Zürcher Geschichtsskandal oder ganz normale Auftragsforschung? Zwei Historiker streiten sich um die Erforschung der Kunstsammlung von Waffenfabrikant Emil Bührle. Heute wurde die Studie mitsamt zwei externen Gutachten veröffentlicht. Das Fazit: Entwarnung – mit ein paar Ausnahmen.
Als sich Jakob Tanner diesen Sommer über den Schlussentwurf der eben veröffentlichten Studie zur Kontextualisierung der Sammlung Bührle im Zürcher Kunsthaus beugte, stach ihm gegen Schluss eine Bemerkung ins Auge. Der Forschungsleiter der Studie, Matthieu Leimgruber, hatte angemerkt: «Cette fin est encore insatisfaisante…»
Diese Bemerkung, die Tanner in einem Bericht über das Zustandekommen der Studie zitiert, fasst dabei auch den Ausgang der Affäre um Verfälschungs- und Beschönigungsvorwürfe in diesem Forschungsprojekt treffend zusammen. Es sei, so Tanner, «deprimierend zu sehen, dass die Zusammenarbeit zwischen zwei sich fachlich ergänzenden Autoren nun im Streit blockiert ist».
Diese zwei Forscher sind Matthieu Leimgruber, Wirtschaftshistoriker in Zürich, und Erich Keller, Spezialist für jüdische Geschichte und bis Anfang 2020 Mitarbeiter beim Projekt. Sie haben die von Stadt und Kanton Zürich in Auftrag gegebene Studie im Wesentlichen verfasst.
Der Mann, um dessen Erbe sie sich nun streiten, ist Emil Georg Bührle. Bührle, der unter anderem mit Waffenlieferungen an Nazi-Deutschland sein Geld verdiente. Bührle, der dieses Geld dann wiederum in eine opulente Kunstsammlung investierte, die ab 2021 im Neubau des Zürcher Kunsthauses zu sehen sein wird. Bührle sei, so Leimgruber heute an einer Medienkonferenz, «ein Opportunist» gewesen. Er müsse jedoch im Kontext der damaligen Zeit und als Teil eines Zürcher Netzwerks in Kunst und Politik betrachtet werden, das mit rechten Ideen sympathisiert habe. Ihn als Feindbild aufzubauen – etwa anhand einer einzelnen belegten antisemitischen Aussage – verdecke wichtige Zusammenhänge.
Ein impliziter Vorwurf an Co-Autor Keller? Der hatte nämlich selbst den Vorwurf erhoben, Leimgruber habe politisch motivierte «Anregungen» seitens Vertretern der Stiftung Bührle und des städtischen Kulturdepartements «willfährig übernommen». Dadurch sei ein «verstümmelten Forschungsbericht» entstanden. «Bührle wird beschönigt» titelte in der Folge die Wochenzeitung WOZ, die den Zürcher Forschungsstreit an die Öffentlichkeit trug.
Erst die dadurch angestossene Diskussion führte dazu, dass mit Jakob Tanner und Esther Tisa Francini zwei ausgewiesene Expert*innen in der jüngeren Geschichte der Schweiz beziehungsweise der Provenienzforschung damit beauftragt wurden, externe Reviews zum Ablauf des Forschungsprojekts zu verfassen.
Diese wurden heute ebenfalls veröffentlicht. Tisa Franscini konstatiert in ihrem Review, dass das «Zerwürfnis» zwischen den beiden Forschern «dem Bericht geschadet» habe. Und Jakob Tanner schreibt, dass sich der Aufbau des Projekts – eigentlich unabhängige Forschende, die ihre Ergebnisse einem politisch besetzten «Steuerungsausschuss» zur Kommentierung präsentierten – als «Glaubwürdigkeitshypothek» erwiesen habe. Das Forschungsprojekt sei institutionell nicht komplett unabhängig gewesen – was es laut Tanner hätte sein sollen.
Das ist besonders deshalb ein Problem, weil die Reviews von Tanner und Tisa Francini auch klar festhalten, dass der Bericht insgesamt gelungen, fundiert und von hoher gesellschaftlicher Relevanz sei. Der «Pulverdampf eines Personalkonflikts», so die Formulierung Tanners, droht tatsächlich die wichtigen Fragen zu verdecken, die der Bericht aufwirft: Wie sind eigentlich all diese schönen Bilder in unsere Museen gekommen? Was hat Kunst mit Krieg zu tun? Aber auch: Was soll und kann historische Auftragsforschung überhaupt leisten?
Statt darüber wurde und wird über einzelne Eingriffe in den Text debattiert, die es teils in sich haben, aber in der Schlussversion des Berichts zumeist wieder rückgängig gemacht wurden. Das wird auch in den Reviews thematisiert: So hält Tanner etwa fest, dass die ursprünglich geplante Streichung des Begriffs «Freikorps» durch Leimgruber, wozu er von der Bührle-Stiftung aufgefordert worden sei, «der Best Practice der historischen Auftragsforschung widerspricht». Auch die Streichung der Beschreibung einer Aussage Bührles als «antisemitischer Ausfall» wird problematisiert. Nun ist im Bericht wieder von einer «antisemitischen Spitze» die Rede (siehe Box).
«Anregungen» eines politisch besetzten Steuerungsausschusses zu übernehmen ist also etwas anderes, als aufgrund wissenschaftlicher Argumente inhaltliche Veränderungen vorzunehmen: Das halten die Reviews klar fest. Noch im August hatte Simon Teuscher, Co-Vorsteher des Historischen Seminars, es als «für einen wissenschaftlichen Bericht durchaus adäquat» bezeichnet, dass Leimgruber «kritische und manchmal tatsächlich politisch gefärbte Kommentare zum Anlass [nahm], seine Formulierungen selbstkritisch zu überdenken». Wie Teuscher damals kommen nun allerdings auch die Reviews klar zum Schluss, dass von grossflächiger Zensur oder Verfälschung nicht die Rede sein kann.
Dennoch stellt sich die Frage, weshalb gewisse Veränderungen erst nach diversen Presseberichten und zwei externen Gutachten rückgängig gemacht werden konnten. Weshalb das Archiv der Sammlung Bührle erst nach der Intervention von Tanner und Tisa Francini vor wenigen Monaten konsultiert wurde. Und schliesslich, weshalb sich die Verantwortlichen an der heutigen Pressekonferenz schwertaten, neben den Verdiensten des Berichts auch ungeschönt von den festgestellten Fehlern zu sprechen.
Prorektor Christian Schwarzenegger sprach wie auch der nun publizierte Bericht lediglich von «Anregungen» der Expert*innen, die in die Schlussversion eingeflossen seien. Matthieu Leimgruber stellte den Fall konsequent als Arbeitskonflikt um Urheberrechte dar, sprach vom «Feedback» und «heuristischen Wert» des Steuerungsausschusses. Stadtpräsidentin Corinne Mauch meinte, es habe «öffentlich gerumpelt», nun sei aber zum Glück Klarheit geschaffen worden. Und Regierungsrätin Jaqueline Fehr bezeichnete die beiden Reviews als «zusätzliche Gütesiegel» für den Bericht.
Immerhin anerkannte Fehr die gemachten «Nachbesserungen» und versprach «Learnings» bezüglich der künftigen Organisation solcher Forschungsprojekte. Etwas, das auch Schwarzenegger und Mauch in Antworten auf Journalistenfragen in Aussicht stellten. Was genau die Folgen für künftige Projekte sein werden, blieb hingegen offen.
«Ein Meilenstein in der Aufarbeitung der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts» sei dieses Projekt, verkündete der Prorektor schliesslich – und verpasste es damit, die von den Reviews angestossene konstruktive Fehlerkultur weiterzuführen. Die Affäre Bührle hat damit zwar ein vorläufiges Ende gefunden. Ein ganz befriedigendes ist es jedoch nicht.
Der «antisemitische Ausfall»
Im November 1940 publizierte das Satiremagazin Nebelspalter eine Karikatur des schlafenden, von Geldsäcken umgebenen Bührle. Der Text dazu lautete: «Der Direktor der Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon hat […] einen phantastisch schönen Traum: er legt einen seinen Mitteln entsprechenden Fonds an, der seine Arbeiter nach treuer Pflichterfüllung vor Not bewahrt!» Daraufhin schrieb Bührle wütend an die Redaktion, der Nebelspalter solle nach Oerlikon kommen, wenn er «eine wirklich moderne […] Fabrik» sehen wolle. «Vielleicht vergeht Dir dann die fratzenhafte jüdische Vorstellung, die Du von einem Industriellen zu haben scheinst.»
Jakob Tanner dazu: «Bührle dechiffriert somit die Nebelspalter-Karikatur als ‚fratzenhaft jüdisch‘, um sie mit seiner eigenen Unternehmung zu kontrastieren, die seiner Meinung nach auf solider Qualitätsarbeit und realer Wertschöpfung aufbaut.» Er reproduziere damit ein antisemitisches Muster, das «raffendes» dem «schaffenden» Kapital gegenüberstelle. Diese Deutung findet sich nun auch im publizierten Bericht.