In den Archiven des Bundesamtes für Landestopografie Swisstopo schlummerte jahrzehntelang ein riesiger Fundus an Quellen, die einiges über gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklungen der Schweiz auszusagen haben. Seit kurzem sind diese alten Kartenwerke online für alle abrufbar und offenbaren ihre Geschichten; von Inseln, die keine mehr sind, bis hin zu geheimen Machenschaften der Schweiz während dem Kalten Krieg.
1848, das Jahr der Gründung des Schweizerischen Bundesstaates. Zu dieser Zeit war schon ein grosser Teil der Schweiz detailgetreu kartiert. 1845 wurden erste Ausschnitte der neuen Kartografie veröffentlicht, die unter der Aufsicht von Guillaume-Henri Dufour entstand. Die Dufourkarte kann heute als Vision des noch zu gründenden Schweizer Bundesstaats gesehen werden. Unterschiedliche Regionen erschienen bei Dufour als visuelle Einheit, der Jura und die Alpen wurden als eine Art visueller Schutzwall um die Schweiz hervorgehoben, während Landesgrenzen stark akzentuiert und Kantonsgrenzen zweitrangig wurden. Die Schweiz auf Dufours Karte sah also schon aus wie eine Einheit, bevor sich die Kantone zu einem Bundesstaat zusammengefunden hatte.
Die Dufourkarte kann auf dem digitalen Kartenportal Map Geo Admin angeschaut werden und mit ihr auch alle folgenden Karten der Schweiz bis heute. Damit ergibt sich ein Werkzeug, das die Raumentwicklung in der Schweiz präzise nachzeichnet. Swisstopo setzte sich zu seinem 175-Jahr-Jubiläum 2013 das Ziel, diese digitale Zeitreise der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Das Projekt hat aber auch noch einen weiteren Grund: mit der Veröffentlichung dieser historischen Karten wurde der rechtliche Auftrag erfüllt, der im Bundesgesetz über Geoinformationen 2007 festgelegt wurde. Swisstopo hat sich mit diesem Projekt keine einfache Aufgabe gestellt: 7650 Kartenblätter mussten digitalisiert und in 24 Millionen Kacheln übersetzt werden. Die digitalisierten historischen Karten sind nicht nur für das breite interessierte Publikum spannend, sondern eröffnen gerade auch Geschichtsstudierenden neue Möglichkeiten der Quellenarbeit.
Um die sich historisch entwickelten Räume in der Schweiz genauer anzuschauen, gibt es wohl kein besseres Instrument als historische Karten. So lassen sich teilweise über 170 Jahre hinweg Raumentwicklung überblicken. Auch sehr konkrete Fragestellungen lassen sich mithilfe der historischen Karten beantworten. Etwa, ob die St. Petersinsel im Bielersee überhaupt je eine richtige Insel war. Heute ist die Insel faktisch eine Halbinsel, doch bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie ihrem Namen noch gerecht. Denn erst durch die grossangelegte erste Juragewässerkorrektur von 1868 – 1891 wurde die Insel auch zu Fuss erreichbar, da der Seespiegel des Bielersees abgesenkt wurde.
Nachverfolgen lässt sich auch die Entstehung des Hochschulquartiers in Zürich mithilfe der historischen Karten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die ETH und die Universität noch im gleichen Gebäude untergebracht, einem Vorgängerbau auf dem heutigen Gelände der ETH Zürich. Platzprobleme liessen die Stadt jedoch bald über ein eigenes Gebäude für die Universität nachdenken. 1914 errichteten die Architekten Robert Curjel und Karl Moser neben der ETH unser heutiges Hauptgebäude. Auch die ETH (damals noch als Eidgenössisches Polytechnikum bekannt), erhielt 1924 nochmals Erweiterungsbauten.
Eine weitere spannende Entwicklung lässt sich während des Kalten Krieges nachzeichnen. Seit Sommer 1919 wurde in der eidgenössischen Pulverfabrik in Wimmis Munition für die Schweizer Armee und später auch private Abnehmer hergestellt. Die eidgenössische Pulverfabrik in Wimmis gehörte im 20. Jahrhundert zu den wichtigsten Rüstungsbetrieben des Bundes. Grosse Aufträge erhielt die Pulverfabrik vor allem während des Zweiten Weltkrieges und während des Kalten Krieges. Aussergewöhnlich ist nun, dass die Gebäude der Pulverfabrik Ende der 50er Jahre plötzlich von der Landeskarte verschwinden und erst 1993 wiederauftauchen. Die Gebäude standen jedoch die ganze Zeit am gleichen Ort. Die Spannungsverhältnisse des Kalten Krieges mussten wohl dazu beigetragen haben, dass man in der Schweiz die Pulverfabrik möglichst nicht ins Rampenlicht rücken wollte. Weshalb genau die Fabrik von den Landeskarten verschwand, ist aber bis heute nicht geklärt.
Historische Karten helfen also nicht nur Rätsel zu lösen, wie im Falle der St. Petersinsel, sondern werfen auch neue Fragen auf, wie im Falle des Verschwindens der Pulverfabrik in Wimmis. Klar ist, dass Karten stets zeitgebunden und im vorherrschenden Kontext betrachtet werden müssen. Die Fragen danach, ob Elemente weggelassen wurden und auf welche besonders geachtet wurde, geben wichtige Hinweise auf das politische, gesellschaftliche und kulturelle Verständnis jener, die die Karten in Auftrag gaben. Die Landkarten von Swisstopo erweisen sich aber nicht nur für die historische Forschung als hilfreich, sondern begeistern auch Kartenfans und die interessierte Öffentlichkeit. Die digitale Zeitreise ins Landschaftsgedächtnis der Schweiz lohnt sich also auf alle Fälle.