«Der Sound der Revolte» im Sozialarchiv – Popmusik als historische Quelle

Rolling Stones Konzert in Stockholm, 1966, Foto: wikicommons
Rolling Stones-Konzert in Stockholm, 1966. (Quelle: wikicommons)

Erich Keller ist «Gast im Sozialarchiv 2016» und verkörpert damit den diesjährigen Themenschwerpunkt des Archivs: Popmusik. Im Interview mit dem «etü» spricht er über den speziellen Wert des Popsongs als Quelle für Historikerinnen und Historiker.

Unser aktuelles Heft hat das Thema «Untergrund». Wie würden Sie als langjähriger Untergrund-Musiker ihr Genre im Gegensatz zur Mainstream-Musik definieren?

Die Dichotomie Untergrund/Mainstream hat in den 70er und vor allem in den 80er Jahren eine leitende Rolle in der Politisierung, aber auch der Vermarktung von Popmusik gespielt. Im Quellenbegriff «Untergrund» schwingt Subversion, Dissidenz, ja gar Militanz mit. Dem Underground entspricht kein bestimmter musikalischer Stil, er war vielmehr Lebensstil, der dazu führte, dass Musik in alternativen Strukturen produziert, vertrieben und erlebt werden konnte. Dafür brauchte es zum Beispiel eigene Aufnahmestudios, Plattenlabels, Radiostationen, eine eigene Musikpresse und Konzertorte. Bereits Mitte der 80er Jahre aber waren diese Alternativstrukturen ökonomisch so erfolgreich, dass Debatten darüber geführt wurden, ob die Trennung in Untergrund und Mainstream überhaupt sinnvoll sei.

«HISTORIKERINNEN UND HISTORIKER LASSEN SICH GLÜCKLICHERWEISE NICHT MISSIONIEREN.»

Wie schätzen sie allgemein die Rolle der Popmusik in den sozialen Bewegungen der 60er und 70er Jahre ein?

Es gab eine Zeit, da schienen soziale, politische Bewegung und Popmusik direkt miteinander gekoppelt zu sein. Popmusik steigerte Intensität, mobilisierte, drückte Dissidenz und Dissens aus. In den 60er Jahren dürfte dies zum ersten Mal in dieser Form und Heftigkeit der Fall gewesen sein. Zumindest lebt die Popmusik in ihren eigenen Erzählungen immer noch sehr stark von den Zeiten, da sie den «Sound der Revolte» lieferte: 1968 (Rock) oder 1977 (Punk) sind solche Marker. Aber man darf dabei nicht übersehen: der Rock’n’Roll besass bereits in den 1950er Jahren das Potential, festgefügte gesellschaftliche Ordnungen durcheinander zu bringen.

Was ist Ihre Mission als «Gast im Sozialarchiv 2016»? Wie wollen Sie Historiker dafür gewinnen, sich vermehrt mit Popmusik auseinanderzusetzen?

Historikerinnen und Historiker lassen sich glücklicherweise nicht missionieren. Ich denke, eine wesentliche Voraussetzung dafür, sich als WissenschaftlerIn mit Popmusik befassen zu können, besteht darin, überhaupt Quellenmaterial zur Verfügung zu haben. Aus diesem Grund haben wir 2015 den Verein Swiss Music Archives gegründet, der es sich zum Ziel gesetzt hat, das popkulturelle Erbe der Schweiz zu erhalten, zugänglich zu machen und auch zu erforschen. Voraussichtlich 2019 wird zudem ein von Prof. Dr. Christian Koller und mir herausgegebene Nummer der traverse zum Thema erscheinen.

Was kann ein Popsong einer Historikerin geben, was ein Schriftstück nicht kann?

Anders als ein Schriftstück schwingen in einem Popsong mehrere Ebenen mit: Er besteht aus Text, Musik und Sound, hat also eine spezifische Signatur.

Was ist da für mich als Geschichtsstudent interessanter: Der Songtext oder die Musik?

Warum sehen Sie das als Gegensatz? Songtext, Sound und Musik erfordern verschiedene Zugänge, aber sie entfalten ihre Wirkung doch stets in ihrer Konvergenz.

Mir scheint, es ist sehr interessant, zu erforschen, welches Wissen über Themen wie Gesellschaft, Körper, Sexualität, Dissidenz oder Regierung die Popmusik erzeugt, wie sie dieses Wissen formt und zirkulieren lässt und welche Rolle darin Lärm und Rhythmik, Geschwindigkeit und Tonalität, Texte, Images und performative Praktiken spielen.

Aber sobald ich bei einer Arbeit die textuelle Ebene verlasse stosse ich an meine Grenzen. Müsste man da nicht eher in Richtung Musikwissenschaft gehen?

Die Geschichte der Popmusik wird bisher vor allem als die Geschichte ihrer Medien, ihrer Akteure ihrer Märkte und ihrer Politik begriffen. Ich denke aber, es ist sehr interessant, musikalische Transformationsphänomene auch musikwissenschaftlich zu untersuchen. Denn es ist ohne jeden Zweifel so, dass die Musik sich verändert. Instrumentierung, Geschwindigkeit, Rhythmik, Technik, Sound – im Feld etwa der Rockmusik ereignen sich zwischen 1955 und 1985 mehrere Brüche.

Doch woher kommen diese Brüche? Sind es Veränderungen in der Musik selbst, die dazu führen? Oder verändern sich Songs und Sounds, indem sie von einem Milieu in ein anderes wechseln? Welche Rolle spielt die Technik? Fangen Komponistinnen und Komponisten von Rocksongs aufgrund aussermusikalischer Dispositionen an, Musik anders zu verstehen? Hier besteht meiner Meinung nach ein bedeutendes, aber ungenütztes Forschungspotential.

Fällt es Ihnen nicht schwer, Ihre eigene Begeisterung für die Popmusik beim wissenschaftlichen Arbeiten aussen vor zu lassen? Oder muss man das gar nicht?

Gibt es ein wissenschaftliches Arbeiten, das nicht zumindest phasenweise von Begeisterung für den eigenen Forschungsgegenstand, seine Bedeutung, Komplexität, Sperrigkeit begleitet wird? Dass ein kritischer Mindestabstand beim Forschen eingehalten werden muss, ist natürlich klar, schliesslich müssen Forschungsergebnisse nachvollziehbar sein.

«SONGTEXT, SOUND UND MUSIK ERFORDERN VERSCHIEDENE ZUGÄNGE, ABER SIE ENTFALTEN IHRE WIRKUNG STETS IN IHRER KONVERGENZ»

Welcher Song hat Sie selbst am meisten geprägt?

Unmöglich, das an einem einzelnen Song festzumachen. Wenn ich mich richtig erinnere, nahm mich sehr früh schon die eigentümliche Mischung gefangen – Rhythmik, Geschwindigkeit, Sound und englische Sprache, die ich, mangels Sprachkenntnissen, rein phonetisch verstand. Ich denke aber nicht, dass Menschen «geprägt» werden wie Graugänse oder Münzen. Das eigene Verhältnis zur Musik ändert sich dauernd.


Zur Person:

Erich Keller ist Historiker und Buchautor. In den 80er Jahren war er als Musiker, Produzent und Journalist selbst aktiv. Als «Gast im Sozialarchiv 2016» konzipierte er eine Veranstaltungsreihe über das geschichtswissenschaftliche Erforschen und das Archivieren von Popmusik. Er ist Mitbegründer des Vereins Swiss Music Archives der zur Geschichte der Popmusik sammelt, forscht und publiziert (swissmusicarchives.ch)

Veranstaltungshinweis:

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Erich Keller (Bild: Matthias Scharrer/Limmattaler Zeitung)

Am Mittwoch, 16.11. findet der dritte und letzte Teil von Erich Kellers Veranstaltung zum Thema «Musik erforschen» statt: Ein Podiumsgespräch mit MusikkennerInnen, angereichert mit Metal-Musik von einer sitzenden, teetrinkenden Band. Flyer: https://www.sozialarchiv.ch/wp-content/uploads/2016/09/Musik-erforschen_2016_11_16.pdf