«Ende der Erinnerung» oder neue Formen des Erinnerns?

«Lange wollte niemand etwas darüber hören» , sagen Zeitzeug*innen im Film «Ende der Erinnerung?» (Bild: Filmstill)

Lange wurde in der Schweiz kaum über den Holocaust gesprochen, erst in den letzten Jahrzehnten kam es vermehrt zu einer öffentlichen Aufarbeitung. Dabei spielen die persönlichen Schilderungen von Zeitzeug*innen eine zentrale Rolle. Aber wie erinnern wir, wenn es bald keine solchen mehr gibt? An einem Filmabend im Zürcher «Kosmos» wurde über das lange Schweigen und die Zukunft des Erinnerns an den Holocaust diskutiert.

«Ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich mache mir Vorwürfe.» Diese Worte des Regisseurs Peter Scheiner machen den Kinobesucher*innen gleich zu Beginn des Films die Dringlichkeit der Thematik bewusst. Er habe der Geschichte seines Vaters zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet, als er mit ihm das Konzentrationslager Mauthausen besuchte, aus dem dieser 1945 von den Amerikanern befreit worden war. Aus dieser Motivation heraus und bewegt von der Auflösung des Vereins Kontaktstelle für Überlebende des Holocaust in der Schweiz stellte Scheiner eine filmische Collage zusammen. Ende der Erinnerung? erzählt die Geschichte der Kontaktstelle und thematisiert das Erinnern an den Holocaust. Ausgangspunkt des Films ist die Feier zur Auflösung der Kontaktstelle 2011: «Ich will damit den Mitgliedern des Vereins eine nachhaltige Präsenz gewähren, wie ich sie meinem Vater nicht mehr geben konnte.» Zwischen die Szenen der Feier wob er Filmausschnitte einer Vereinsversammlung, Interviews mit Mitgliedern und Ausschnitte einer Buchvernissage. Zusammengehalten werden die verschiedenen Teile der Collage von der Musik des Cellisten Mark Varshavsky, der an der Feier spielte.

Die Kontaktstelle wurde 1995 von Gábor Hirsch gegründet. Sie entstand aus dem Bedürfnis, mit Menschen zusammen zu sein, die Ähnliches erlebt hatten, die sich verstanden, ohne etwas erklären zu müssen. Nach Jahrzehnten des Schweigens und der Sprachlosigkeit sollte ein Forum gegründet werden, in dem sie über ihre Vergangenheit und ihr Schicksal Zeugnis ablegen konnten. In den Worten Manfred Rosners, eines langjährigen Mitglieds der Kontaktstelle: «Die Kontaktstelle ist gut, weil sie kein Programm hat. Weil man nicht weiss, warum man sich trifft. Sondern man überlässt es dem Augenblick. Man überlässt es der Notwendigkeit. Und das ist die Grösse der Kontaktstelle.» Die Gruppe wuchs mit der Zeit bis auf 400 Personen an. Sie waren selbst überrascht, wie viele Überlebende des Holocaust sich in der Schweiz niedergelassen hatten. Für viele Mitglieder war es die einzige Möglichkeit, über das zu sprechen, was sie sogar im Kreis ihrer eigenen Familie vermieden hatten.

«Zum ersten Mal sind wir nicht unter uns»

So wertvoll der Verein für die Mitglieder war, von aussen bekam er wenig Unterstützung und öffentliche Anerkennung. Dies wird in den Worten Ivan Lefkovits’, eines Vorstandsmitglieds, bei der Feier zur Auflösung der Kontaktstelle deutlich: «Zum ersten Mal sind wir, die Mitglieder der Kontaktstelle, nicht unter uns, aber in einem anderen Milieu.» Das komme aber alles viel zu spät, meint Christa Markovits, ebenfalls ein Vorstandsmitglied, die Hälfte von ihnen sei ja bereits verstorben. Aber es sei trotzdem schön, «immerhin öpis». Sie hätten sich als Verein konstituiert, um mehr Gewicht zu bekommen, dennoch seien sie die ganze Zeit praktisch völlig ignoriert worden. Hirsch meint, sie hätten nie Unterstützung erhalten, seien mehr oder weniger totgeschwiegen worden. Seinem Antrag, in die Task Force for Int. Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research aufgenommen zu werden, wurde nicht stattgegeben.

An der Feier zur Auflösung der Kontaktstelle erhielt der Verein also die Aufmerksamkeit, die er sich während seines Bestehens gewünscht hatte. Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss meinte in ihrer Rede, der Verein werde aufgelöst, «weil sie ihn selber auflösen wollen», und sie die Auflösung nicht dem «natürlichen Tod» überlassen, sondern alle zusammen einen Beschluss treffen wollten. Dennoch sei es nicht nur eine Trauerveranstaltung, sondern auch ein Siegestag, da die Überlebenden trotz des Grauens mehrfach gesiegt hätten – indem sie wieder lieben, eine Familie gründen, Kinder grossziehen konnten. Und sie hätten ihre Aufgabe als Zeug*innen wahrgenommen. Spät, weil es so schmerzlich war, darüber zu sprechen. Spät, weil sie Kinder und Geliebte nicht damit belasten wollten. Einige Mitglieder meinten aber, es sei nicht nur zu schmerzhaft gewesen, darüber zu sprechen. Oft sei es auch nicht erwünscht gewesen. Lange wollte niemand etwas darüber hören, sie wurden als Aussätzige angesehen, wenn sie darüber sprachen. Nun sei das Interesse vorhanden, und es gebe noch viel zu erzählen.

Formen des Erzählens

Einen Weg, dies zu erzählen, wählten einige Mitglieder der Kontaktstelle mit einer Büchersammlung. Diese Sammlung, mit der sie ihre Arbeit als Verein gewissermassen beendeten, konnte nur mit Unterstützung aus Deutschland verwirklicht werden. In Mit meiner Vergangenheit lebe ich erzählen 15 Mitglieder der Kontaktstelle ihre Erlebnisse. Ermöglicht wurde die Produktion zu einem grossen Teil durch die finanzielle Unterstützung des Malers Gerhard Richter. Er gestaltete auch die Titelseiten der 15 Hefte. Aus seiner vierteiligen Gemäldereihe Birkenau wählte er Ausschnitte für die jeweiligen Texte. Die Bilder basieren auf vier heimlich aufgenommenen und aus dem Lager geschmuggelten Aufnahmen, die er mit mehreren Farbschichten in grau und schwarz, dunkelrot und giftgrün übermalte. Mit diesen Bildern wollte er die Unmöglichkeit zum Ausdruck bringen, sich ein Bild davon zu machen.

Die vierteilige Bilderreihe Birkenau von Gerhard Richter (Bild: Filmstill Ende der Erinnerung?)

Doch auch wenn es unmöglich scheint, sich ein Bild zu machen, der Holocaust darf nicht als unvorstellbar und undenkbar angesehen werden. Denn das ist er nicht – schliesslich wurde er mal gedacht, wurde er vorgestellt. Die Aufgabe von uns, die später geboren und das Grauen nicht miterlebt hatten, ist es, sich dem zu stellen. Berichte von Zeitzeug*innen sind hierfür eines der wertvollsten Mittel. Dies zeigt der Film eindrücklich mit Szenen aus der Universität Bern. Eduard Kornfeld, ein Überlebender, spricht am Institut für Judaistik vor einer Gruppe Studierenden. Eindringlich erzählt er von seinen Erfahrungen, beschreibt die Ankunft im Lager, das Aussortieren durch den Lagerarzt Mengele. Er berichtet, wie er erst allmählich realisierte, dass er in Auschwitz war, dass das Gebäude mit dem Schornstein keine Bäckerei, sondern die Gaskammer war. Und wie er sich nach dem Krieg und seiner siebenjährigen Genesungszeit das Aufenthaltsrecht und eine Ausbildung in der Schweiz erkämpfte. Die Gesichter der Studierenden zeigen ihre Betroffenheit, zeigen, wie die persönliche Schilderung unter die Haut geht und aufrüttelt.

Wie geht die Erinnerung weiter?

Wie kann das in Zukunft erzielt werden, wenn Augenzeugenberichte fehlen? Natürlich gibt es unterdessen zahlreiche Filme, Bücher und Ausstellungen, doch den Effekt der direkten, persönlichen Schilderung können diese Formate nicht ersetzen. Ein*e Zeitzeug*in hat eine besondere Deutungshoheit. Nun stellt sich die Frage, wie wir als Gesellschaft das Erinnern an den Holocaust in Zukunft organisieren, wie vor allem auch Junge erreicht werden können. Das Archiv für Zeitgeschichte beispielsweise organisiert Workshops mit Überlebenden in Schulklassen auf Sekundarstufe. Die Schüler*innen hören sich zunächst einen Erlebnisbericht an, anschliessend können sie in ein Gespräch einsteigen. Diese Begegnungen wurden teilweise aufgenommen und können in Zukunft verwendet werden. Die Dringlichkeit, die Jungen zu erreichen, zeigt sich auch im Kinosaal im Kosmos: Neben mir und meiner Freundin lassen sich die jungen Zuschauer*innen an einer Hand abzählen, eine davon hat selbst Holocaust-Überlebende in der Familie, ist also persönlich betroffen.

Eduard Kornfeld erzählt an der Universität Bern. (Bild: Filmstill Ende der Erinnerung?)

Eine mögliche Weiterführung der Erinnerung ist das geplante Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus, das in Bern geschaffen werden soll. Gemäss Gregor Spuhler, Leiter des Archivs für Zeitgeschichte und Mitinitiant des Projekts, geht es darum, dass sich die Schweiz mit der eigenen Geschichte in Bezug auf den Nationalsozialismus auseinandersetzt. Die Schweizer Opfer sind zwar eine verhältnismässig kleine Gruppe, jedoch soll auch die Rolle der Schweiz in der Flüchtlingspolitik thematisiert werden, sowie Schweizer*innen, die Verfolgten geholfen haben. In der Schweiz werde zu wenig erinnert und vor allem zu wenig diskutiert, was die Handlungsspielräume waren, wie man sich gegenüber einem verbrecherischen Regime verhalten hat und verhalten sollte. Neuartig ist an diesem Memorial, dass es vom Bund getragen wird und der Staat herausgefordert wird, sich mit den Opfern des Holocaust in der Schweiz auseinanderzusetzen. Geplant sind drei Teile: ein Gedenkort im öffentlichen Raum, ein Vermittlungsort, sowie eine virtuelle Vernetzung der bereits bestehenden Denkmäler.

Das Konzept ist vielversprechend. Nun ist es an uns als Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass sie umgesetzt werden. Dass der Moment nicht verpasst wird, neue Formen des Erinnerns zu finden. Damit es kein Ende der Erinnerung gibt.

Links:

Zum Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus, das in Bern geschaffen werden soll (AfZ): https://swissmemorial.ch/

Zum Film Ende der Erinnerung?: http://www.ende-der-erinnerung.ch/

Zum Buch Mit meiner Vergangenheit lebe ich: https://www.suhrkamp.de/buch/-mit-meiner-vergangenheit-lebe-ich–t-9783633542772