Am 9. November 2019 jährt sich der Berliner Mauerfall zum dreissigsten Mal. Untrennbar damit verbunden ist der Begriff der «Deutschen Einheit». Er wurde unter der Kohl-Regierung zum Leitsatz der bundesdeutschen Identität. Ausgeblendet werden dabei die historischen Entstehungsbedingungen der Einheitsidee. Sie war eine Bedingung für den deutschen Imperialismus und Nationalsozialismus.
Am 19. Dezember 1989 verkündete Bundeskanzler Helmut Kohl in einer weltweit mit Spannung – und Anspannung – verfolgten Rede in Dresden: «Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.» Möglich gemacht hatte diese Wende der so genannte «Mauerfall» wenige Wochen zuvor. Die DDR-Behörden liessen am 9. November die Einführung der Reisefreiheit verlauten. Diese Ankündigung löste einen regelrechten Sturm der Ostberliner Bevölkerung auf die Mauer aus. Die Grenzwache liessen die DDR-BürgerInnen anordnungsgemäss unbehelligt passieren. Die Bilder der feiernden Menschen aus Ost- und Westberlin auf und neben der Mauer gingen um die Welt. Und sie nahmen in ihrer symbolischen Strahlkraft bereits vorweg, welchen Weg die deutsche Politik einschlagen würde.
Unter Kanzler Kohl wurde die vollständige gleichberechtigte «Wiedervereinigung» der DDR und der BRD angestrebt und letztlich auch erzielt. Dabei handelte es sich strenggenommen um eine Einbindung der zuvor als DDR organisierten Bundesländer in die bestehenden Strukturen der Bundesrepublik Deutschland. International wurde die «Wiedervereinigung» mit einer gewissen Sorge betrachtet, denn sie brachte dem meist verkürzt als «Deutschland» bezeichneten Staat einen markanten Zuwachs an Fläche, Einwohnern und Infrastruktur – den stärksten Zuwachs seit dem Ende des Dritten Reiches. Das behutsame und auf nationalistische Rhetorik verzichtende Vorgehen der Regierung Kohl und die sich intensivierende europäische Integration ermöglichten es, die «Wiedervereinigung» trotzdem mit breiter internationaler Unterstützung zu vollziehen.
Seither ist die «Deutsche Einheit» eine Art politisches Credo und Leitsatz der bundesdeutschen Identität. Ob die «Wiedervereinigung Deutschlands» gelungen ist, wird seither öfters gefragt. Bürgerliche Kreise sind konsterniert über die inzwischen vielfach positiv umgepolte Erinnerung vieler BürgerInnen in den östlichen Bundesländern zur einstigen SED-Diktatur, linke Kreise sehen dagegen die Sitzgewinne von Rechtsparteien als Ausdruck einer ökonomisch und sozial gescheiterten «Wiedervereinigung». In den Debatten um Erfolg oder Misserfolg der «Wiedervereinigung» geht oft unter, wie problematisch der Begriff der «Deutschen Einheit» mit Blick auf die Geschichte ist. Daher soll hier ein Beitrag zur historischen Problematisierung dieses Begriffs geleistet werden.
Im Zusammenhang mit der Bundesrepublik Deutschland seit den 90er-Jahren vom «Wiedervereinigten Deutschland» oder nur von «Deutschland» zu sprechen, verschleiert, dass das Staatsgebiet nur einen Teil des deutschen Sprach- und Kulturraums umfasst: Auch Österreich, die Schweiz und Liechtenstein sind mehrheitlich und traditionell deutschsprachig. In Luxemburg, Belgien, Frankreich, Italien, Tschechien, Rumänien und weiteren Staaten gibt es Gebiete mit anerkannten deutschen Minderheiten. Der Begriff «Deutschland» ist somit problematisch – zumal ein Blick in die Zeit um 1800 verdeutlicht, wie stark dieser Begriff einst auf einen primär sprachlich definierten Kulturraum bezogen war.
Ansätze von nationalem Denken finden sich in den deutschen Landen, wie vielerorts, ab dem 15. Jahrhundert. Im späten 18. Jahrhundert war das Konzept Deutschlands als einheitliches Volk bereits voll ausgeprägt – doch fehlten nicht nur philosophische Theorien zur Abstützung dieses kulturell-ethnischen Konzepts, sondern auch jegliche Bemühungen zur politischen Integration. Die deutschen Lande bildeten innerhalb losen Rahmens des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation souveräne Staaten. Es bestand kein Anlass, diese vielgliedrige Kleinstaatenwelt zu einer politisch-rechtlichen Einheit zusammenzuführen. Dies änderte sich, als die deutschen Lande durch Napoleon bedrängt und das Reich 1806 aufgelöst wurden. Unter dem Eindruck einer Unterdrückung von Sitte, Kultur, Tradition, Sprache und Volksgeist durch die französischen Invasoren bildete sich, zunächst unter den Eliten, später auch in der breiten Bevölkerung, rasch ein starkes Nationalgefühl. Aber auch dieses war zunächst kulturnational bestimmt.
Als Schlüsselwerk des frühen deutschen Nationalismus gelten zurecht die «Reden an die deutsche Nation» des Philosophen Johann Gottlieb Fichte. Fichte hielt und veröffentlichte diese Vorlesungen 1808, zwei Jahre nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Der Text ist ein flammender Apell dafür, die deutsche Nation durch eine Besinnung auf die Geschichte und die Traditionen des Volkes (konservatives Element) und eine Reform des Erziehungswesens (progressives Element) vor dem Untergang zu retten. Fichte vertritt dabei eindeutig ein kulturnationales Deutschlandbild und fasst keinerlei politische Integration zu einem Einheitsstaat ins Auge. Im Gegenteil: «Wohl uns hiebei, dass es noch verschiedene und voneinander abgetrennte deutsche Einzelstaaten gibt!», meint er mit Blick auf das Erziehungswesen. Fichtes Nationsbegriff ist auch in anderen Aspekten weit von dem chauvinistischen Nationsbegriff des Kaiserreichs oder der Nazis entfernt: Er begrüsst die Vielfalt der Kulturnationen und plädiert für ihre friedlich Koexistenz.
Doch in gebildeten Kreisen entstand zeitgleich die Vision eines deutschen Einheitsstaates. Die Gründung des Deutschen Bundes 1815, dem zahlreiche deutsche Länder angehörten, war ein erster Schritt. Er ging jedoch vielen zu wenig weit. Das Wartburgfest 1817 bot den progressiv-nationalen Kräften erstmals ein breit rezipierte Bühne: Die Gedenkfeier der studentischen Burschenschaften zum 300-jährigen Reformationsjubiläum war zugleich ein Protest gegen die reaktionäre Politik der Restaurationszeit. Erstmals wurde hier die Idee einer «Deutschen Einheit» wirkungsmächtig artikuliert. Diese Verbindung von nationaler Feier und Demonstration etablierte sich nun als Phänomen des Widerstands der progressiv-nationalistischen Opposition. Das Hambacher Fest von 1832 trug zur Intensivierung der revolutionären Bemühung der «Jungdeutschen» bei.
Doch erst mit der Märzrevolution 1848 schlugen die progressiven Ideen in revolutionäre Umsturzversuche um. Dabei vertraten die revolutionäre Kräfte keineswegs eine homogene Gesinnung: Liberale und frühsozialistische Nationalisten kämpften an der Seite von Anarchisten und kosmopolitischen Sozialisten gegen die Monarchien und die als obsolet empfundene Kleinstaatenstruktur. Neben den Strassenkämpfen wurden auch politische Wege zur Vereinheitlichung der Nation gesucht: Die 1848 bis 1849 bestehende Frankfurter Paulskirchenversammlung war das erste gemeindeutsche Parlament. Bekanntlich scheiterten die Revolutionsversuche – ohne aber, dass das Ziel einer «Deutschen Einheit» aus dem politischen Diskurs verdrängt wurde. Diese wurde dadurch vielmehr weiter popularisiert.
1866 wurde der Deutsche Bund formell aufgelöst. Dennoch rückte die Einigung durch innere und äussere Konflikte, besonders den Deutsch-Französischen Krieg, in greifbare Nähe. In der Ablehnung französischer Machtansprüche geeint, konnten zahlreiche deutschen Staaten 1871 zu einem faktischen Einheitsstaat vereinigt werden. König Wilhelm I. von Preussen wurde deutscher Kaiser, Otto von Bismarck (der eigentliche Architekt der Reichsgründung) wurde Reichskanzler. Die folgenden 75 Jahre dieses nun geeinten Deutschlands kann man, selbst wenn man als Historiker sonst mit moralischer Verurteilung historischer AkteurInnen zurückhaltend ist, als eines der düstersten «Kapitel» der Weltgeschichte bezeichnen.
Wenngleich das Reichsgebiet nicht alle deutschen Staaten umfasste, konnte sich das Reich selbst dennoch zum Inbegriff des Deutschen stilisieren. Eine moderne, staatsnationalistische und zunehmend auch imperialistische Interpretation des Reichsbegriffs korrelierte mit einer geschichtsmythischen Verklärung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in dessen Tradition sich die Eliten und zunehmend auch die breite Bevölkerung sahen. Der Aufstieg zu einem der führenden Nationalstaaten in Politik, Wirtschaft und Kultur beförderte die Ausbildung eines hybriden, zugleich mit dem Volk als Kultur- und Sprachgemeinschaft und dem Reich als politische Institution verknüpften, Nationalbewusstseins. Ein dritter Aspekt von wachsender Bedeutung war die Rasse, die bereits bei Houston Stewart Chamberlain als überlegen und zugleich bedroht begriffen wurde. Das späte Deutsche Reich war durchsäuert von Ideologien, deren fatale Wirkung durch ihre Verschmelzung noch gesteigert wurde: Staatsnationalismus, Imperialismus, rassistischer Chauvinismus.
Auf diesem geistigen Fundament fussten die Katastrophen der deutschen Geschichte: Die brutale Kolonialpolitik im heutigen Namibia, der von breiter nationaler Begeisterung getragene Erste Weltkrieg, der aufkeimende Revanchismus nach dem Krieg, der dem Nationalsozialismus einen idealen Nährboden bot, und schliesslich das Dritte Reich, dessen rassenideologisch motivierte Politik bekanntlich in einem «totalen Krieg» und in der systematischen industriellen Vernichtung der JüdInnen und anderer Volksgruppen mündete.
Diese tour d’horizon durch die deutsche Geschichte liest sich, wenn wir sie mit Hayden Whites narrativitätstheoretischen Kategorien analysieren wollen, wie eine Tragödie: Sie mutet an wie die Geschichte eines Protagonisten, der unbescholten in die Welt zieht, allmählich moralisch korrumpiert wird und letztlich auf die unvermeidliche Katastrophe zusteuert. Wäre diese Lesart eine Verharmlosung der deutschen Geschichte? Eine Stilisierung der «Deutschen» zu tragischen Helden ist sicherlich verfehlt – aber die Frage nach der Unvermeidlichkeit der Katastrophe wird immer wieder gestellt.
Der bekannte Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler hat die wirkungsmächtige These des «Deutschen Sonderweges» aufgestellt. Etwas vereinfacht lautet seine These: Das Kaiserreich existierte und entwickelte sich im Rahmen innerer struktureller Widersprüche zwischen traditionalistischen und progressiven Elementen. Dieser strukturelle Mangel an modernen, liberalen Elementen sei nun der Nährboden für das aggressive Superioritätsdenken gewesen, dass letztlich zum Nationalsozialismus hinführen musste. Wehlers These ist freilich umstritten, vermag aber als Teilaspekt eines Gesamtbildes durchaus zu überzeugen.
Wenn wir davon ausgehen, dass der Nationalsozialismus keine «spontane Reaktion» war, so muss er aus den politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und geistesgeschichtlichen Vorbedingungen heraus erklärt werden. Dabei darf man der Versuchung einer simplifizierenden monokausalen Erklärung nicht erliegen, wie es HistorikerInnen links und rechts des politischen Spektrums widerholt passierte. Daher will dieser Beitrag explizit nur einen Aspekt zur Erklärung beitragen und diesen zur Diskussion stellen. Dieser Aspekt fand in der Sonderwegsdebatte bislang kaum Beachtung. Es ist – man ahnt es – die «Deutsche Einheit».
Die den Nationalsozialismus vorbereitende Verknüpfung von moderner imperialistischer Staatsnation und geschichtsmythisch aufgeladener Reichstradition in Verbindung mit ethnozentrischem und rassistischem Superioritätsdenken entstand im und mit dem Deutschen Kaiserreich. Die Vorstellung eines geeinten Volkes, dass unter einer Flagge, und – bedenklicher noch – unter einem Führer nach weltpolitischer Bedeutung, nach dem berühmten «Platz an der Sonne» strebt, war ein Kernaspekt des aggressiven Nationalismus, der die deutsche Geschichte von 1971 bis 1945 überschattete. Erst durch die «Deutsche Einheit» von 1871 wurde der Staat als ein mit Volk und Rasse kongruentes Gebilde denkbar. War im Volk der Gedanke angelegt, konnte das nationale Reich als die Institution der Tat, als Akteur der Weltgeschichte auftreten.
Auch die Schweiz entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einem Nationalstaat: Gemeinsame Geschichte, Mythen, kulturelles Erbe und Volksgemeinschaft wurden ebenso beschworen wie im Deutschen Reich. Aber die Staatlichkeit basierte hier nicht auf einer kulturell-rassischen Einheit, sondern primär auf Institutionen. Die konfessionelle, sprachliche und kulturelle Vielfalt wäre einer ethnischen Homogenisierungstendenz unüberwindlich im Weg gestanden. Ein aggressiver ethnozentrischer Nationalismus konnte so in der Schweiz nicht entstehen. Damit soll keinesfalls eine prinzipielle Überlegenheit des Modells der institutionell geprägten Willensnation gegenüber dem Modell der kulturell geprägten Staatsnation behauptet werden – Antisemitismus beispielsweise fand auch in der Schweiz des 19. Jahrhundert guten Nährboden. Es soll vielmehr verdeutlicht werden, dass anderen Staatsmodellen wesentliche Voraussetzungen für einen aggressiven und politisch wirkungsmächtigen Nationalchauvinismus fehlen.
Auch im Vielvölkerreich der Habsburgmonarchie war die Herausbildung eines deutschnationalen Einheitsdenken weitaus schwieriger. So bemühte sich Karl I. nach dem Ersten Weltkrieg darum, die Gliedstaaten des Österreich-Ungarischen Reiches in eine Föderation zu überführen. Zwanzig Jahre später kehrte Österreich – in der Propagandasprache der Nazis – «heim ins Reich». Offensichtlich war auch hier die zweifache – ethnische und politische – «Deutsche Einheit» der leitende Gedanke.
Die Vorstellung eines mit einem Reich oder Staat kongruenten homogenen Volkes war eine wesentliche Voraussetzung für den rassenideologisch untermauerten aggressiven Nationalismus, der im Falle Deutschlands zum «totalen Krieg» und zum Völkermord führte. Ein Aspekt ist aber noch zu ergänzen. Denn es stellt sich die Frage, warum zum Beispiel in Frankreich solche Exzesse nicht (oder nicht in gleichem Ausmass) eingetreten sind, war doch dieser Staat auch mit dem als «Franzosen» verstandenen Volk weitgehend deckungsgleich. Auffallend ist hierbei, dass es sich bei Frankreich um eine jahrhundertealte zentralistische Monarchie handelte, deren grösste Problematik die Überführung in ein republikanisches Staatssystem war. Deutschland dagegen war mit anderen Problemen konfrontiert. Während sich Frankreich 1870 als Republik neu konstituierte, musste das neu zu begründende deutsche Reich 1871 mit der Tradition der seit dem Mittelalter nur lose verbundenen Kleinstaaten brechen, um die politisch partikularistische Kulturnation in eine imperiale Staatsnation zu überführen.
Ohne die von Wehler konstatierten Modernitätsdefizite des Reichs in Abrede zu stellen, erweist sich ein Kernaspekt der Reichsbildung, nämlich die zentralisierende Vereinheitlichung der Kleinstaaten zum Reich, als markanter Traditionsbruch, als progressives Unterfangen, dass die historisch gewachsene Struktur Deutschlands nicht schlagartig, aber doch rapide auflöste.
Eine ähnliche Reichsgründung (ausgehend von der Idee des auf einer Volksgemeinschaft zu begründenden Nationalstaates) erfolgte bereits 1861 in Italien. Wie der deutsche, erwies sich auch der italienische Einheitsstaat anfällig für faschistisches Gedankengut. Hitlers Machtergreifung fand 62 Jahre nach der deutschen Reichsgründung statt, Mussolinis Machtergreifung 61 Jahre nach der Konstituierung des Königreichs Italien. Die zeitliche Nähe mag eine historische Koinzidenz sein – die strukturellen Voraussetzungen aber sind zu ähnlich, als dass ein Zusammenhang negiert werden könnte. In Italien und in Deutschland wurde innert kürzester Zeit eine traditionelle Kleinstaatenwelt in ein einheitliches Imperium auf ethnischer Basis umgewandelt.
Die «Deutsche Einheit» war 1989 das Schlagwort der Stunde – und wurde rasch zu einer Leitidee der neuen Bundesrepublik. Aber, wie der Blick in die Geschichte zeigt, hat die Tendenz zum Einheitsstaat und zum Zentralismus auch ihre Schattenseiten. Wir müssen uns damit abfinden, dass die politische Integration der deutschen Staaten zu einem einheitlichen Reich eine zentrale Bedingung, wenn nicht gar eine zentrale Ursache des deutschen Nationalsozialismus war. Eine besondere Bedeutung kommt hier dem Umstand zu, dass das Deutsche Reich verhältnismässig spät als Einheitsstaat konstituiert wurde und dabei mit der partikularistischen Tradition brach.
Auch wenn die Bundesrepublik von imperialistischer oder gar faschistischer Politik zum Glück weit entfernt ist, häuften sich im Zuge der Krisen der vergangenen Jahre kritische Stimmen zur dominanten Rolle der BRD-Regierung innerhalb Europas. Es ist nicht Ziel dieses Beitrags, diese Regierungspolitik zu kritisieren. Er will aber aufzeigen, dass die Idee der «Deutsche Einheit» historisch belastet ist. Freilich ist die Bundesrepublik Deutschland nicht ernsthaft bestritten. Dennoch sei hier die Frage erlaubt: Gäbe es Alternativen?
Eine verstärkte europäische Integration würde die vom Zusammenfallen von Ethnie und Staat drohende Gefahr sicherlich entkräften. Die Tendenz zu supra- oder postnationalen universalistischen Institutionen birgt aber, wie ich meine, die Gefahr einer elitären, zentralistischen Politik. Föderale oder partikulare Strukturen erlauben eine bessere demokratische Einbindung der lokalen Bevölkerung. Zudem scheinen mir kleinere Einheiten besser geeignet, kollektive Identität zu stiften und Gruppensolidarität zu ermöglichen. Es finden sich also demokratietheoretische und konservative Argumente für den Kleinstaat. Aus dezidiert wirtschaftsliberaler Sicht votieren auch die Ökonomen Andreas Marquart und Philipp Bagus für eine Rückkehr zu einer in Kleinstaaten gegliederten Weltordnung. Der sprechende Titel ihres Essays: «Wir schaffen das alleine».
Das, was wir heute als «Deutschland» verstehen, war vor 1871 ein in kleine politische Einheiten zergliederter Kulturraum. Und eigentlich ist er es heute noch, denken wir an Österreich, die Deutschschweiz, Liechtenstein, Südtirol und deutsche Sprachinseln in anderen Staaten. Vielleicht liegt das «deutsche Wesen» ja gerade nicht im aggressiven Grossreich, sondern im lockeren kulturell konstituierten Verbund von Kleinstaaten.
Lektüre
Echternkamp, Jörg: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus, Frankfurt am Main, New York, 1998.
Fahrmeir, Andreas: Die Deutschen und ihre Nation. Geschichte einer Idee, Ditzingen 2017.
Fichte, Johann Gottlieb: Reden an die deutsche Nation, Berlin 1808.
Marquart, Andreas / Bagus, Philipp: Wir schaffen das alleine. Warum kleine Staaten einfach besser sind, München 2017.
Wehler, Hans Ulrich: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918, Göttingen 1973.