Seit einigen Jahren geistert er im Internet herum, der Trend zum «minimalistischen Leben». Durch eine Abwendung vom Materiellen verspricht er geistigen Reichtum und Glück. Das kann sich aus der ersehnten Abkehr vom «Raubtierkapitalismus» speisen – oder aus dem vermeintlichen Gegenteil: der Ansammlung von Geld durch Sparsamkeit. Beide Heilsversprechen sind alles andere als neu.
«The Life-Changing Magic of Tidying up» heisst der Bestseller, den Marie Kondo, japanischer Aufräum-Coach, 2014 veröffentlicht hat. Bereits damals hat diese Anleitung zum Loswerden von Krempel einen Nerv getroffen, der bis heute zu schmerzen scheint: Um das Jahr 2019 einzuläuten, hat Netflix eine auf dem Ratgeber basierende Dokuserie produziert. Marie Kondo ist allerdings nicht ein Einzelphänomen, sondern Teil eines Lifestyle-Trends: «Minimalismus» lautet das Zauberwort, mit welchem bereits seit Jahren Glück und Erfolg durch Reduktion und Vereinfachung be- und versprochen werden.
Minimalismus ist asketische Praxis, Pop-Philosophie und Ästhetik zugleich. Instagram-Accounts, die weisse Räume mit Sukkulenten-Farbtupfern zeigen, sind «minimalistisch», auf das nötigste beschränkte Kleiderschränke und der durch Verzicht auf «ungesundes Essen» von Ballast befreite Körper ebenfalls. Geradlinige Tages- und Arbeitsroutinen sollen vor ungewollter Ablenkung schützen, und die Gadget-Trias von Smartphone, Tablet und Laptop vor dem herumflatternden Papierkram. «Simplify your Life», so der Tenor unter den zahlreichen BloggerInnen, InfluencerInnen und BuchautorInnen, die lautstark über ihren Minimalismus sprechen.
Entrümpelung und Verzicht befreien von den Fesseln des Alltags, von mühsamen (Konsum-)Entscheidungen und vom Widerstand des Materiellen. In dieser Hinsicht erscheint der Lifestyle-Trend als logische Folge der fortschreitenden Digitalisierung einerseits und als verständliche Reaktion auf eine Konsumkultur des Überflusses andererseits. Reichtum ist für MinimalistInnen denn auch in erster Linie geistiger Natur: «Freiheit», «Freude», «Liebe», «Zeit», «Sinn» und «Ruhe» sind die Verdienste eines minimalistischen Lebensstils. Und im besten Fall retten (grüne) VertreterInnen mit ihrer genügsamen Lebensweise, der veganen Ernährung, ihrem Verzicht auf Fast Fashion und Möbel vom Billigschweden den Planeten. Eine Abwendung von stetigem Konsum setzen viele gleich mit einer Abwendung von einem ausbeuterischen kapitalistischen Wirtschaftssystem. Materieller Reichtum ist der erklärte Feind der MinimalistInnen.
So das Narrativ. Natürlich ist der Weg zum individuellen Glück oder einer besseren Welt nicht ganz so leicht zu haben, wie bereits verschiedene KritikerInnen betonten: Minimalismus ist vor allem eine Philosophie für Reiche. Um Verzicht zum erlösenden Ziel erklären zu können, muss man zunächst etwas haben, das man entrümpeln kann. Zweitens sind minimalistische Praktiken nicht kostenlos, sondern erfordern kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital. Es kostet Zeit, sich mit 15-minütigen Youtube-Videos wie «50 things I don’t buy» auseinanderzusetzen, damit man seinen «Kram» zu erkennen lernt. Es könnte sein, dass eine Aufräumaktion darin endet, dass Aussortiertes erst mal liegen bleibt, bis der Lieferwagen gemietet werden kann. Und dann sollte natürlich flüssig sein, wer den alten PC und das ständig abstürzende Handy mit einem kraftvollen, aber schlichten Laptop ersetzen möchte, hergestellt von chinesischen Arbeiterinnen aus kongolesischem Kobalt und südafrikanischem Platin.
Hierbei zeigt sich auch: Minimalismus ist vielförmig. Für weniger «grüne» VertreterInnen ist Nachhaltigkeit tendenziell eher Worthülse. Das Schweizer Fernsehen hat im September eine Dokumentation zum Thema Minimalismus ausgestrahlt und darin Cédric Waldburger portraitiert, der dank der technologischen Entwicklungen ohne festen Wohnsitz lebt – ein «Digital Nomad» eben. In einem Folgeartikel bemerkte der Zürcher Tagesanzeiger, dass der Besitz von genau 64 Gegenständen zwar Bewegungsfreiheit verschaffe, dass das sich daraus ergebende Vielfliegertum allerdings Gift fürs Klima sei. Waldburgers Verzicht auf festen Besitz schafft so die Bedingung für seinen massenhaften Konsum von Mobilität.
Über dieses ambivalente Verhältnis minimalistischer asketischer Lebensphilosophie zur Konsumkultur und ihren Bedingungen schreibt besonders zornig der US-amerikanische Autor Kyle Chayka. Bereits 2016 veröffentlichte das New York Times Magazine sein vielbeachtetes Essay über den «Oppressive Gospel of Minimalism». Er findet darin harte Worte für den hypermedialisierten Lifestyle-Trend: «The fetishized austerity and performative asceticism of minimalism is a kind of ongoing cultural sickness. We misinterpret material renunciation [and] austere aesthetics […] as symbols of capitalist absolution, when these trends really just provide us with further ways to serve our impulse to consume more, not less.»
Chayka ist dabei nicht nur zornig, er wirkt enttäuscht. Sein Essay beruht nämlich auf dem Vergleich des heutigen Lifestyle-Konzepts mit seinem begrifflichen Vorgänger, der Kunstströmung der 60er Jahre, die als Reaktion auf die expressionistische Lustsuche entstanden war. Künstler wie Donald Judd, die mit industriellen Materialien und formaler Schlichtheit arbeiteten, wurden vom britischen Kunstkritiker Richard Wollheim als «Minimalisten» betitelt, weil ihren Werken nur ein Minimalanteil von Kunst innewohne. Dabei, so Chayka, hätten gerade sie die wertvolle Frage nach neuen Perspektiven wieder aufs Neue gestellt. Die heutige Adaption des Minimalismusbegriffs, der nach und nach als spezifische Ästhetik zum Luxusprodukt und Marker von Reichtum und nun eben zur Bezeichnung eines allumfassenden Lebensstiles wurde, sei hingegen einschränkend einseitig.
Während Chaykas Kritik folgerichtig ist, lässt er eines ausser Acht: Askese und (kapitalistischer) Konsum, Verzicht und Wirtschaftswachstum schliessen sich nicht gegenseitig aus. Auch wenn Minimalismus oft als «Heilmittel gegen Kapitalismus» stilisiert wird, interpretieren nicht alle MinimalistInnen ihren Lebensstil als Absage an Zwänge kapitalistischer Wirtschaftsbeziehungen. Ganz im Gegenteil: Google-Suchen nach «minimalism» und «money» oder Ähnlichem zeigen, dass Minimalismus längst als Strategie zur Anhäufung von finanziellem Reichtum erkannt wurde. Verzicht und Frugalität haben nicht nur positive Folgen für den Geist, sondern auch für den Geldbeutel.
Das Paradoxon von Verzicht und Reichtum ist also beim genaueren Hinsehen gar keins. Vielmehr spielen sich die beiden Zustände gegenseitig in die Hände und blicken mit dieser Verflechtung auf eine gar nicht so junge Tradition zurück. Die amerikanische Religionswissenschaftlerin Dana W. Logan sieht mit Max Weber in den minimalistischen Verzichtspraktiken eine religiöse Formation, deren historische Beding-ung zwar die postindustrielle Konsumgesellschaft sei, deren Grundannahmen und Regeln jedoch früher wurzeln: Minimalismus beruhe auf derselben Ethik wie die im 16. Jahrhundert entstandene und im 17. Jahrhundert nach Nordamerika gebrachte calvinistische Theologie.
Der Soziologe Max Weber hat diese «protestantische Ethik» in seiner historischen Kapitalismusanalyse beschrieben. Sie sei grundlegend für das kapitalistische Arbeitsethos. Die protestantische Ethik beruhe wiederum auf der Theologie des calvinistischen Puritanismus, die postuliert, dass bei jedem Menschen schon immer göttlich bestimmt ist, ob er in den Himmel kommt. Daran ist dann einerseits nicht mehr zu rütteln, aber Gewissheit gibt es ebenso wenig, was schliesslich zu konstantem Zweifeln am eigenen Auserwähltsein führt.
Auf diese Weise werden alltägliche Verhaltensweisen und Lebensumstände wie Fleiss, Hingabe und Sparsamkeit zur Voraussetzung für die göttliche Auserwähltheit einer Person. Die Sparsamkeit – eine asketische Praxis – äussert sich dabei zwar im Verzicht auf materielle Statussymbole, Protz und Luxus, bedeutet allerdings nicht Konsumverzicht. Vielmehr wird Konsum in Erwartung auf eine verzögerte, dafür aber umso wirkungsvollere Gratifikation aufgeschoben. Das ist das Prinzip der Reinvestition, die nicht nur bei Unternehmen, sondern auch im viel kleineren Rahmen funktioniert: Wenn ich mit meinem Geld über die Jahre nicht 20 Oberteile bei H&M kaufe, dann kann ich mir irgendwann etwas leisten, was nicht nur besser verarbeitet ist, sondern beim Tragen auch meiner Umwelt ein anderes, «angemesseneres» Wissen über mich vermitteln kann. «Quality, not Quantity» ist ein weiteres minimalistisches Mantra.
Die wirtschaftsfördernden Mechanismen des materiellen Verzichts wirkten allerdings nicht erst nach dem Aufkommen protestantischer Bewegungen in Europa, mit welchen Weber die Entwicklung des modernen Kapitalismus zu erklären suchte, sondern lassen sich auch bereits im Mittelalter beobachten. Die anfangs des 13. Jahrhunderts entstehenden Franziskanerorden lebten nach einem sehr spezifischen Armutsideal: Das Nacheifern des Armseins der Ordensgründer Franziskus und Klara von Assisi nach dem Vorbild der Armut Jesu führte zu einer Ordensregel, die den Vermögensbesitz sowohl für Ordensbrüder und -Schwestern, aber auch für die Konvente verbot.
Ihre Dienste als Geistliche sollten sie mit verantwortlicher Arbeit und, sollte dies nicht reichen, mit dem Sammeln von Almosen verbinden. Das führte dazu, dass die franziskanische Armut deutlich sichtbar war, während die Armutsformen anderen Orden, wie beispielsweise der BenediktinerInnen, hinter festen Klostermauern geübt werden sollte. Und während sich die Benediktinerorden problemlos mit Weber als ökonomisch rationale Gemeinschaft betrachten lassen, deren Konsumverzicht mit gleichzeitiger Überproduktion zu einem Überschuss und damit zu Wohlstand führte, muss der langfristige wirtschaftliche und zahlenmässige Erfolg der FranziskanerInnen anders erklärt werden.
Historikerin Annette Kehnel sieht in der Ablehnung von Besitz und arbeitsgebundenem Einkommen ein enormes kreatives Potenzial gemäss der Maxime «Wer nichts hat, hat nichts zu verlieren.» Anstatt die freiwillige Armut der Franziskaner-Innen als Antithese zur zunehmenden Ökonomisierung der Gesellschaft zu lesen, folgt sie den Forschungsergebnissen des italienischen Geschichtswissenschaftlers Giacomo Todeschini: Die Ordensmitglieder hätten ihre Armut nicht als Defizit in dieser neuen Wirtschaftsordnung gesehen, sondern als Ausgangspunkt dafür, Werte der Arbeit, Löhne und Preise zu messen.
Die Musse der Franziskaner habe Raum geschaffen für eine Beschäftigung mit dem Wert von Arbeit und dazu geführt, dass oberitalienische Franziskanermönche massgeblich an der Entstehung eines wegweisenden neuen Wirtschaftswissens und -vokabulars beteiligt gewesen waren. Dazu gehörte beispielsweise die Verbreitung der doppelten Buchführung oder einer mittelalterlichen Form des Mikrokredits, aber auch die Unterscheidung zwischen fluidem und festem Kapital. Dabei war das fluide, sich im ständigen Austausch befindliche Kapital ‘gut’, da es der Verwirklichung des franziskanischen Armutsideals diente, das feste Kapital hingegen abzulehnen, da es Habgier symbolisiere.
Für heutige MinimalistInnen ist das christlich-transzendente Element, die Annäherung an eine Heilsfigur wie Jesus Christus oder das Erreichen des Himmels durch die Verweigerung festen Besitzes und dessen Akkumulation durch stetigen Konsum zwar grösstenteils verschwunden. Dennoch: Die Parallelen zwischen Minimalismus und älteren Formen der christlichen Askese legen nahe, dass die Unvereinbarkeit von Konsum und Verzicht, Kapitalismus und Minimalismus sowohl von KritikerInnen als auch VertreterInnen dieses asketischen Lebensstils nur imaginiert wird. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Askese und Verzicht historisch bedingte Lebensformen sind, die nicht eine Abwendung vom System gesellschaftlicher Organisation bedeuten, sondern darin eingebettet existieren und produktiv wirken. Das gilt für Mikrokredite vergebende Franziskanermönche und nur ausgewählte Waren konsumierende MinimalistInnen zugleich.
Vorbedingung der Askese ist die Wahlfreiheit, also die Möglichkeit, den Verzicht gegenüber der Fülle wählen zu können. Und gleichzeitig schafft Askese als besonders lohnende aufgeschobene Form des Konsums neues Kapital. Askese – Minimalismus – speist sich aus Reichtum und schafft ihn zugleich.