«Das Linke 68 ist nur die eine Seite»

Gibt es eine 68er-Bewegung? «Nein» – meint der Historiker Damir Skenderovic. Man müsse von 68erBewegungen sprechen. Auch die Assoziation der 68er mit der Neuen Linken hält der Fribourger Professor für einseitig: Die 68er-Bewegung habe als Gegenbewegung auch die Neue Rechte hervorgebracht. Ein Interview über vergessene 68er – und über die Studenten von heute.

etü: Herr Skenderovic, Sie forschen zur 68er-Bewegung, zu Subkulturen, aber auch zum Rechtspopulismus – alles Protest-Phänomene. Warum schreiben Sie Geschichte vor allem aus der Perspektive derjenigen, die nicht mit dem Status Quo zufrieden sind?

Damir Skenderovic: Ganz einfach: Aufmüpfigkeit, Interventionen im öffentlichen Raum und das Verlangen nach Veränderung führen Wandel herbei. Proteste sind eine wichtige Antriebsfeder der Geschichte.

Sie haben zu einem grossen Teil in Fribourg studiert und lehren nun auch dort. Die katholische Uni Fribourg galt ja lange nicht als Ort der Aufmüpfigkeit und des Protestes. Hat es Sie auch darum gereizt, zu 1968 zu forschen?

Dieses Bild der katholischen und konservativen Universität Fribourg existierte sehr lange, ist aber gerade bezüglich 1968 ein Klischee. Eigentlich nahm Fribourg für die 68er-Bewegung in der Schweiz sogar eine Vorreiterrolle ein: Eine der schweizweit ersten studentischen Protestaktionen war ein Boykottaufruf an der Uni Fribourg wegen der Erhöhung der Studiengebühren. Mir ist wichtig, dass man das Phänomen 1968 nicht nur als etwas von den Grossstädten Ausgehendes sieht, sondern als einen Austausch zwischen Stadt und Land, zwischen verschiedenen Universitäten, Szenen und Gruppierungen. Auch in Dörfern wurden Versammlungen, Lesungen und Aktionen organisiert. Die 68er-Bewegung begann nicht mit dem sogenannten Zürcher Globuskrawall, sondern setzte sich von Anfang an aus ganz vielen verschiedenen Gruppierungen und Aktionen in der ganzen Schweiz zusammen. Die AkteurInnen waren schliesslich schweizweit und international vernetzt. Diese Mobilität der Ideen und Aktionsformen war entscheidend.

«Der Antikommunismus war in der Schweiz sicher viel weiter verbreitet als linke Gesellschaftskritik.»

Ist es denn bei dieser Breite der Gruppierungen, Orte und Aktionsformen überhaupt sinnvoll, von einer geschlossenen 68erBewegung sprechen?

Natürlich ist das ein Stück weit problematisch, denn es impliziert eine zeitliche Beschränkung auf ein einziges Jahr und eine Homogenität der AkteurInnen. 1968 steht für eine gesellschaftliche Entwicklung, die in den 1950er-Jahren einsetzte und bis in die 1970er-Jahre hinein dauerte. Eine Zeit, in der sich neue Protestformen und Lebensweisen etablierten und Brüche mit Traditionen stattfanden. Darum ist in der Forschung oft auch die Rede von den «langen 68er-Jahren» oder im englischsprachigen Raum einfach von den Sixties. Diese historische Langzeitdimension des Begriffs «68er-Bewegung» ist wichtig. Zudem darf nicht vergessen werden, dass die AkteurInnen sehr vielfältig waren. 1968 war das Jahr, in dem sich zwar in vielen Ländern eine Reihe von AkteurInnen zusammenschlossen und es zu gemeinsamen Massenprotesten kam, aber zuvor und danach herrschte unter verschiedenen Akteursgruppen oft nur wenig Einigkeit. Deshalb wäre es vielleicht sinnvoller, im Plural von 68er-Bewegungen zu sprechen. Doch ganz voneinander losgelöst darf man sie auch nicht betrachten, denn es gab schon einen grossen gemeinsamen Nenner: Die Grundsatzkritik an Institutionen, Traditionen, Hierarchien und Ungleichheiten. Diese «grosse Weigerung», wie es Herbert Marcuse nannte, wurde in ganz unterschiedlichen Formen und bezüglich ganz unterschiedlicher Themen gelebt.

Nun wird dieses Brechen mit der Tradition, diese «Befreiung» anlässlich des 50-Jahre-Jubiläums in den Medien relativ stark abgefeiert. Werden den Ereignissen und Entwicklungen um 1968 herum nicht etwas gar viel Gewicht beigemessen?

Ich würde das in den Medien gezeichnete Bild von 1968 stark relativieren. Die 68er-Bewegung war in der Schweiz relativ klein. Je weiter die Ereignisse zurückliegen, umso mehr Leute  zählen sich rückblickend selbst dazu, obwohl sie vielleicht gar nicht so aktiv waren. Das bestätigt sich, wenn man die Zahlen anschaut: Sowohl beim Globuskrawall als auch bei Protesten in Basel oder Genf waren es stets höchstens 2000 Menschen, die auf die Strasse gingen. Zum Vergleich: Als im August 1968 Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei einmarschierten, gab es Demonstrationen mit bis zu 10’000 TeilnehmerInnen. Der Antikommunismus war sicher viel weiter verbreitet als linke Gesellschaftskritik.

Warum feiert man denn heute nicht das 50-Jahre Jubiläum dieser antikommunistischen Demonstrationen?

Das ist eine erinnerungspolitische Frage, die mich als Historiker beschäftigt, gerade auch in den letzten Jahren. Das Jubiläum wird vornehmlich aus der Perspektive des linken, emanzipatorischen und befreienden 68 erzählt. Doch das ist eben nur eine Seite. 1968 ist in der Schweiz nämlich auch ein sehr wichtiges Jahr für den Rechtspopulismus: 1968 wurde die zweite Überfremdungsinitiative lanciert, James Schwarzenbach trat sein Nationalratsmandat an und verschiedene Gruppierungen der Neuen Rechten formierten sich. Die Schweiz war europaweit das erste Land, das eine rechtspopulistische Bewegung hatte, wie wir sie heute auch kennen, mit Migration als wichtigstes Thema und einem ausgeprägten Anti-Establishment-Diskurs.

Also wird das 68er-Jubiläum auch darum so stark gefeiert, weil man sich nicht so gerne an dieses Kapitel erinnert?

Bis zu einem bestimmten Grad schon. Es herrscht eine gewisse Amnesie bezüglich des Aufkommens des Rechtspopulismus in der Schweiz, und vor allem für die Tatsache, dass die Schweiz darin eine Vorreiterrolle für ganz Europa einnahm. Zu dieser Zeit gab es in keinem anderen Land eine politische Partei, die solche fremdenfeindliche Forderungen stellte, wie es die Schwarzenbach-Initiative tat.

«Bei Podien zu 1968 gehöre ich oft zu den Jüngsten.»

Sie befassen sich ja schon seit vielen Jahren wissenschaftlich mit dem Rechtspopulismus und Rechtsextremismus. Stammt Ihr Interesse für die 68er-Bewegung auch daher?

Ja, teilweise. Wie gesagt, die 1960er-Jahre und insbesondere 1968 waren entscheidend für das Aufkommen des Rechtspopulismus in der Schweiz, wie wir ihn heute in ganz Europa kennen. Die «Revolution» – in Anführungszeichen – der 68er ist meines Erachtens nicht ohne die rechte «Gegenrevolution» zu denken. Zu dieser Zeit formierten sich europaweit anti-egalitäre und fremdenfeindliche Diskurse und entsprechende Szenen und Gruppierungen. Die Denkfiguren dieser sogenannten Neuen Rechten und des heutigen Rechtspopulismus gehen sehr stark auf die Zeit um 1968 zurück.

Ist das Zufall oder auch als Reaktion auf das linke 1968 zu sehen?

Das ist sicher kein Zufall. An den Universitäten bildeten sich als Reaktion auf das linke 1968 Gruppierungen, die sich in Abgrenzung zu den linken Studierenden eben für Autoritäten, für Hierarchien, für die Betonung des Nationalen aussprachen. In Zürich etwa wurde 1970 unter anderem von Christoph Blocher der Studentenring gegründet – bewusst als Reaktion auf die, wie sie es nannten, linke Unterwanderung der Studentenschaft. Auch die 1968 ins Leben gerufene Stiftung für abendländische Besinnung nannte den Kampf gegen die egalitären Ideen von 1968 in ihren Statuten. Das 1968 von links war konstituierend für solche Gruppierungen und ist bis heute ein wichtiger Referenzpunkt für rechtspopulistische PolitikerInnen. So viele – aus ihrer Sicht – gesellschaftlichen Missstände schreiben sie noch heute den antiautoritären 68ern zu.

Die bisherige geschichtswissenschaftliche Forschung zur 68erBewegung stammt zu einem sehr gewichtigen Teil aus der Feder von ZeitzeugInnen und ehemaligen 68er-AktivistInnen. Hat deren Insider-Perspektive  auch etwas dazu beigetragen, dass der Fokus heute stark auf den linken, antiautoritären Protesten liegt?

Die Forschung war tatsächlich lange geprägt von den ZeitzeugInnen und ZeitakteurInnen, die ihre eigene Biographie aufgearbeitet und diese Perspektive in die Forschung reingebracht hatten. Das hat sich in den letzten Jahren etwas geändert, und eine jüngere ForscherInnen-Generation hat angefangen, sich mit 1968 auseinanderzusetzen. Jedoch fällt auf, dass sich ZeitzeugInnen gerade jetzt im Jubiläumsjahr nochmals intensiv zu Wort melden. Nicht wenige wissenschaftliche Publikationen, die im Jubiläumsjahr zu 1968 erschienen, stammen weiterhin von ZeitzeugInnen, und in der medialen Debatte werden sie sehr stark berücksichtigt. Ich selbst war an diversen Podien und Diskussionsrunden, und gehörte oftmals zu den Jüngsten dort.

«Die Jugend hatte damals Utopien. Das beeindruckt mich noch heute.»

Muss das Phänomen 1968 50 Jahre danach noch einmal neu bewertet werden?

Ich glaube schon. Es braucht noch viel Forschung zu 1968, insbesondere in der Schweiz. Und es liegt in der Sache selbst, dass eine neue Generation von HistorikerInnen ans Werk gehen muss. Es ist wichtig, dass diese Generation neue Fragestellungen und Perspektiven auf 1968 wählt, wie etwa eben die der rechten Gegenbewegung.

Trotz Ihrer wissenschaftlichen Aussenperspektive: Was fasziniert Sie persönlich an der 68er Bewegung?

Einerseits das Experimentieren mit Musik, Kunst, Film und Theater. 1968 hat sich stark im  Kulturellen, Symbolischen und Performativen abgespielt. Diese neuen, experimentellen Formen, die das Normengefüge provozierten und aufmischten, faszinieren mich heute noch. Andererseits beeindruckt mich – auch angesichts der heutigen Situation – wie damals die junge Generation, aber nicht nur sie, Politisches und Gesellschaftliches als sehr wichtig erachtete. Die Jugend entwarf damals einen Zukunftshorizont, hatte Utopien, die eine Veränderung der Gesellschaft anstrebten, die egalitärer, gerechter, solidarischer sein sollte.

Und das sehen Sie heute nicht mehr so bei den Jungen?

Das ist eine schwierige Frage: Viele sagen ja, die Jugend von heute sei entpolitisiert… Bei den Studierenden, die ich kennenlerne, ist das weniger der Fall, aber sie haben andere Ausdrucksformen des Politischen als diejenigen von 1968.

Wünschen Sie sich also etwas aufmüpfigere Studierende?

(Lacht) Wünschen wäre jetzt übertrieben. Letztes Jahr gab es an der Uni Fribourg wieder Proteste gegen die Erhöhung der Semestergebühren. Das habe ich willkommen geheissen, denn mir scheint wichtig zu sein, dass Junge ihre Anliegen formulieren und eine kritische politische Haltung entwickeln. Als Geschichtsprofessor ist man auch bemüht darum, einen kritischen Geist zu vermitteln, und ich finde, grundsätzlich sind meine Studierenden politisch sehr interessiert und oft auch engagiert – ich nehme an, in Zürich ist das ähnlich. Aber eines würde ich mir manchmal schon wünschen: etwas mehr Kritik an der Verschulung der Universitäten, am utilitaristischen Geist des BolognaSystems, doch ich befürchte, dieser Zug ist schon abgefahren…

Und Sie selbst? Hatten Sie eine wilde Jugend?
Wild wie man halt so ist in der Jugend. Ich war eher im Bereich der Kultur und Kunst engagiert, interessierte mich aber auch stark für Politisches – sonst hätte ich kaum Geschichte studiert. Aber ich war nie in einer Partei oder an grösseren politischen Aktivitäten beteiligt.

Zur Person

Damir Skenderovic ist seit 2011 Professor für Zeitgeschichte an der Universität Fribourg. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben der 68er-Bewegung und dem Rechtspopulismus die historische Parteienforschung, Migrationsgeschichte und die Geschichte der Lebensreformbewegung. Zur 68er-Bewegung gab er zusammen mit Prof. Dr. Christina Späti zwei Bücher heraus: 1968 – Revolution und Gegenrevolution. Neue Linke und Neue Rechte in Frankreich, BRD und der Schweiz (Basel 2008) und Die 1968er-Jahre in der Schweiz. Aufbruch in Politik und Kultur (Baden 2012).
«Die Jugend hatte damals Utopien. Das beeindruckt mich noch heute.»
1968 – UND DIE ANDEREN

Titelbild: Peter Pfister