Wenn Menschen sich verbal angreifen, nutzen sie oft sexuell explizite Beleidigungen. Das Gedicht Catull 16 ist der antike Beweis dafür – und zeigt, wie schon im römischen Denken Sex, Geschlecht und Macht zusammenhingen.
CN: Homophobie und sexualisierte Gewalt
«Gib mir tausend Küsse, danach hundert, dann weitere tausend, dann noch einmal hundert, danach in einem fort weitere tausend, danach hundert.» Diese romantischen Verse werden einigen Leser:innen im Gymnasium oder im Lateinkurs begegnet sein. Sie stammen aus dem fünften Gedicht des römischen Dichters Catull (ca. 84–ca. 54 v. Chr.), der mit vollem Namen Gaius Valerius Catullus hiess. Er schrieb unter anderem Liebesgedichte, Erotik und Schmähgedichte über Zeitgenossen wie Cicero und Julius Cäsar.
Heutzutage wirken die massenhaften Küsse aus Catull 5 kaum bemerkenswert, höchstens etwas kitschig. Doch im antiken Rom stellten diese unscheinbaren Verse Catulls Ansehen so sehr infrage, dass der Dichter sich in einem späteren Werk selbst rechtfertigten musste. Dieses letztere Gedicht, bekannt als Catull 16, ist hingegen nicht immer Teil des Schulstoffs – zumindest in meiner persönlichen Erfahrung. Es stellen sich also zwei Fragen: Warum störten sich die alten Römer:innen an «tausend Küssen» in Catulls fünftem Gedicht? Und weshalb scheint sein sechzehntes Gedicht nicht allen Lehrpersonen angemessen für den Unterricht? Es folgt Catull 16 im Original und der Übersetzung von Niklaus Holzberg, die
2009 erschien.
Pedicabo ego vos et irrumabo,
Aureli pathice et cinaede Furi,
qui me ex versiculis meis putastis,
quod sunt molliculi, parum pudicum.
nam castum esse decet pium poetam
ipsum, versículos nihil necesse est;
qui tum denique habent salem ac leporem,
si sunt molliculi ac parum pudici
et quod pruriat incitare possunt,
non dico pueris, sed his pilosis,
qui duros nequeunt movere lumbos.
vos, quod milia multa basiorum
legistis, male me marem putatis?
pedicabo ego vos et irrumabo.
Ich werde euch in den Arsch ficken und in den Mund,
dich, Schwuchtel Aurelius, und dich, Tunte Furius,
die ihr mich aufgrund meiner Verslein,
weil sie weichlich sind, für zu wenig anständig haltet.
Denn sittsam zu sein ziemt dem ehrfürchtigen Dichter
als Person; seine Verslein haben das keineswegs nötig.
Die haben erst dann Witz und Reiz,
wenn sie weichlich sind und zu wenig anständig
und, was geil ist, in Erregung versetzen können,
ich meine: nicht bei Knaben, sondern bei jenen Behaarten,
die ihren starren Unterleib nicht mehr zu rühren vermögen.
Ihr da – weil ihr von vielen tausend Küssen
gelesen habt, haltet ihr mich für keinen richtigen Mann?
Ich werde euch in den Arsch ficken und in den Mund!
Weil meine Lateinlehrerin dieses Gedicht unpassend fand, liess sie es aus dem Unterricht weg. Sie verschwieg auch gänzlich, dass es überhaupt derartige antike Poesie gab. Damit steht sie in einer ehrwürdigen Tradition von Übersetzer:innen, denen besonders Anfang und Schluss dieses Gedichts zu heiss waren. Bei Fritz Grassho (1967) beginnt das Gedicht zum Beispiel mit «Ich stosse euch zu Grus und Mus, ihr fiesen Hunde», bei Jack Lindsay (1948) mit «I’ll show you I’m a man». 1912 liess F. W. Cornish anstelle des ersten Ver ses schlicht ein «[…]» stehen, sparte die zweite Hälfte des Gedichts kommentarlos aus und nannte den Rest dreist ein «Frag ment». Catull, so der Latinist C. H. Sisson um 1967, hätte doch nie der Pornografie in seiner Dichtung so viel Platz eingeräumt. Er folgerte: Die zweite Hälfte des Gedichts stamme gar nicht aus Catulls Feder.
Tatsache ist aber, dass «pedicabo ego vos et irrumabo» in seiner Deutlichkeit und Derbheit kaum besser übersetzt werden kann als «ich werde euch in den Arsch und in den Mund ficken». Wenn diese Obszönitäten frei durch Beschönigungen ersetzt oder ausgespart werden, widerspiegelt dies eher die Hemmungen der Übersetzer:innen. Die anfangs erwähnten tausend und hundert Küsse dürfen dafür im Rampenlicht stehen, weil sie heute harmlos wirken. Doch dies scheint nicht für das antike Rom zu Zeiten Catulls gegolten zu haben. Der Schluss von Catull 16 deutet an, dass gerade diese tausend Küsse in Rom eine missbilligende Reaktion auslösten. Denn Unmengen sanfte Küsse zu verteilen, entsprach nicht dem maskulinen Ideal. Andere Männer von vorne und hinten zu penetrieren hingegen schon: Das war Männlichkeit in Aktion.
Gerade mit Blick auf die zitierten Übersetzungen ist klar, dass der Wandel der Sittlichkeitsvorstellungen seit der Antike moderne Leser:innen vor Herausforderungen stellt. Das heisst nicht, dass Catulls Werk für seine Zeitgenossen unproblematisch war, im Gegenteil: Heutzutage stolpert man einfach über andere Stellen als früher. Um diesen Veränderungsprozess zu erklären, stützen sich Historiker:innen heute oft auf Michel Foucaults Geschichte der Sexualität. Foucault fasste die Grundlage der Sexualität als einen gesellschaftlichen Machtdiskurs auf, der für sein sprachliches Temenfeld definiert, was wahr und falsch, vorstellbar und unvorstellbar ist. Dieser Sexualdiskurs darf aber nicht mit der Sexualität an sich verwechselt werden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens drehte sich Foucaults Werk um Normen, nicht Praktiken. Zweitens setzte Foucault den Ursprung des modernen Sexualitätsbegriffs in das 18. und 19. Jahrhundert. Davor, so Foucault, sei Sexualität und sexuelle Orientierung nicht als definierende Eigenschaft der Identität einer Person wahrgenommen worden.
Deshalb ist Sexualität – und davon abgeleitet Hetero- und Homosexualität – für Historiker:innen, die zur Antike forschen, ein schwieriger Begriff. Foucault ist für sie keine unanfechtbare Autorität, im Gegenteil. Dennoch ist er mitverantwortlich für eine rege kritische Auseinandersetzung mit antiken Sexualitäten, die bis heute andauert. Die aggressive, sehr explizite Tirade aus Catull 16 ist in dieser Diskussion eine häufig zitierte Quelle. Das Gedicht zeigt nämlich anschaulich auf, wie in Catulls Rom Sex, Geschlecht und Macht zusammenhingen.
Zu Catulls Zeiten war Sex nach dem römischen Sexualdiskurs die Penetration einer Person durch eine andere Person mit einem Penis. Weiter bestand die Rolle der Männer darin, zu penetrieren, und die Rolle der Frauen, penetriert zu werden. Penetration wurde somit mit einem Machtgefälle gleichgesetzt: Wer penetriert wurde, begab sich in die Gewalt der penetrieren den Person. Damit Sex als gesellschaftlich akzeptiert galt, musste immer eine mächtigere Person eine ihr untergeordnete Person penetrieren: Männer sollten Frauen penetrieren und freie Personen Sklaven. Päderastie, also Sex zwischen erwachsenen Männern und männlichen Jugendlichen, war nur dann legal, wenn der Jugendliche unfrei war. Der Fokus auf Penetration war so tief verankert, dass Sex zwischen Frauen in den überlieferten Quellen nur mit einem Dildo oder einer übergrossen Klitoris vorstellbar war. Die penetrierende Frau wurde maskulinisiert, genauso wie penetrierte Männer feminisiert wurden.
Das bedeutet, dass der römische Geschlechtsdiskurs grundsätzlich zwischen «Männern» mit Penissen und «Frauen» ohne dieselben unterschied. Diese physiologische Grundlage wurde dann aber durch die soziale Schichtung und in dividuelle Verhaltensweisen untermauert oder infrage gestellt. Gerade die Männlichkeit privilegierter Männer wurde dadurch zur Angriffsfläche. Was Niklaus Holzberg mit «Schwuchtel» und «Tunte» übersetzt, pathicus und cinaedus, stimmt deshalb im Tonfall überein, nicht aber in der Bedeutung. Vielmehr handelt es sich um abwertende Bezeichnungen für Männer, die beim Sex die passive Rolle übernehmen und dadurch feminisiert werden. Es ist irrelevant, ob sie eine Vorliebe für andere Männer haben.
Die wahre Sprengkraft der Verunglimpfung anderer Männer als pathici und cinaedi liegt somit in der Verschränkung von Sex, Macht und Geschlecht. Sollte Catull tatsächlich Aurelius und Furius penetrieren, so würden sie in den Augen der Gesellschaft an Männlichkeit verlieren. Als freie Männer sind alle drei viri, «echte Männer», die ihre virtus, ihre männliche Ehre, verteidigen müssen, um nicht zu ein fachen homines oder gar pueri – Jungen – abgewertet zu werden. Beide Begriffe wurden gerne für Sklaven allen Alters verwendet, also unterdrückte Personen, die als sexuell verfügbar galten. Wenn Catull in seinem fünften Gedicht um tausende von Küssen bittet, anstatt selbst jemanden zu küssen oder einen Schritt weiterzugehen, nimmt er gegenüber seiner Partnerin eine passive Rolle ein. Deshalb stellen Aurelius und Furius seine Fähigkeit oder seinen Willen zur Penetration infrage. Dieser Angriff auf Catulls Männlichkeit erfordert in Rom, wo der ideale Mann ein Krieger ist, Rache. Also schreibt Catull einen antiken «Disstrack»: Er bezeichnet seine Gegner als impotent und droht ihnen zwei Mal mit Vergewaltigung. Ihre Maskulinität wird gleich drei Mal durch den Dreck gezogen, während Catulls virtus durch die Penetration anderer untermauert wird.
Mit den Wirren um Catull 16 ist es damit aber noch nicht getan. Dieser Tage stellen Historiker:innen infrage, wie viel des historischen Gaius Valerius Catullus in seinem lyrischen Ich zu finden ist. Wo früher Catulls Poesie fast autobiografisch gelesen wurde, kann man heute nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob Aurelius und Furius überhaupt reale Personen waren. Zwar schmälert das den Wert des Gedichts als Quelle nicht, heisst aber, dass man es nicht auf reale Begebenheiten zurückführen darf. Genau wie Foucault primär über Sexualdiskurse und nicht ausgelebte Sexualität schrieb, muss man auch Catulls «Disstrack» verstehen. Ähnlich wie die lyrischen Schlagabtausche heutiger Rapper:innen lässt dieser keine sichere Erkenntnis über reelle Personen und ihre Männlichkeiten zu. Dafür liefert Catull ein anschauliches Beispiel, wie im römischen Denken Sex, Geschlecht und Macht zusammenhingen.
Für eine sinnvolle Auseinandersetzung mit dem Gedicht brauchen Leser:innen aber zunächst den Kontext des römischen Sexualdiskurses. Was passiert, wenn dies nicht der Fall ist, zeigen manche Übersetzungen, die das antike Werk auf Grund moderner Prüderie zerhacken. Ich sympathisiere mit meiner Lateinlehrerin, trotz ihres Schweigens über sexuell explizite Dichtung – schliesslich musste sie Teenager:innen unterrichten. Trotzdem sollte es heutzutage für alle möglich sein, auch im Lateinunterricht über mehr als nur tausende von Küssen zwischen Mann und Frau zu sprechen. Davon kann das Image dieses oft als mühsam und verstaubt verschrienen Fachs nur profitieren.
Literatur:
Catullus, Gaius Valerius: Carmina – Gedichte, lat. / dt., hg. u. übers. von Niklaus Holzberg, Düsseldorf 2009 (Sammlung Tusculum).
Hubbard, Thomas K. (Hg.): A Companion to Greek and Roman Sexualities, Malden; Oxford 2014 (Blackwell Companions to the Ancient World 100).
Winter, Thomas N.: Catullus Pu rified: A Brief History of Carmen 16, in: Arethusa 6 (2), 1973, S. 257 265