Dass Fussball unter die Haut geht, ist nichts Neues. Aggressive Rivalitäten unter Fans machen immer wieder Schlagzeilen. Am Beispiel der Israelischen Fussballliga zeigen sich aber Konfliktlinien, die Auswirkungen weit über das Stadion hinaus haben.
«In Haifa wird gearbeitet, in Tel Aviv gefeiert und in Jerusalem gebetet.» So ein israelisches Sprichwort. In der Tat könnten Jerusalem und Tel Aviv unterschiedlicher kaum sein. Eine Stunde Busfahrt trennt die beiden Metropolen, doch verkörpern sie zwei Extreme in der israelischen Gesellschaft. Jerusalem, ein symbolträchtiger Ort mit reicher Vergangenheit und vielfältigen kulturellen Einflüssen bildet das religiös-konservative Zentrum des Landes. Tel Aviv, 1909 von jüdischen Immigranten gegründet, ist hingegen als junge, mondäne Partymetropole am Mittelmeer bekannt und wurde 2012 unter anderem zur «Gay Capital of the World» gekürt.
Kommt es in der heimischen Fussballliga zum Duell zwischen Hapoel Tel Aviv und Beitar Jerusalem, handelt es sich aufgrund der starken Kontraste beider Städte und deren Mannschaften um mehr als nur ein Fussballspiel. Das Ereignis ist hochpolitisch.
Schon an den Namen der beiden Fussballmannschaften kann man erkennen, dass es grosse politische und ideologische Gräben zwischen den beiden Teams gibt: Der Sportverein Hapoel (hebräisch für „Arbeiter“) wurde 1926 als Untereinheit der sozialistischen Gewerkschaft Histadrut gegründet und steht für die Arbeiterklasse. Beitar hingegen trat nach seiner Gründung 1923 als zionistische Jugendorganisation mit teilweise engem Kontakt zu militärischen Institutionen in der israelischen Gesellschaft in Erscheinung. Zuerst nur eine politische Bewegung, entstand erst im Jahr 1936 ein Sportverband mit gleichem Namen.
Unter dem Banner von Disziplin und Unterordnung propagierte Beitars Gründer Ze’ev Jabotinsky eine Bewegung, die wie eine Maschine funktionieren sollte: alle Mitglieder stehen in Einklang miteinander. Mit seiner Organisation wollte er «normale», «gesunde» Bürger einer jüdischen Nation erziehen, die sich notfalls auch militärisch gegen lokale arabischstämmige Gruppen oder gegen die britische Mandatsmacht auflehnen sollten – im Gegensatz zu Bewegungen, die ein assimiliertes, integriertes, sich aber überall auf der Welt in einer Minderheit befindliches Diaspora-Judentum anstrebten.
Der Jischuw, die jüdische Bevölkerung in Palästina vor der Staatsgründung Israels, stellte – vereinfacht gesagt – eine viergeteilte Gesellschaft dar. Nebst der sozialistisch gesinnten Arbeiterschaft, zu der die Hapoel-Bewegung gehörte, vereinigten sich die gehobenen jüdischen Einwanderer aus West- wie Osteuropa zu einer bürgerlichen Gemeinschaft. Daneben schlossen sich einerseits die orthodoxen und streng religiösen Juden zusammen sowie die Vereinigung des rechten, revisionistischen Flügels des Zionismus. Letztere setzte sich zum Ziel, die jüdische Besiedlung Palästinas stark voranzutreiben. Mit der Option, einen jüdischen Staat westlich des Jordans zu gründen, gaben sich viele Anhänger nicht zufrieden: sie forderten vielmehr einen jüdischen Staat beidseits des Flusses, was aber nie verwirklicht wurde. So erstaunt es kaum, dass vor der Staatsgründung ihr Verhältnis zur britischen Mandatsmacht sehr ambivalent war. Nebst pragmatischer Kooperation, um Siedlungspläne im Mandatsgebiet voranzutreiben, nahm man ebenso den Kampf gegen die Briten in Kauf, sollten die zionistischen Forderungen nicht umgesetzt werden. Auch nach der Staatsgründung Israels 1948 lehnten viele Anhänger des revisionistischen Zionismus den Staat Jordanien ab. Anhänger von Beitar und die revisionistischen Zionisten gingen zudem ein Bündnis miteinander ein, war Ze’ev Jabotisnky doch der Gründer beider Organisationen.
In der Phase unmittelbar nach der Staatsgründung Israels verwickelten sich die umliegenden arabischen Staaten in mehrere Kriege mit Israel. Das Verhältnis des jüdischen Staates zu seinen Nachbarn ist und bleibt ein Problem. Dennoch zeigte sich in der israelischen Fussballliga bald, dass viele Teams sowohl jüdische wie auch arabische Israelis engagierten und sich stark für eine Gleichberechtigung der arabischen Israelis und der Palästinenser in den besetzen Gebieten einsetzen, beispielsweise Hapoel Tel Aviv oder insbesondere auch Hapoel Bnei Sachnin. Einzig die Mannschaft von Beitar Jerusalem und deren Fans skandieren zuweilen noch stolz, dass sie noch nie einen arabischen Spieler in den Kader aufgenommen haben – bis heute als einziges Team im Land. Sie sollen ein jüdisches Team in einem jüdischen Staat bleiben. Avigdor Lieberman, hochrangiger Politiker in Israel, sprach 2013 gar von Beitar als «hartem Kern der rechtsstehenden nationalistischen Bewegung». Damit machte er auch deutlich, wie gross die politische Bedeutung des Fussballclubs ist.
In der Dokumentation der israelischen Regisseurin Maya Zinshtein, «Forever Pure», die das Fanleben und die Probleme von Beitar aufzeigt, ist selbst Benjamin Netanyahu vor einer jubelnden Menge Beitar-Fans zu sehen. Im im Wahlkampf sicherte er seine Unterstützung für die Mannschaft zu. Für Politiker ist Beitar ein Faktor, mit dem man Stimmen gewinnen oder verlieren kann. Das geht auf die historische Bedeutung des Fussballs in Israel zurück: in den 50er-Jahren war das Fussballstadion stets die Plattform für die Bürger, um ihre politischen Forderungen geeint an die Öffentlichkeit zu tragen. Dies wiederum stammt noch aus vorstaatlicher Zeit, in der es mangels nationaler Infrastruktur sehr wichtig war, in den entsprechenden Organisationen und Sportverbänden Halt zu finden und sich ein soziales Netz zu schaffen.
Ein weiteres Zeichen für die politische Rolle, die Beitar in Israel spielt, zeigte sich im Jahr 1975, als dem Verein der Zwangsabstieg in die zweite Liga drohte, nachdem bei einer Partie gegen Hapoel Petakh Tiqwa Beitar-Fans gegnerische Spieler rassistisch beleidigt hatten und nach dem Spiel den Rasen stürmten um gegnerische Spieler und Fans zu attackieren. Der danach drohende Abstieg der Mannschaft wurde von Politikern der Likud-Partei (die selbst aus der Beitar-Organisation hervorgegangen war) verhindert.
Als im Jahr 2005 der vorbestrafte und bereits wegen illegalem Waffenhandel verurteilte, international gesuchte russisch-israelische Milliardär Arcadi Gaydamak den Club kaufte und vor dem finanziellen Ruin bewahrte, änderte sich einiges. Zuerst forcierte er Bestrebungen, einen arabischen Spieler in die Mannschaft aufzunehmen, was jedoch am Widerstand der Fans scheiterte. Allerdings drohte er, dem Verein kein Geld mehr zuzuschiessen, sollten sich die Fans zu stark gegen ihn wenden. Schliesslich konnte er am 30. Januar 2013 in einer überraschenden Aktion zwei muslimische Spieler aus Tschetschenien verpflichten. Daraufhin gerieten sowohl die Fans von Beitar als auch die Mannschaft selbst ins Strudeln. Die Radikale Fanbase La Familia beschimpfte Gaydamak und stellte ihn an den Pranger. In «Forever Pure» kommentiert Gaydamak die Aktion: «Ich wollte der israelischen Gesellschaft zeigen, was sie wirklich ist.»
Die Transfers wurden vor allem von den Anhängern unter La Familia stark angegriffen, jedoch schienen die muslimischen Spieler für die Mannschaft selbst kein solch grosses Problem darzustellen. Zaur Sadayev und Dzhabrail Kadiyev, die beiden besagten Spieler, integrierten sich gut in die Mannschaft. Als in einem Ligaspiel Sadayev gar ein Tor gelang, strömte der La Familia-Fanblock aus Protest aus dem Stadion und liess verbliebene Fans wie Spieler ratlos zurück. Wo früher Tora-Rollen bei Treffern der eigenen Mannschaft geküsst wurden, wurde nun gehasst und gebrandmarkt. Die zweitausend Jahre alte Hoffnung, eine freie Nation zu werden, wie es ein Fangesang suggerierte, war verpufft.
Als am 18. April 2013 am Boston Marathon zwei selbstgebaute Bomben explodierten und sich dabei herausstellte, dass die Täter zwei Brüder tschetschenischer Herkunft waren, wuchs der Argwohn unter den Fans von Beitar noch mehr. Die Mannschaft sah sich gezwungen, vor fast leeren Rängen zu spielen: viele Fans boykottierten die Spiele ihrer Mannschaft. In der Folge sackte diese in der Liga ans Tabellenende. Die Situation wurde zunehmend prekär, Sadayev und Kadiyev wurden unter Polizeischutz gestellt. Hatte die Saison 2012/2013 für die Mannschaft so gut wie lange nicht mehr begonnen, war der Frust nun umso grösser, als sich mit der Verpflichtung der beiden Tschetschenen die Niederlagen häuften. Die Mannschaft landete am Schluss auf dem zehnten Tabellenplatz und konnte knapp den Abstieg in die zweite Liga verhindern.
Sadayev und Kadiyev verliessen Jerusalem am Ende der Saison wieder; was blieb, war die bittere Enttäuschung nach einer schlechten Saison sowie das bleibende Image der La Familia-Fanbase: eine solch rassistische Fankampagne hatte es zuvor noch nie in der Israelischen Fussballliga gegeben.
In den darauffolgenden Saisons fing sich die Mannschaft wieder und konnte sogar in der Qualifikationsrunde der Europa League spielen. Als aber im Herbst 2015 die Proteste und Angriffe seitens der Palästinenser erneut aufflammten, verlagerten viele Beitar-Fans ihren Kampf gegen die Araber auf die Strassen von Jerusalem. Die Sprechchöre waren dieselben wie seit jeher im Stadion: «Tod den Arabern!» und dergleichen.
Wie in kaum einem anderen Land prägen die historisch gewachsenen Unterschiede in der israelischen Sportlandschaft die Gesellschaft noch heute. Nicht nur war Fussball schon vor der Staatsgründung ein identitätsstiftender Faktor und damit von zentraler Bedeutung. Vielmehr entsprangen aus den Vereinigungen und Bewegungen später wichtige Parteien, die noch heute die israelische Politik prägen. Dass mit den verschiedenen Bewegungen und deren jeweiligen Ideologien ein Reibungspunkt untern den Juden bzw. Israelis entstand, versteht sich von selbst.
Wahrscheinlich sind sich heute die wenigsten Fans von Beitar und Hapoel dieser historischen Entwicklung bewusst und tendieren gerade deshalb dazu, ihren Hass und ihre Parolen unreflektiert auf und neben dem Fussballfeld auszuleben. Die politische Aussage, die hinter den Fangesängen steckt, hatte ursprünglich in einem völlig anderen gesellschaftlichen und politischen Kontext eine wichtige Bedeutung für die Gruppenidentität von Beitar. Die Verhältnisse aus vorstaatlicher Zeit haben allerdings nur noch wenig mit denjenigen der heutigen israelischen Gesellschaft zu tun. Die Rhetorik, die politische Gesinnung der Fans und die damit verbundenen Absichten und Handlungen aber sind geblieben.