte geschrieben – und dann habe ich die Zusage bekommen. Und dann dachte ich: Oh shit, jetzt muss ich das wirklich machen.
Und seither ist das Schreiben dein Hauptjob?
Zunächst war es das nicht. Nach dem Studium habe ich einen SNF-Antrag für eine Dissertation ausgearbeitet. Das Stipendium habe ich dann auch bekommen und für zwei Jahre an der Uni Bern als Doktorandin gearbeitet. Während der Zeit, als ich auf das Stipendium wartete, hatte ich jedoch so viele Texte geschrieben, dass mir da viele Türen aufgegangen sind, von denen ich nicht zu träumen gewagt hätte. Irgendwann erhielt ich so viele Anfragen, dass ich die Wissenschaft und den Journalismus nicht mehr unter einen Hut bringen konnte und ich mich entscheiden musste. Deshalb habe ich meine Dissertation vor Kurzem abgebrochen und konzentriere mich jetzt auf das journalistische Schreiben.
«Wenn ich eine Schreibkrise habe, habe ich nicht eine Arbeitskrise – ich habe eine Lebenskrise!»
Also kommst Du finanziell über die Runden als freischaffende Journalistin?
Ja, es geht. Aber ich kann dieses Leben nur so führen, weil ich keine Familie habe, in einer Genossenschaftswohnung lebe, fast nie in den Ausgang gehe und sehr oft Linsen-Eintopf esse. Im Schnitt verdiene ich monatlich 2‘000-2‘500 Franken.
Das ist nicht viel.
Nein. Viel Aufmerksamkeit bedeutet nicht automatisch ein hohes Einkommen. Ich will mich aber überhaupt nicht beklagen. Ich habe mir das selbst ausgesucht und ich habe freiwillig ein SNF-Stipendium aufgegeben. Dafür habe ich unglaublich viele Freiheiten. Ich fühle mich sehr privilegiert, dass ich einfach den ganzen Tag machen kann, was ich will und davon sogar noch meine Miete bezahlen kann.
Was heisst es eigentlich genau, freischaffende Journalistin zu sein?
Eigentlich bedeutet es, sowohl den Rahmen als auch den Inhalt der eigenen Arbeit zu gestalten. Das ist recht anspruchsvoll, was mir zu Beginn überhaupt nicht bewusst war. Ich muss mir immer wieder überlegen, mit welchen Zeitungen, Magazinen oder Organisationen ich zusammenarbeiten will, wie diese Zusammenarbeit aussehen soll und was ich überhaupt machen will und kann. Die administrativen Dinge beanspruchen erstaunlich viel Zeit. Zudem musste ich herausfinden, was eine Pensionskasse ist oder wie das mit der Versicherung bei Nichtberufsunfällen funktioniert. Für jeden Text muss ich eine Rechnung schreiben. Es ist alles sehr unglamourös.
Ist denn die Vorstellung, dass du deine Leidenschaft zum Beruf machen konntest, zu romantisch?
Nein, das ist schon ein grosser Teil davon. Es ist einfach mega ambivalent: Einerseits muss ich nichts machen, was ich nicht will. Ich kann aufstehen, wann ich will. Ich kann den ganzen Tag im Pyjama sein – wobei das manchmal auch nicht so gut ist… Andererseits gibt es da schon einen gewissen Druck: Wenn man mit Kreativität Geld verdient, verdient man auch nur dann etwas, wenn man einen Output hat. Und ich bin emotional immer involviert in meine Themen. Das ist zwar schön und sinnstiftend, kann aber auch ermüdend sein.
«Und wenn gar nichts mehr nützt, denke ich daran, dass wir in hundert Jahren eh alle tot sind und ich mich bitte nicht so ernst nehmen soll.»
Bekommst du Reaktionen auf deine Texte?
Mega! Ich kriege pro Tag durchschnittlich eine Reaktion. Leute, die ich nicht kenne, schreiben mir Emails, schicken selbstgemalte Postkarten und einmal habe ich sogar handgestrickte Socken bekommen, weil ich in einem Text geschrieben habe, dass ich den Herbst mag. Das ist toll!
Hat das damit zu tun, dass du oft sehr persönlich schreibst?
Ja, ich denke schon, denn seit ich so schreibe, bekomme ich wesentlich mehr Reaktionen. Früher hatte ich Hemmungen, persönlich zu schreiben. Ich denke, das hat auch mit meinem Studium zu tun, in dem ich lernte, beim Schreiben möglichst objektiv zu sein. Erst beim Wechsel in die Gender Studies im Rahmen meines Doktorats wurde mir bewusst, dass Objektivität auch ein patriarchales Konstrukt ist. Den Anspruch, neutral auf die Welt zu schauen, können nur weisse Männer erheben. Also habe ich es gewagt, persönlicher zu werden – beziehungsweise konstruiere ich für jeden Text ein «Ich», das nicht unbedingt mit der Privatperson Nina Kunz übereinstimmt, aber die Leserinnen und Leser bei der Hand nehmen und durch ein Thema führen soll.
Sind es immer positive Reaktionen?
Ja, fast ausschliesslich. Ich weiss von Kolleginnen, die sich explizit feministisch und antikapitalistisch äussern und sehr respektlose Antworten bekommen. Vielleicht werde ich verschont, weil das gedruckte Wort in einem etablierten Magazin wie dem «Tagimagi» nach wie vor Autorität geniesst, sodass einen die Leute ernster nehmen. Zudem verbiete ich es mir, auf Twitter meine Meinung kundzutun. Erstens, weil ich Angst habe vor den Hatern und zweitens, weil ich nicht auf die Schnelle Gedanken formulieren kann, die für die Öffentlichkeit taugen.
Hast du manchmal auch Schreibblockaden?
Die ganze Zeit! Das ist auch ein Problem, wenn man freischaffend ist: Wenn ich eine Schreibkrise habe, habe ich nicht eine Arbeitskrise – ich habe eine Lebenskrise!
Was machst du dagegen?
Spazieren gehen, meine Grossmutter besuchen, Ovomaltine trinken, Texte von Leslie Jamison lesen. Und wenn gar nichts mehr nützt, denke ich daran, dass wir in hundert Jahren eh alle tot sind und ich mich bitte nicht so ernst nehmen soll.
Was hat dir das Geschichtsstudium für deinen Beruf gebracht?
Das Studium war sehr wertvoll. Ich habe gelernt, widersprüchliche Gedanken gleichzeitig zu ertragen und auch, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen: z.B. was ist eine Nation? Das kann man auf alles anwenden – es ist eine Art, präzise und kritisch zu denken. Umgekehrt half mir der Journalismus auch immer für meine wissenschaftliche Tätigkeit. Das journalistische Schreiben zwingt mich, noch präziser zu denken. Denn wenn man etwas in einfacher Sprache erzählen will, merkt man erst, ob das Argument oder der Gedanke wirklich aufgeht. Texte schreiben fühlt sich für mich an wie Sudoku lösen. Manchmal geht es auf, manchmal nicht.
Du bist erst 26 Jahre alt und hast schon in diversen grossen Zeitungen publiziert. Welche Tipps würdest du einer Geschichtsstudentin geben, die auch Journalistin werden will?
Schwierige Frage… Ich kann vielleicht erzählen, wie das bei mir abgelaufen ist: Ich habe schon im Gymnasium mit dem Schreiben begonnen und dort bei der SchülerInnen-Zeitung mitgemacht – wobei das eigentlich ein richtiger Loser-Ort war. Ich war die einzige Schülerin, die da dabei war, die anderen waren alle Lehrpersonen. Während des Studiums ging ich dann zur Zürcher Studierendenzeitung (ZS). Da haben wir einfach alles selber gemacht: Geschichten konzipiert, geschrieben, redigiert, gelayoutet. Die ZS-Zeit war wegweisend für mich und öffnete mir auch Türen: Nach dem Studium bekam ich Volontariate, zunächst bei der WOZ und dann bei der NZZ. Aber mir fällt es schwer, aus meiner Geschichte irgendwelche Tipps abzuleiten. Wenn ich das so erzähle, klingen die letzten 10 Jahre nach einer grossen Erfolgsgeschichte. Auf eine Art ist das zwar so, aber gefühlsmässig ist das wieder eine andere Sache.
Man bastelt sich ja im Nachhinein auch gerne eine Erzählung einer geradlinigen Geschichte zusammen, weil man weiss, wie es herausgekommen ist.
Genau. Es hätte aber auch ganz anders kommen können und ich weiss gar nicht wirklich, welche Faktoren dazu geführt haben, dass es schliesslich so herausgekommen ist. Die ganze Zeit war geprägt von viel Unsicherheit und ist es auch heute noch. Ich habe manchmal immer noch Angst, dass meine Aufträge versiegen könnten und oft überkommen mich Zweifel, ob ich überhaupt auf dem richtigen Weg bin. Ich finde, das ist die schwierigste Aufgabe nach dem Studium: Herauszufinden, ob man auf dem richtigen Weg ist. Denn woran misst man das überhaupt? Daran, ob man glücklich ist? Oder ob andere Leute beeindruckt sind von dem, was man macht?
War es denn im Studium einfacher abzuschätzen, ob du auf dem richtigen Weg warst?
Der Weg war einfach viel mehr vorgegeben und strukturiert. Man geht von einem Semester zum nächsten, vom Bachelor zum Master. Es gibt immer wieder Feedback für die eigenen Leistungen, das einem anzeigt, ob man noch auf dem richtigen Weg ist: Man besteht eine Prüfung, man kriegt eine Note und dann vielleicht eine Hiwi-Stelle. Nach dem Studium ist plötzlich alles offen – auf diese Strukturlosigkeit war ich wirklich nicht vorbereitet! Dieses zielgerichtete Denken, das ich mir an der Uni antrainiert habe, hat mich anfangs sehr unter Druck gesetzt. Doch langsam merke ich, dass dieses Denken nicht kompatibel ist mit der Welt da draussen.
War das auch der Grund, wieso du zunächst als Doktorandin gearbeitet hast?
Ja, sicher auch. Ich hatte grosse Angst vor dieser Strukturlosigkeit. Ich habe dann aber realisiert, dass ich die Dissertation aus den falschen Gründen angefangen habe: Ich wollte mir die Feedbackstruktur der Uni aufrechterhalten. Ich habe auch gedacht, dass ich den Doktortitel brauche, damit mein Schreiben überhaupt etwas wert ist – das ist doch strange! Aber der Entscheid zum Abbruch ist mir nicht leicht gefallen, denn ich finde das Thema meiner Dissertation nach wie vor sehr interessant und wichtig.
Deine Dissertation handelte von der Wissensgeschichte der Frauengesundheitsbewegung der 1970er-Jahre. Was fasziniert dich an der Geschichte dieser Feministinnen, die Frauenkliniken gründeten, Handbücher über den weiblichen Körper veröffentlichten und gynäkologische Selbstuntersuchungen durchführten?
Ich bin per Zufall auf ein 1981 erschienenes Buch über die Anatomie des weiblichen Körpers gestossen. Ich habe mir das angeschaut und dachte nur: Wow, so sehen also die anatomischen Modelle von meinen Geschlechtsteilen aus – I had no idea! Dann begann ich zu recherchieren. Die Frage nach der Verknüpfung von Wissen und Macht drängte sich dabei auf. Dass ich als scheinbar aufgeklärte Frau nicht einmal wusste, wie eine Klitoris aussieht, war für mich echt mind-blowing – obwohl die Feministinnen schon in den 1970er-Jahren eine riesige Arbeit geleistet hatten, um diese Themen zu enttabuisieren. Es ist erschreckend, wie gewisse Mechanismen einfach verharren, verharren, verharren.
«Ich finde, das ist die schwierigste Aufgabe nach dem Studium: herauszufinden, ob man auf dem richtigen Weg ist. Denn woran misst man das überhaupt?»
Heute gibt es vielleicht mehr den Anspruch, dass wir jungen, angeblich aufgeklärten und sexuell befreiten Frauen selber für unsere Bedürfnisse und Rechte einstehen, wenn uns etwas nicht passt.
Genau, und dabei ist das doch neoliberaler Seich! Das beschäftigt mich enorm – auch in meinen Texten. Heute musst du immer alles selbst herausfinden: Wie du mit Stress und Unsicherheit umgehen sollst, mit Diskriminierung. Du musst über allem stehen. Du bist selber dafür verantwortlich, Digital Detox zu machen. Nicht die Firmen, die damit Geld verdienen, maximal süchtig machende Apps zu programmieren. Die sind überhaupt kein Problem. In allen meinen Texten findet sich ein Seitenhieb gegen genau diese Denkart. Die perfekte Strategie dagegen habe ich aber auch noch nicht gefunden.
Kürzlich hast du im Zeit Magazin einen Artikel über Carol Downer publiziert – eine der Protagonistinnen der Frauengesundheitsbewegung in den 1970er-Jahren. Hast du darin das Thema deiner Diss in einem journalistischen Format verarbeitet?
Diese Reportage war eine einmalige Chance, die ich einfach nutzen musste: in die USA zu reisen, um für das Zeit Magazin zu schreiben – ein Heft mit 1,2 Millionen LeserInnen. Da sind viele Leute darunter, die sonst vielleicht nie mit dem Thema in Berührung gekommen wären. Diese Chance hat mir den Abbruch meiner Diss etwas erleichtert. Denn es ist wichtig, dass die Geschichte dieser Frauen erzählt wird, in welcher Form auch immer. Und mit dieser Reportage konnte ich dazu beitragen.
Wollen die Redaktionen eigentlich, dass du über Feminismus schreibst, oder ist das jeweils deine Idee?
Oft kommen die Redaktoren auf mich zu, weil sie merken, dass ihre Töchter anders funktionieren. Andere Themen beschäftigen sie, andere Vorstellungen von der Zukunft, vom Zusammenleben – die Eltern sind verwirrt. Der Wille ist da, jene Anliegen zu verstehen und ich als Millennial stehe irgendwie zwischen ihnen und ihren Kindern, der Generation Z. Ich denke, es ist momentan etwas in der Luft: ein Interesse an feministischen Themen und ein Interesse, dass ich darüber schreibe. Das ist absurd, aber ich mache das jetzt einfach, solange es geht.