Das Ende der Geschichte. Die liberale Weltordnung, freie Marktwirtschaft sowie demokratische Konzepte haben grosse Teile der Welt erobert und werden auch den Rest noch unter ihre Herrschaft bringen. In seinem Buch «End of History», erschienen 1992, spuckte der Stanford-Politologe Francis Fukuyama grosse Töne. Bekanntlich ist es anders gekommen. Daher bedarf es heute neuer Erklärungsversuche.
Fukuyamas Buch las sich äusserst teleologisch, will heissen: Die Entwicklung der Weltgeschichte ist ziel- und zweckgerichtet, sie läuft auf ein ultimatives Gutes hinaus. Wäre dieses erreicht, dann gäbe es keinen Bedarf zur Entwicklung mehr und daraus zu folgen hätte ein historischer Stillstand.
Wer mag es Fukuyama verübeln? Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Hoffnung auf Stabilität und Frieden weit verbreitet. Von 1945 bis 1989 machten die Mächte die Weltgeschicke unter sich aus, welche gemeinsam Faschismus und Nationalsozialismus besiegt hatten. Und ab 1989 war mit der Sowjetunion auch die letzte grosse Bastion der totalitären Systeme in die Fänge der liberalen Weltordnung geraten. Es schien absolut unlogisch, dass sich ein Staat wieder Grundrechten, Rechtsstaatsprinzipien und freier Marktwirtschaft entledigen würde. Wieso auch? Laut Fukuyama sind es die einzigen Prinzipien, die in den Augen der Menschen Legitimität herstellen konnten, da sie einen Sinn von Nachverfolgbarkeit und Gerechtigkeit der politischen Prozesse schaffen konnten.
Nun, in den letzten knapp 30 Jahren musste Fukuyama seine Sichtweisen praxisorientiert überarbeiten. Überall auf der Welt bildeten sich populistische Bewegungen aus. Und manchmal kamen sie gar an die Macht – sei es in Brasilien mit Bolsonaro, auf den Philippinen mit Duterte, in den USA mit Trump, in Ungarn mit Orbán oder in der Türkei mit Erdoğan, um nur einige Beispiele zu nennen. Grundrechte? Rechtsstaatlichkeit? Freie Marktwirtschaft? Scheint alles nicht mehr so gesichert wie auch schon – von einem Ender der Geschichte, wie Fukuyama dies in den 90er-Jahren proklamierte, kann heute keine Rede mehr sein. Doch was war auf dem Weg zu Friede, Freude und Eierkuchen falsch gelaufen? Diesem Thema widmete Fukuyama sowohl sein neustes Buch mit dem knackigen Titel «Identity» (der Untertitel ist etwas weniger prickelnd), als auch seine Vorträge an der Kantonsschule Rämibühl und der UZH.
Identitätskrisen im Sog der Globalisierung
Er wurde mit gemischten Gefühlen wahrgenommen: Der Tages-Anzeiger schreibt in einem Artikel von Anfang Monat, Fukuyama sei sehr vorsichtig geworden. Und vor allem ein Thema sei wie ein Elefant im Raum gestanden: China. Das Reich der Mitte sei – an die persona non grata angelehnt – gewissermassen eine materia non grata.
Nun, ein Elefant hätte im «Gummibärli-Saal», in dem Fukuyama an der UZH seine Ausführungen hält, so oder so keinen Platz gefunden; die waren nämlich restlos alle besetzt. Aber auch sonst scheint Fukuyama das Thema China nicht per se zu scheuen, auch wenn seine Ausführungen sicher reichhaltiger ausfallen könnten. Es wird klar, dass China nicht so ganz in sein Schema eines welterobernden Liberalismus reinpassen will, da es autoritär geführt werde und sich – nicht wie vorausgesehen – kaum Liberalisierungstendenzen zeigen würden. Aber, so Fukuyama, die politische Linie Chinas, als Beispiel bringt er die zahlreichen Kohlekraftwerke, sei viel zu kurzfristig gedacht, um nicht im Grunde populistisch zu sein.
Doch China und seine Strategien sind keineswegs die einzigen Themen, die Fukuyama in seinem Vortrag anspricht (der ist übrigens in voller Länge und englischer Sprache auf der Website des SIAF nachzuhören): Er beginnt seine Präsentation, wie es sich für einen Politologen eben gehört, mit Definitionen. Nach einer kurzen Erklärung der liberalen Weltordnung und einer etwas längeren panegyrischen Huldigung derselben, die immerhin etliche Millionen Menschen aus der Armut befreit habe, kommt Fukuyama auf den Begriff des ‘Populismus’ und dessen Definition zu sprechen. Generell werde er zu oft und vor allem zu oft auch falsch verwendet. Dazu würden im eigentlichen Sinn des Wortes die Umsetzung kurzfristig populärer Strategien, charismatische Führungspersönlichkeiten mit oftmals anti-institutionellen Tendenzen, sowie ein auf eine spezifische Subgruppe beschränktes Verständnis der ‘Bevölkerung’ gehören. Als Beispiele fallen Hugo Chavez und seine vom Erdölpreis abhängigen Sozialreformen, Victor Orbáns Zugriff auf die Medien, Jair Bolsonaros eigenwilliges Verständnis «des» Brasilianers und «der» Brasilianerin, sowie einige weitere. Doch wie kam es zum vermehrten Aufstieg populistischer Bewegungen in den letzten Jahren? Fukuyama führt aus, dass dieser aufs Engste mit der Globalisierung und deren Verlierergruppen verbunden sei. Bis anhin habe sich das Verständnis vor allem auf die wirtschaftlichen Verlierer der Globalisierung beschränkt, doch sei nun realisiert worden, dass auch die kulturelle Dimension einen wichtigen Part in den politischen Vorgängen des letzten Jahrzehnts innehabe. Simultan zum wirtschaftlichen Umschwung habe der Kampf um Anerkennung diverser sozialer Gruppen zu einem Verschieben der politischen Aufmerksamkeit geführt. Plötzlich seien klassische Fokusgruppen der Parteien, wie etwa die zumeist männlichen Arbeitnehmer der Industrie, nicht mehr im Scheinwerferlicht gestanden. Und eine verminderte oder ganz ausbleibende Repräsentation auf dem politischen Parkett führte zur Wahrnehmung, man werde als BürgerIn nicht mehr geschätzt. Man sei wertlos.
Ein weiterer Katalysator, der aber in dieselbe Richtung stösst, ist eine tiefliegende Krise, die aus den Folgen des Zweiten Weltkrieges entstanden sei. Die bis anhin dominierende Idee des Nationalismus sei verteufelt, aufgebrochen und abgeschafft worden, ohne allerdings das entstehende Vakuum mit einem Ersatz zu füllen. Die paneuropäischen suprastaatlichen Institutionen seien bei Weitem nicht stark genug (gewesen), diese Rolle zu übernehmen.
Zusammen mit einer Neuaushandlung der Geschlechterrollen ergab sich eine tiefgreifende Identitätskrise auf Makro-, Meso-, und Mikroebene. Wo steht man im Vergleich zum Staat? Wo im Vergleich zur Familie? Wo im Vergleich zu Gesellschaft?
Versäumtes nachholen um den Populismus zu entschärfen
Hier treten nun die populistischen Bewegungen auf den Plan. Sie nahmen sich dieser Fragen an, verbanden sie geschickt mit den wirtschaftlichen Sorgen der Menschen und betreiben eine Politik, die sich zuallererst der Bestätigung dieser Probleme annimmt, und dabei eine längerfristige Sichtweise hintenanstellt. Bei aller kritischer Analyse – denn die Problemfelder der Menschheit werden einer solchen Politik folgend vermutlich kaum abnehmen – muss man zugestehen, dass sie sich als einzige dieser verunsicherten Menschen annahmen und ihnen Führung versprachen, während die traditionellen Parteien es weiterhin versäumten, die gesamte Bandbreite der sozialen Fragen abzudecken.
Was schlägt Fukuyama nun vor, um der «Bedrohung» durch populistische Parteien entgegenzutreten? Zuallererst müsse Versäumtes nachgeholt werden. Es müsse Identitätsbildung betrieben werden, die Menschen bräuchten wieder verstärkt Grundsätze, an denen sie sich orientieren können. Für Europa schlägt er dazu eine Konzentration auf die Europäische Union vor. Man müsse sich mit ihren Prinzipien, Werten und Institutionen identifizieren können, die gemeinsame Arbeit für ein florierendes Europa als Ziel vor Augen. Wie das aber geschehen soll, kann er auch nicht so genau sagen. Das Schweizer System von Zivildienst, Zivilschutz und Rekrutenschule – so sagt er in der anschliessenden Fragerunde – könnte eine Idee sein. Die Schweiz, deren Beziehung zur EU bei Facebook wohl «Es ist kompliziert» lauten würde, als Vorbild für eben diese? Wie ironisch. Und doch verspricht der Ansatz Erfolg. Denn mit dem Einbeziehen mannigfaltiger kultureller Identitäten in eine politische Struktur, damit kennt die Schweiz sich nun wirklich aus. Und für Europa und die Welt wäre das zumindest ein Anfang.