Er war Journalist, Schriftsteller und Historiker. Seine Tiraden waren berüchtigt, seine Recherchen explosiv und sein Stil unerreicht. Und er hatte eine Mission: Niklaus Meienberg kämpfte für eine Geschichte von unten – ansprechend und für alle verständlich.
Kann ein Historiker einen solchen Satz schreiben: «Oben wird pensioniert, unten wird füsiliert»? Ja, er kann – wenn er Niklaus Meienberg heisst. Und er hat es auch getan: in seinem Buch über Ernst S., einen 1942 hingerichteten Arbeitersohn, der gegen Geld dem deutschen Konsulat in St. Gallen nebensächliche Armee-Interna zuspielte und dafür als Landesverräter erschossen wurde. Gleichzeitig verkehrte der Polizeichef derselben Stadt auf dem Nürnberger Parteitag der NSDA P, woraufhin er lediglich frühpensioniert wurde. Einen solchen Satz konnte also ein Historiker schreiben – aber eben nicht irgendeiner.
Meienberg – 1940 in St. Gallen geboren und 1993 in Zürich gestorben – war Historiker, Journalist und Schriftsteller. Er war, wie es heute noch regelmässig heisst, «umstritten». Ausgedeutscht: Weil er die Reichen und Mächtigen kritisierte, liebten ihn Linke und Progressive. Und aus dem gleichen Grund liessen Bürgerliche Schimpf und Schande auf seinen notorisch unfrisierten Krauskopf regnen. Ungenauigkeit, Einseitigkeit, Respektlosigkeit, mangelnde Vaterlandsliebe und Sexismus wurden ihm zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlicher Seite vorgeworfen.
Unbestritten ist jedoch, dass er die Schweiz geprägt hat – den Journalismus, die Lyrik und vor allem die Geschichtswissenschaft. Sein Ansatz war es, eine Geschichte von unten zu schreiben, die Macht, Reichtum und Privilegien hinterfragt – eine Geschichte der armen Einzelschicksale, die harmonische Vaterlandsmythen zertrümmert, statt sie zu festigen. Damals war das revolutionär, ein regelrechter Skandal. Heute ist es normal – Meienberg und vielen anderen sei Dank.
Meienberg, der zeitlebens an Depressionen litt, die harte Kritik aber für sein Selbstverständnis ebenso brauchte, wie sie ihm zu schaffen machte. Meienberg, der sich zwar sehr gut wehren konnte, aber als Freischaffender meist keinen Zeitungsapparat im Rücken hatte. Meienberg, der schliesslich selbst seinem Leben ein Ende setzte. Er lebt in gewisser Weise weiter in den Seminararbeiten und Reportagen von heute, die sich in Methode und Stil oft unwissentlich an ihn anlehnen. Selbst hat er einmal gesagt: «Einer ist erst tot, wenn man sich nicht mehr an ihn erinnert.» Aber erinnert man sich ausserhalb angegrauter Kreise noch genug an ihn?
Kurze Stille, Nachdenken am anderen Ende der Leitung. «Kaum», findet dann Marianne Fehr, Journalistin und Meienberg- Biografin. «Er ist wie viele in Vergessenheit geraten.» Und das nicht etwa, weil seine Anliegen heute keine mehr seien. Im Gegenteil: «Was er an Problemen beschrieben hat, ist nicht gelöst. Seine Wut hätte er nicht verloren.» Meienberg, so Fehr, habe «ein gutes Näsli» gehabt für Macht, für den Unterschied zwischen oben und unten, den er mit seinen Texten sichtbar machen wollte.
Und so würde Meienberg heute statt Fabrikarbeiter wohl Flüchtlinge befragen, statt den Clan des Erstweltkriegsgenerals Ulrich Wille wohl die Verbandelungen eines gewissen Herrliberger Oberpolteris in Augenschein nehmen. «Er würde immer noch für Aufsehen sorgen», sagt Fehr mit plötzlich kämpferischer Stimme, «wenn er noch leben würde.»
Meienberg war ein Getriebener. Nach abgeschlossener Arbeit versank er regelmässig in Depressionen. Er war streitlustig, aber gleichzeitig auch humorvoll und ein Förderer junger Talente. Austeilen konnte er aber besser als einstecken – öffentlich wie privat. «Nicht pflegeleicht, aber lustig» sei er gewesen, erinnert sich Marianne Fehr, die auch mit ihm befreundet war. Und Stefan Keller, Weggefährte und Kurator einer Ausstellung über ihn, sagt: «Er hat immer ein bisschen posiert, etwas den Meienberg gespielt.»
Meienberg war klassisch gebildet, aufgezogen in der Klosterschule Disentis, wie es sich für einen intelligenten Katholiken gehörte. Er war links, aber ein Patriot. Alte Schule, Schreibmaschinen- Generation, aber auch am Rande der 68er-Bewegung. Ein Macho, aber kein Sexist. Er war eine Art undiplomatischer Vermittler zwischen der alten und neuen Generation, zwischen Linken und Konservativen, zwischen Arbeitern und Studenten. Als solcher war er zerrissen – brauchte Bestätigung hielt es aber auch nicht aus, nicht mehr die junge Kraft zu sein, als die er sich zeitlebens sah.
Wir Historikerinnen und Journalisten brauchen jemanden wie Meienberg: Einen dickköpfigen Kämpfer, dank dem wir heute eine moderatere Version seiner Ansätze und seines Stils gefahrlos praktizieren können.
Doch was trieb ihn an, den Getriebenen? Warum litt und stritt er, statt auch mal den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen? Die Antwort findet sich laut Marianne Fehr bei Meienbergs Mutter. Sie, die einen Katholizismus für die kleinen Leute vertrat, dem Priester nach misslungener Predigt auch mal die Meinung sagte und selbst beim Besuch des örtlichen Gardekaplans diesen mit zum Abwasch abkommandierte, kultivierte in ihrem Sohn einen Gerechtigkeitssinn, der ihn als unbequeme öffentliche Stimme antrieb.
Und so hat Meienberg gern für Aufsehen gesorgt – einerseits, weil er die Bestätigung und Aufmerksamkeit brauchte, vor allem aber, weil das für ihn die Aufgabe eines Journalisten und Historikers war: bequeme Gewissheiten zu hinterfragen und eine Debatte auszulösen. Diese sollte zudem nicht bloss an Universitäten in gelehrtem Rahmen stattfinden, sondern breit sein. Deshalb schrieb Meienberg ansprechende, verständliche und manchmal überspitzte Texte.
Er nutzte seine wachsende Bekanntheit, um durch gute Recherchen und stilistische Provokationen Schweizer Geschichte zu einem heissen Thema zu machen. Mit Büchern über Figuren wie Ernst S. oder Maurice Bavaud, einem gescheiterten Hitlerattentäter aus der Schweiz, thematisierte er die Rolle des Landes im Zweiten Weltkrieg, wies auf den mangelnden Archivzugang für Historikerinnen und Historiker hin und hielt einer Klassengesellschaft, die sich für keine hielt, den Spiegel vor.
Geschichte gehörte für Meienberg in die Öffentlichkeit. Wer sie schreibt, sollte dies für alle verständlich tun, statt im Elfenbeinturm neue Fremdwörter zu erfinden. Mit der Zunft an den Universitäten war er diesbezüglich unzufrieden: «Die meisten Historiker verzichten zum vornherein auf ein grösseres Publikum, ihre Arbeiten sind bloss Bausteine für ihre Karriere», analysierte er 1986 im etü-Interview. Darin kritisierte er scharf eine Methodik, die vor die Quellenanalyse zwanghaft einen theoretischen Überbau und eine Selbstpositionierung des Autors setzte. «Die wesentlichen Sachen weiss er schon zum Vornherein und presst einfach alles in sein Koordinatensystem», beschrieb er einen Historiker mit «falschem Theoriebewusstsein». Stattdessen plädierte er für Offenheit im Umgang mit Quellen – dafür, sich auch einmal in eine unvorhergesehene Richtung treiben zu lassen.
Stil war dabei für Meienberg zentral. Darin fand die Reflexion über den Inhalt statt. Durch ihn wurden dem Leser nicht nur die Fakten und die Quellenlage verdeutlicht, sondern auch die Ansicht und Interpretation des Autors vermittelt.
Ist ein Werk verständlich geschrieben, werden in der Zeitgeschichte zudem die Zeitzeugen zur Kontrollinstanz: Sie können lesen, verstehen und gegen falsche Darstellungen protestieren. Stefan Keller, selbst promovierter Historiker, drückt es so aus: «Wenn du Verhalten auf eine Art abbildest, welche die Abgebildeten nicht verstehen können, ist das voyeuristisch.»
Meienberg war das Gegenteil von voyeuristisch. «Seine Stärke war, dass er Geschichte so schreiben konnte, wie sie die Akteure und Zeitgenossen erfahren hatten», so Jakob Tanner in Fehrs Biographie. Meienberg bezog in einer Zeit mündliche Quellen in seine Arbeit ein, in der diese als unzuverlässig und minderwertig verpönt waren. Daneben nutzte er alle ihm zugänglichen Mittel, um an benötigte Schriftquellen zu kommen. «Erst wenn etwas nicht mehr ganz legal ist, bist du weit genug gegangen», soll er laut Keller jeweils gesagt haben.
Und heute – wie steht es um Meienbergs Erbe unter Historikern? Schweigend nimmt Stefan Keller einen diplomatischen Schluck Kaffee aus seiner Tasse. Und sagt dann, wie es ist: «In der akademischen Geschichte ist man offener geworden, aber die Sprache ist wieder völlig versackt.» Gerade in so wichtigen Gebieten wie der postkolonialen oder der intersektionellen Geschichte seien Texte für Nichteingeweihte oft schwer zu verstehen. «Sie reden von Narrativen, aber sie erzählen nicht!»
Man müsste an der Uni vermehrt lernen, sich gut auszudrücken, findet Keller. Ausserdem, fährt er unbeirrt fort, täte den deutschsprachigen Geschichtswissenschaftlern – «die beamtenhaftesten unter den Historikern» – etwas Anarchisches durchaus gut. «Ich hätte gern etwas mehr Frechheit im Umgang mit Quellen bei unseren Lehrstuhlinhabern.»
Keller selbst hat diese Frechheit – er hat sie mit Büchern über den St. Galler Polizeikommandanten und Fluchthelfer Paul Grüninger oder den 1943 aus der Schweiz ausgeschafften Juden Joseph Spring wieder und wieder unter Beweis gestellt. Und wer ihm zuhört, hat ein bisschen das Gefühl, als hätte sich Niklaus Meienbergs in alle Winde verstreute Asche noch einmal auf einen Kaffee im Volkshaus zusammengefunden. Vielleicht ist er ja doch nicht so tot, wie wir denken.