Die Musik konserviert in Partituren, die Literatur in Büchern und die Malerei in Gemälden. Und der Tanz? Wie wurde und wird die jahrhundertalte Kunst der Bewegung überliefert? Wie können Werke – wie beispielsweise der Nussknacker oder Schwanensee – bis in die Gegenwart geläufig sein? Die Konservierung von Tanzchoreografien ist eine komplizierte Angelegenheit, dennoch werden traditionelle Ballette noch heute aufgeführt.
Das Ballett, im 14. Jahrhundert an den Höfen der italienischen Aristokratie entstanden, bestand anfangs aus Gruppentänzen, die in erster Linie zur Unterhaltung dienten. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich der Tanz immer mehr zu einer kodifizierten und performativen Kunstform. Diese durchlief – ähnlich wie Malerei und Mode – verschiedene Phasen und Stile, wobei die Tanztechnik perfektioniert wurde. Die zahlreichen Werke, die noch heute in Theaterhäusern weltweit zu sehen sind, sind das Ergebnis dieser Entwicklung. So führt beispielsweise die Ballettkompagnie Zürich aktuell eine der ersten Versionen des Balletts Giselle auf. Wie schaffen es die Choreograf:innen und Tänzer:innen über fünfhundert Jahre alte Bewegungen zu rekonstruieren und für eine Zuschauerschaft zu reproduzieren?
Die Kunstform des klassischen Balletts ist für ihre akribische Liebe zum Detail bekannt. Traditionell erfolgt die Weitergabe von historischen Choreografien durch minuziöse orale und physische Beschreibung von Ballettmeister:in zu Ballettschüler:in. Nachteilig an dieser Übertragungsgenealogie ist allerdings, dass diese Konservierung immateriell und flüchtig ist und somit das Erinnerungsvermögen des Menschen als Wissensträger:in fungiert. Entsprechend schnell kann dieses Wissen auch verloren gehen.
Weitere Arten der Wissenserhaltung von Werken sind Tanzarchive. Diese konservieren und katalogisieren Fotografien, Videos, Notizen, Kostüme, Masken, Entwürfe und Tanznotationen, welche mit dem jeweiligen Werk in Verbindung stehen. Die Tanznotation – materiell niedergeschrieben – gibt es in unterschiedlichen Ausführungen: Grafische und numerische Systeme, Wegskizzen, Buchstaben- und Wortnotationen. Es existiert keine kanonisierte vorherrschende Methode in der Tanzwissenschaft. Jede Institution, jede:r Choreograf:in benutzt eine Individuelle und so sind die Darstellungen im Nachhinein oft schwer zu entziffern und nachzuvollziehen.
Den Tanzschaffenden ist klar, dass diese Kunstform niemals in der originalen Form reproduziert werden kann, sondern immer nur eine Annäherung an die Uraufführung ist. Vergangene Interpretationen können niemals kopiert werden. Die vorhandenen Wissenslücken im Ballett werden häufig durch Annahmen und Vermutungen überbrückt. Obwohl die Werke bisweilen schon seit Jahrhunderten existieren, geschieht bei jeder Inszenierung zwangsläufig eine zeitgenössische Adaption. Umgekehrt bedeutet dies, dass die Rekonstruktion eines Werks immer ahistorisch ist.
Auch wenn das Ballett auf einer langen Tradition aufbaut, ist dieser Tanz natürlich nicht als historische Wissenschaft zu betrachten. Vielmehr ist sie eine Kunstform, die nicht an der exakten Rekonstruktion vergangener Ereignisse interessiert ist, sondern durch die Erzählung und mit anmutigen Bewegungen die Zuschauerschaft im Hier und Jetzt in den Bann ziehen will. Jede Show ist einzigartig, einmalig und besonders. Sie nähert sich der Uraufführung an und eröffnet dem Publikum einen Blick in vergangene Welten mitsamt historischen Gewändern, Körpersprache und auch rassistischen, sexistischen und eurozentrischen Stereotypen. Die traditionellen Ballette entstanden während der Hochphase des Kolonialismus und Imperialismus in Europa. Auch gegenwärtig werden Wideraufnahmen kontextlos mit diskriminierenden Werten auf der Bühne reproduziert. Wünschenswert wäre eine historische Kontextualisierung von Seiten der Ballettinstitutionen an die Zuschauerschaft.
Die Quellenlage ist dabei höchst fragmentiert. Etliche Werke erhalten ihre Bekanntheit bis heute aufgrund ahistorischer Zugeständnisse und Prämissen, die sich die Kunstform zurecht erlaubt. Es geht nie um eine exakte Klonversion der Premiere, sondern um eine einzigartige Erzählung einer Geschichte, die bei den Zuschauer*innen tiefe Emotionen auslöst. So sagt der Choreograf von Giselle, Patrice Bart, dass seine Choreografie ein Versuch ist, sich durch Archivarbeit und Rekonstruktion möglichst an die Uraufführung anzunähern. Und doch wendet er selbst ein, dass wir niemals wissen können, wie das Stück Giselle zum Entstehungszeitpunkt 1841 genau aussah.