Sie hat einen Beruf gewählt, der grosse Freiheit und grosse Verantwortung vereint. Ashkira Darman ist Geschichtslehrerin am Gymnasium und lehrt Geschichtstheorie nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch auf den Strassen von Zürich. Wir haben mit ihr über die Klimajugend, den Umgang mit kolonialen Denkmälern und die Zukunft ihres Fachs gesprochen.
Ashkira Darman: Das war schon ziemlich früh. Ich komme bereits aus einer Lehrer:innenfamilie: Meine Mutter war Primarlehrerin und hat mich als kleines Mädchen manchmal in die Schule mitgenommen. Ich war ganz begeistert und wollte auch Lehrerin werden. Ich hatte schon immer Freude daran, wenn ich andere dabei unterstützen konnte, Dinge zu verstehen. Nachdem mir nach den vielen Jahren Gymnasium die Lust etwas vergangen war, kam der Wunsch während des Studiums zurück. Durch Stellvertretungen merkte ich auch schnell, dass das der Beruf war, den ich mir vorgestellt hatte.
Ein Teil ist schon Typsache. Die Freude am Fach und das Interesse an den Menschen kann man nicht erlernen. Die Schüler:innen merken, ob jemand kompetent ist und sie ernst nimmt. Wenn man vor einer Gruppe von bis zu 28 Schüler:innen steht, muss man sich aber auch durchsetzen können. Das muss einem bis zu einem gewissen Grad liegen, aber es gibt auch hier einen grossen Teil, den man lernen kann. Das war auch bei mir ein Prozess, der mit Erfahrung verbunden ist.
Es sind genau die Aspekte, die den Lehrer:innenberuf so spannend machen, die sehr intensiv und fordernd sein können: Gerade weil man in diesem Beruf so viele Freiheiten hat, ist es nicht einfach, eine Balance zu finden. Man kann eigen ständig planen und Schwerpunkte setzen. Das ist toll, braucht aber viel Zeit.
Der Grossteil meiner Kollegen und Kolleginnen arbeitet Teilzeit. Untersuchungen zeigen aber, dass viele Lehrpersonen mehr arbeiten, als die Stundenzahl vorgibt. Ein Grund dafür ist, dass zusätzlich zum «Kerngeschäft» Vorbereiten und Unterrichten immer mehr Zusatzaufgaben hinzukommen. Und es hat auch damit zu tun, dass die Lehrpersonen ihren Schüler:innen einen guten Unterricht bieten wollen, und die entsprechende Zeit in die Vorbereitung investieren.
Es sagt niemand, Geschichte sei grundsätzlich nicht relevant. Aber durch Reformprojekte wie dem «Gymnasium 2022» oder dem WEGM-Projekt auf nationaler Stufe wird das Fach an Stunden und somit an Gewicht verlieren, das ist leider so. Beide Projekte sehen eine Erneuerung der Stundentafel vor: Auf nationaler Ebene werden bei den Sozial- und Geisteswissenschaften die Anzahl Grundlagenfächer erhöht. Neben Geschichte und Geografie sollen Wirtschaft und Recht und unter Umständen Philosophie und Religion hinzukommen. Dafür stehen aber nicht mehr Stunden zur Verfügung. Die anderen Fächer müssen also Stunden abgeben. Auf kantonaler Ebene wurde verabschiedet, dass Geschichte und Geografie in der Grundstufe gleichgestellt werden und RKE (Reli gion, Ethik und Kulturen) als Fach hinzukommt.
«Die Schüler:innen merken, ob jemand kompetent ist und sie ernst nimmt.»
Als ein Grund, weshalb Geografie dieselbe Stundenzahl erhält wie Geschichte, wurde das Thema Nachhaltigkeit ge nannt, das angeblich nur vom Fach Geografie abgedeckt wird. Irritierend ist dabei, dass auf nationaler Ebene neu die beiden Themen Politische Bildung und BNE (Bildung für nachhaltige Entwicklung) eingeführt werden sollen. Beim Thema Politische Bildung leistet die Geschichte sicher den zentralen Beitrag am Gymnasium. Und bei meiner Mitarbeit in der Rahmenlehrplangruppe zur BNE hat sich auch gezeigt, dass das Fach Geschichte im Bereich nachhaltige Entwicklung einen genauso wichtigen Beitrag leistest wie Biologie. Aus meiner Sicht wäre eine breitere inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema BNE nötig gewesen. An dieser Stelle muss man auch sagen, dass die Geograf:innen wohl gut lobbyiert haben. Geografie oder auch Biologie. Aus meiner Sicht wäre eine breitere in haltliche Auseinandersetzung mit dem Thema BNE nötig gewesen. An dieser Stelle muss man auch sagen, dass die Geograf:innen wohl gut lobbyiert haben.
In den Schulbüchern ist zurzeit leider sehr wenig zu postkolonialer Geschichte vorhanden. Das Ziel meiner Plattform ist es deshalb, Materialien bereitzustellen, die es den Lehrpersonen ermöglichen, sich auch neben dem Schulalltag in entsprechende Themen einzulesen und Unterrichtsmaterialien zu sammenzustellen. Wie ich festgestellt habe, ist das Interesse bei den Lehrpersonen durchaus vorhanden: Als ich 2019 zusammen mit Kolleg:innen an den Schweizerischen Ge schichtstagen ein Panel zum Thema «Postkoloniale Schweiz im Geschichtsunterricht» geplant habe, wusste ich nicht, ob das irgendwen interessiert. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass im Publikum und auf dem Podium etwa gleich viele Leute sitzen würden (lacht). Wir waren überrascht, wie viele Leute kamen. Die Lehrpersonen im Publikum waren sehr interessiert und wollten alle auch gerne mehr dazu im Unterricht machen. Aber das ist der Punkt: Es können sich halt nicht alle den ganzen Stoff selbst erarbeiten.
Zum Glück passiert hier allerdings mit den laufenden Reformen gerade viel. Für jedes Fach wird der Rahmenlehrplan neu geschrieben und für das Fach Geschichte ist das sehr gut gelungen. Der neue Rahmenlehrplan deckt wichtige Themen und Ansätze wie eine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung sehr gut ab, ermöglicht aber auch eigene Schwerpunktsetzung.
Ich bin im Rahmen der Lehrplanreform Teil der Gruppe Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) gemeinsam mit Vertreter:innen der Geografie und naturwissenschaftlichen Fächern. Dabei zielt der Lehrplan nicht «nur» auf die gängigen Themen wie das Verständnis des Klimawandels ab. Auch soziale Fragen wie Rassismus, soziale Ungleichheit oder unfaire Verteilung der Chancen zwischen den Geschlechtern sind Ausdruck nicht-nachhaltiger Entwicklungen. Zentral ist immer auch die politische Umsetzung entsprechender Massnahmen. All diese Themen stehen im Verlauf des Geschichtsunterrichts im Fokus und werden mit
den Schüler:innen diskutiert, unter anderem mit Bezug auf aktuelle Entwicklungen und Abstimmungsvorlagen. In Bezug auf BNE würde ich mir wünschen, dass sich das Fach Geschichte noch stärker positionieren würde. Für die Thematisierung solcher Inhalte ist auch der postkoloniale
Ansatz sehr gut geeignet. Man kann zum Beispiel fragen, welche Auswirkungen es auf die internationalen Beziehungen hat, dass nach wie vor ein Teil der globalen Geschichte stark vernachlässigt wird.
Vor dem 5. Gymnasium kann das Behandeln von Geschichtstheorien für die Schüler:innen schnell mal überfordernd sein. Damit meine ich zum Beispiel die Lektüre und Analyse von Originaltexten von Bénédicte Savoy oder
Achille Mbembe und das Verfassen von eigenen Texten dazu. Bei einem Besuch der Provenienzausstellung im Rietbergmuseum Anfang der 5. Klasse sind zur Frage der Provenienz und Restitution hervorragende Texte entstanden, für einige Schüler:innen war das aber auch sehr anspruchsvoll. Ein Besuch mit einer 6. Klasse der «Fiktion Kongo»-Ausstellung im Rietbergmuseum und die Auseinandersetzung der Schüler:innen mit den Kunstwerken war sehr bereichernd. Den postkolonialen Ansatz in den Unterricht einfliessen lassen, kann man allerdings auf jeder Klassenstufe.
Damit erreicht man eine grössere Themen- und Perspektivenvielfalt, das ist das Tolle daran. In der Antike kann man sich beispielsweise mit der Darstellung der römischen Gesellschaft beschäftigen. Diese wird in unseren Schulbüchern oder Filmen praktisch immer weiss dargestellt. Das stimmt aber so einfach nicht. In England zum Beispiel haben Forschungen ergeben, dass die römischen Soldaten die verschiedenen Teile des römischen Reiches widerspiegelten. Dementsprechend lebten auch Menschen mit afrikanischem oder asiatischem Hintergrund auf den britischen Inseln. Mit solchen Themen der Darstellung kann man früh anfangen, damit Stereotype nicht reproduziert werden. Dabei lohnt sich immer auch, aus dem Schulzimmer herauszukommen. Mit einigen Schüler:innen haben wir etwa einen Rundgang mit ZH-Kolonial gemacht und über die geschnitzte Völkerschau im Schulhaus Hirschengraben und die rassistische Abbildung am Neumarkt 22 diskutiert.
Ich möchte ihnen in erster Linie vermitteln, sich zuerst über die Fakten, die Begrifflichkeit und den historischen Hintergrund zu informieren. Das fehlt mir manchmal in der öffentlichen Diskussion. Bevor man darüber diskutiert, ob etwas rassistisch ist oder nicht, muss man wissen, was Rassismus ist und den historischen Kontext kennen.
«Die Geschichte trägt genauso zum Verständnis von Nachhaltigkeitsfragen bei wie die Geografie.»
In Bezug auf die Abbildung am Neumarkt 22 zeigen die Fakten klar, dass sie eine rassistische Aussage hat. Darüber muss keine Diskussion stattfinden. Dann ist die Frage, was man damit macht. Die Schüler:innen sollen sich aufgrund des Materials eine Meinung zu dieser Frage bilden und da gibt es unterschiedliche Sichtweisen, mit denen sie sich auseinandersetzen sollen. Im Verlauf der Diskussion erkläre und begründe ich meine Position. Aber es geht mir nicht darum, von Anfang an zu sagen, was hier richtig oder falsch ist. Im Zusammenhang mit kolonialen Denkmälern in Europa habe ich mit Erstklässler:innen auch schon über die Black Lives Matter-Bewegung gesprochen. Da war ich sehr beeindruckt, wie informiert die Schüler:innen schon waren.
Auf jeden Fall. Die Schüler:innen sind deutlich politisierter als vor 17 Jahren, als ich angefangen habe zu unterrichten – auch wenn natürlich nicht alle gleich engagiert sind. In der Staatskunde darf die Klasse immer zwei Hauptthemen wählen. Da fällt die Wahl immer wieder auf Nachhaltig-
keitsthemen wie zum Beispiel die Energiepolitik. Zu diesenführen sie dann beispielsweise Interviews mit Politiker:innen. Inzwischen habe ich sogar Erstklässler:innen, die schon in Jungparteien sind. Das bewundere ich sehr. Diese Entwicklung beobachte ich auch im Verein Solidarität, den ich präsidiere. Dort werden die Schüler:innen in ihrem ausserschulischen Engagement unterstützt, unter anderem von drei Geschichtslehrpersonen. Anfangs waren nur sechs oder sieben Schüler:innen dabei; mittlerweile sind es fast fünfzig.
«Das Fach Geschichte wird an Gewicht verlieren.»
Im letzten Projekt, das ein Schüler initiiert hat, ging es darum, eine Organisation zu unterstützen, die Plastik aus dem Meer fischt. Die Schüler:innen haben innert kürzester Zeit 700 Franken gesammelt. Es ist uns im Verein ein Anliegen, den Schüler:innen die Möglichkeit zu geben, etwas Praktisches mit einem sichtbaren Resultat zu machen, auch ausserhalb des Klassenzimmers. Und es ist unglaublich toll, wie sehr die Schüler:innen bereit sind, Zeit in Projekte zu investieren und Aktionen aufzugleisen.
Allgemein sind immer mehr Schüler:innen engagiert und politisch interessiert. Das heisst aber noch lange nicht, dass alle immer auch interessiert in einer Geschichtsstunde sitzen. Mir persönlich liegt zum Beispiel die Mediävistik am Herzen. Davon sind natürlich nicht alle Schüler:innen gleich begeistert (lacht). Das finde ich auch sehr legitim. Ich probiere es einfach immer wieder aufs Neue. Die Schüler:innen müssen ja auch bis zu vier Prüfungen pro Woche schreiben und jede Dreiviertelstunde kommt eine andere Lehrperson, die überzeugt ist, ihr Fach sei das wichtigste. Da muss man Verständnis haben und realistisch sein. Und ich finde grundsätzlich, dass Geschichte ein sehr dankbares Fach ist, für das sich viele Schüler:innen interessieren.
Ich unterstütze das sehr. Gerade als Geschichtslehrerin ist es mir wichtig zu vermitteln: Wir alle können und sollen am politischen Leben teilnehmen und in unserem Rahmen Einfluss nehmen.
Für mich schon. Man ist in diesem Beruf bei der Themensetzung sehr frei und kann somit auch die Vorschläge und Anliegen von Schüler:innen aufnehmen, mit ihnen zusammenarbeiten und gemeinsam Haltungen entwickeln. Es ist schön, Schüler:innen, die mit 12 oder 13 Jahren an die Kanti kommen und mit 18 oder 19 abschliessen, in dieser wichtigen Phase begleiten zu können. Ihre Entwicklung über sechs Jahre hinweg mitzukriegen, ist unglaublich spannend und lebendig. Und das Allerschönste dabei ist: Ich kann mich jeden Tag wieder von Neuem mit Geschichte auseinandersetzen.
Zur Person
Ashkira Darman ist Historikerin und Geschichtslehrerin am Realgymnasium Rämibühl in Zürich. Sie ihre Dissertation zur mittelalterlichen jüdischen Geschichte an der Universität Zürich geschrieben und setzt sich unter anderem dafür ein, den Ansatz der Postcolonial Studies im Unterricht an den Mittelschulen zu verankern. Seit Jahren ist sie Präsidentin des Vereins Solidarität, in dem Schüler:innen und Lehrer:innen Projekte durchführen, um Menschen in Not zu unterstützen und das Bewusstsein für globale Herausforderungen wie Nachhaltigkeit oder Flucht zu schärfen. Vor kurzem hat sie ihre Website aufgeschatet, auf der sie Materialien für Lehrpersonen für einen postkolonialen Geschichtsunterricht zur Verfügung stellt.