«Dekolonisieren ist ein Verb»

Decolonize Zurich

Die Aktionsgruppe Decolonize Zurich trifft sich seit zwei Jahren, um das Koloniale an und das Postkoloniale in der Limmatstadt ans Licht zu bringen. Unsere Autorin hat sich an ihrem ersten öffentlichen Event umgesehen und eine umtriebige Gruppe in einem schwierigen Feld angetroffen.

„Die Betroffenen [der Sklaverei] litten unbeschreiblich. Aber die Sklaven sind tot, und ihren Nachkommen geht es viel besser auch deshalb, weil es die Sklaverei gegeben hat.“

Das steht auf der ausgerissenen Seite einer einschlägigen Wochenzeitung. Sie liegt zwischen unseren Füssen, auf dem teppichgepolsterten Fussboden eines alten Fabrikgebäudes. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: Daneben sammeln sich Zeitungsartikel, Flugblätter, Bilder, Fotografien und Mailausdrücke. Es sind materielle Zeugnisse der kolonialen Denkweisen und Meinungen, wie sie in der Schweiz existieren – und die wir heute dekolonisieren sollen.

Decolonize what?

Wir, das ist heute eine kleine Gruppe von jungen, ziemlich weissen, in der Schweiz sozialisierten Menschen mit akademischem Hintergrund. Die meisten davon gehören zu Decolonize Zurich, einer Aktionsgruppe, die vor rund zwei Jahren am Historischen Seminar der Universität Zürich zusammengefunden und mich heute zum Workshop eingeladen hat. Im Moment sitzen wir noch abwartend herum. Ich bin unsicher, was mich erwartet.

Schon während den Vorbereitungen zu diesem Besuch stutzte ich. Zürich dekolonisieren? Was soll ich mir darunter vorstellen? Kurz darauf wird deutlich, dass diese Frage auch in der Gruppe nicht geklärt, sondern höchstens Ausgangspunkt für Diskussionen ist. Natürlich ist man sich insgesamt einig, dass es darum geht, koloniale Strukturen und Ideen ausfindig zu machen und so gesellschaftliche Veränderung zu erzielen.

Auch ist uns das Ausfindigmachen erstmal nicht besonders schwergefallen: Koloniale Erzählungen und rassistische Verletzungen haben innerhalb der Schweizer Gesellschaft derart selbstverständlich ihren Platz, dass man – einmal dafür sensibilisiert – kaum mehr aufhören kann, sie zu sehen: Das „Schäfchenplakat“. Gewinne, die Schweizer Unternehmen dank des Kolonialismus gemacht haben, und die bis heute nachwirken. Menschen, die von Polizist*innen kontrolliert werden, weil sie nicht weiss sind. Die als „exotisch“, „Schoggi“ oder „Café Mélange“ bezeichnet werden. Die ständig danach gefragt werden, wo sie wirklich herkommen.

Koloniale Erzählungen und rassistische Verletzungen sind in der Schweiz derart selbstverständlich, dass man – einmal sensibilisiert – nicht mehr aufhören kann, sie zu sehen.

Denen weder zugestanden wird, eine Expert*innenrolle im öffentlichen Diskurs einzunehmen, noch selbstverständlich eine teure Tasche zu kaufen. Denen in Läden argwöhnisch gefolgt wird. Werbefilme, die ein Migros-Waschmittel anpreisen, das aus einem (braunen, nicht schmutzigen) „Braunbären wieder Eisbären“ macht. Kinderzimmer, die mit Geschichten von Globi und Kasperli, die in „rückständige Indianerdörfer“ und zu „fremden Völkern“ reisen, gefüllt sind. Ein Zoo, der „afrikanische“ Apéros anbietet, ohne zu fragen, ob die 1.3 Milliarden Menschen auf dem Kontinent dasselbe essen. Gemeindewappen und Gebäude, auf denen weiterhin Darstellungen von stilisierten Schwarzen Körpern prangen. Ein TV-Chefredaktor, der auf die Frage, wie es sein kann, dass 2005 eine Bewerberin wegen ihrer „Hautfarbe“ nicht eingestellt wurde, nur zu antworten weiss: „Ich kann es mir nicht erklären.“

https://www.instagram.com/decolonizezurich/

Decolonize Historisches Seminar

Die Liste liesse sich ohne Schwierigkeiten verlängern. “Es gibt noch so viel zu tun”, sagt Philosophin Patricia Purtschert, die auf Einladung von Decolonize Zurich den Workshop leitet. Sie muss es wissen: Als eine der wenigen Professor*innen hierzulande forscht sie explizit zu Kolonialität und Geschlecht in der Schweiz. Das heisst auch: Sie steckt bis über beide Ohren in Arbeit. Viele wenden sich zurzeit mit Medien- oder Expert*innenanfragen an sie. Knapp ist ihre Zeit auch für die Betreuung der vielen Nachwuchsforschenden, die mittlerweile zum Thema Kolonialität und Geschlecht arbeiten wollen: Ihre Teilzeitprofessur reiche dafür bei weitem nicht aus. Es bedürfe dringend weiterer Lehrstühle zum Thema in der Schweiz, „am besten explizit solche zu Postkolonialismus, Intersektionalität und Critical Race Studies“, so Purtschert.  

Auch die Universität sollte also auf die Liste der Dinge, die es zu dekolonisieren gilt. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Institution sei auch der Ausgangspunkt für die Treffen von Decolonize Zurich gewesen, erklärt mir Sina, die von Beginn an bei Decolonize Zurich dabei war. „Postkoloniale Ansätze waren in Lehrveranstaltungen und auf Leselisten untervertreten.“ Die Gruppe sei schliesslich entstanden, weil sich Freund*innen gefunden hätten, die das ähnlich sahen: „Wir merkten, dass wir zusammen etwas in unserem universitären Kontext verändern wollten“, erklärt Sina.

„Gerade die Universität gehört auf die Liste der Dinge, die es zu dekolonisieren gilt“

Gerade in postkolonialen Diskussionen ist dieser akademische – und weisse – Hintergrund ein Balanceakt. „Weil wir in die Institutionen, die wir kritisieren wollen, eingebunden sind, unterstützen wir sie auch implizit“, gibt Sina zu bedenken. Dies sei gerade zu Beginn der Gruppentreffen schwierig einzuordnen gewesen. „Immer wieder haben wir diskutiert, ob wir als weisse Akademiker*innen überhaupt diese Sprecher*innenposition einnehmen sollten.“

Auch am heutigen Workshop steht die Gruppe vor dieser Frage. Als wir uns überlegen, was mit der rassistischen Darstellung von Schwarzen Körpern am Neumarkt 22 passieren könnte, machen zuerst vorsichtige Vorschläge die Runde: Übermalen? Künstler*innen zu Interventionen einladen? Ins Museum damit? Ein Holzbrett darüber, das nur mit einem gut begründeten Antrag für Einzelne abgenommen wird? Doch es dauert nicht lange, bis jemand einwendet: Wie komme ich als weisse Person dazu, darüber zu sprechen, was für von Rassismus Betroffene wohl das Beste sei?

„Es geht darum zu verstehen, dass Rassismus ein von Weissen gemachtes Problem ist – und damit unser Problem!“

Patricia Purtschert

Solche Fragen sind auch ein ständiger Begleiter von Decolonize Zurich. „Wir haben versucht, einen Umgang damit zu finden. Uns ist es wichtig, selbstkritisch zu sein, ohne die Auseinandersetzung aus Angst, etwas Falsches zu tun, abzubrechen“, wird am Workshop erklärt.  Patricia Purtschert ergänzt: „Ja, viele von uns sind weiss. Aber es geht auch darum zu verstehen, dass Rassismus ein von Weissen gemachtes Problem ist, und damit unser Problem!“ Die Frage sei nicht, ob Weisse über Rassismus und Kolonialismus sprechen dürfen, sondern wie sie das tun, ohne sich selbst wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Allianzen, „diffuse“ Ziele und grosse Pläne

Mittlerweile wirkt die Gruppe unter dem Slogan From Theory to Action. Die Diskussionen sollen an die Öffentlichkeit geholt werden. Auch heutige Workshop, der nicht mehr an der Uni, sondern gleich hinter dem Hauptbahnhof in einem Raum für kritische Ausstellungen stattfindet, ist Teil dieses Plans. Und seit diesem von Covid-19, Black Lives Matter und den massive Protesten in Südamerika geprägten Sommer veranstaltet Decolonize Zurich auch „Stammtische“, um einen Raum zu schaffen, in dem über Aktuelles diskutiert werden kann.

„Andere Organisationen leisten bereits grossartige Arbeit. Dort möchten wir uns einreihen.“

Decolonize Zürich

Dabei können Interessierte ein Thema vorschlagen, das dann in diesem Rahmen diskutiert wird.  Am nächsten Stammtisch im Dezember möchte die Gruppe sich nun weiter öffnen und sich dafür mit anderen Initiativen treffen, um Ressourcen zu bündeln und herauszufinden, in welchen Bereichen man sich gegenseitig unterstützen kann. Organisationen wie enough, Zürich Colonial und Alliance against Racial Profiling leisten nämlich bereits grossartige Arbeit. Und in deren Genealogie möchte sich Decolonize Zurich nun einreihen.

 Ausserdem möchte die umtriebige Aktionsgruppe in Zukunft weitere Workshops organisieren und mit ihren Anliegen Schulklassen besuchen. Dass Allianzen für dekoloniale Praktiken wichtig sind, bekräftigt auch Patricia Purtschert: Sie betont, dass für die Forschung zur postkolonialen Schweiz anfänglich nicht in erster Linie die Anerkennung von Professor*innen zentral war, sondern diejenige gleichgesinnter junger Kolleg*innen: „Wir haben unser Wissen selbst anerkannt und gestärkt, indem wir uns gegenseitig ernst genommen, diskutiert und zitiert haben.“

Auch Decolonize Zurich hat nun erste Allianzen geschmiedet und vorsichtige Schritte an die Öffentlichkeit gemacht. Gleichzeitig befindet sich die Gruppe damit an einem kritischen Punkt: „Nun ist es zentral für uns, dass wir tatsächliche Veränderung bewirken können, anstatt uns nur „Decolonize“ auf die Fahne zu schreiben“, sagt José, der ebenfalls in der Gruppe engagiert ist. Denn Dekolonisieren sei schliesslich ein Verb.

Was das genau heisst, bleibt heute noch unklar. Doch vielleicht ist das gar nicht schlecht, wie mir Sina nach dem Workshop noch mitgibt: „Auf einer Plattform, auf der viele Graustufen Platz haben, können unterschiedliche Ideen und Menschen zusammenkommen. Das Diffuse ist eben auch unsere Chance.“

Decolonize Zurich ist eine Aktionsgruppe, die mit Ausstellungen, öffentlichen Diskussionen und Workshops zum Nachdenken über die koloniale Schweiz und zum dekolonialen Handeln ermutigen will. Informationen, Anregungen und Kontakt gibts auf ihrer Website sowie auf ihrem Instagram.