«Es gibt nichts Traurigeres, als HistorikerInnen, die behaupten, sie hätten keine politische Haltung! »

HISTORIKER IM BERUF

Vor wenigen Jahren studierte Jon Pult noch Geschichte an der Uni Zürich, heute gilt er als einer der vielversprechendsten jungen Sozialdemokraten und hat Aussichten, als Bündner Nationalrat gewählt zu werden. Trotz anstrengendem Wahlkampf nahm er sich im Sommer Zeit, um mit dem etü über Dinge wie grosse Erzählungen, sein Leben als Historiker in der Politik und seine persönlichen Helden des Alltags zu sprechen.

 

Etü: Die Rubrik, in der wir das Interview veröffentlichen, heisst «Historiker im Beruf». Was ist eigentlich Ihr Beruf?

John Pult: Das ist gar keine so einfache Frage. Eigentlich bin ich ja als Historiker ausgebildet, aber ich mache Politik. Meine politischen Mandate und Aufgaben füllen mich zeitlich ziemlich aus. Ich habe also keinen fixen Job im traditionellen Sinn. Wer aber Max Webers Aufsatz «Politik als Beruf» kennt, der weiss, dass Politik durchaus ein Beruf sein kann. In der Schweiz ist diese Tradition nicht so verbreitet wie in anderen Ländern, und der Beruf des Politikers wird als suspekt betrachtet. Doch die politische Arbeit ist eine grosse, finanziell nicht besonders attraktive Leidenschaft von mir. Solange ich keine Familie und keine hohen Fixkosten habe, kann ich mir dieses Leben leisten.

 

Etü: Sehen Sie sich noch als Historiker?

Pult: Ich habe schon ein gewisses Selbstverständnis als Historiker. Ich habe gelernt, historisch zu denken und zu argumentieren. Die Geschichte ist für mich eine wichtige Kategorie. Sie hilft mir dabei zu verstehen, was um mich herum passiert. Meiner Meinung nach ist ein Geschichtsstudium eine äusserst nützliche Grundbildung für die Politik, wie es auch die Juristerei sein kann. Ich finde, die Kategorie des Historischen sollte als Analyseinstrument stärker in den politischen Diskurs Einzug halten.

Ich habe mich aber nicht unbedingt in Hinblick auf die Politik für das Geschichtsstudium entschlossen. Ich war schon immer ein politischer Mensch und historisch interessiert. Mich interessieren gesellschaftliche Zusammenhänge, Machverhältnisse und Entwicklungen. Deswegen habe ich Geschichte studiert. Ich habe zwar während langer Zeit mein Studium zugunsten der Politik vernachlässigt, heute sind die beiden Bereiche für mich aber nicht mehr klar voneinander trennbar. Politische Aktivität und historisches Denken sind Teil meines Lebens seit ich 20 bin.

 

Etü: Änderten sich ihre politischen Ansichten im Verlauf ihres Geschichtsstudiums?

Pult: Ich habe durch das Geschichtsstudium sicherlich Impulse erhalten. Schliesslich ist das Historische Seminar der Uni Zürich durchaus ein politisierter Ort, sowohl auf Seiten der Dozierenden und Professoren als auch auf Seite der Studierenden. Von daher wirkte das befruchtend auf mich. Aber es ist nicht so, dass das Geschichtsstudium meine politische Identität massgeblich geprägt hat. Ich fing als politischer Mensch an zu studieren, machte während des Studiums viel Politik, und schloss mein Studium als politischer Mensch ab.

 

Etü: Heute erfahren die Studierenden immer wieder die Kritik, sie seien zu unpolitisch und sie brächten sich nicht genug in die Gesellschaft ein. Wie politisch empfanden Sie die Studierenden während Ihrer Studienzeit?

Pult: Vor allem die Neuzeitseminare empfand ich immer als sehr politisch – die Diskussionen waren oft sogar eher politisch als historisch. Die meisten Dozierenden, bei denen ich Seminare besuchte, hatten transparente politische Haltungen, die sie dezidiert vertraten, ohne dabei unwissenschaftlich oder unfair zu werden. Ich empfand das Historische Seminar als ein politisches Umfeld. In der Unipolitik war ich aber nie aktiv. Ich hatte genug Politik durch mein sonstiges Engagement. Wenn ich mich dem Studentenleben gewidmet habe, dann habe ich mich anderweitig vergnügt. Nebst dem, dass man ja auch noch ein bisschen lernen, schreiben und lesen musste (lacht).

 

Etü: In der jüngsten Debatte um Marignano und dergleichen hält die Geschichte Einzug in die Politik und umgekehrt. Was hat Geschichte mit Politik zu tun? Soll sie etwas damit zu tun haben?

Pult: Geschichte wird immer politisch sein, denn Geschichtsschreibung ist immer geprägt vom Kontext in der sie entsteht und darum nie ganz objektiv. Die Analyse und die Erzählung der Vergangenheit sind immer auch ein politisches Statement. Um Geschichtsbilder zu kämpfen ist eine ständige Disziplin der politischen Auseinandersetzung. Aber natürlich gibt es Unterschiede zwischen dem Kampf um Geschichtsbilder und der Geschichtswissenschaft. Ich verfasse eine wissenschaftliche Arbeit an der Uni anders als einen politischen Artikel in einer Zeitschrift. Methodisch bestehen klare Differenzen. Damit Geschichte als Wissenschaft bezeichnet werden kann, muss die Methodik transparent sein. Sie verlangt nach Quellennachweisen, und es muss nachvollziehbar sein, wie man als Historiker zu seinen Schlüssen kommt. Aber letztlich kann ich Geschichte und Politik nicht strikt voneinander trennen.

 

Etü: Die Geschichtswissenschaft soll also auch im universitären Rahmen politisch Stellung beziehen?

Pult: Selbstverständlich! Mir ist wichtig, dass die Leute transparent sind und deutlich machen, wo sie stehen. Es gibt nichts Traurigeres als Historikerinnen und Historiker, die behaupten, sie hätten keine politische Haltung. Das ist einfach naiv, das gibt es gar nicht. Denn es ist klar: Wenn du ein Bild der Vergangenheit zeichnest, dann geschieht das im politischen Raum.

 

Etü: Fühlen Sie sich in Diskussionen mit Politikerkolleginnen und -kollegen aufgrund ihres Historikertums manchmal unverstanden? Schliesslich sind die Mehrheit der Politiker und Politikerinnen Juristen oder Ökonomen.

Pult: Nein, im Gegenteil! Gerade weil sich nicht so viele Historiker in der Politik bewegen, besitzt du im historischen Bereich gewissermassen ein Argumentationsmonopol. Da kannst du auch mal den Besserwisser raushängen. Es wimmelt von Juristen und alle behaupten fachkundig etwas anderes. Die Ökonomen entwerfen – oft unverständliche – Modelle für die Zukunft. Der Historiker wirkt da bodenständiger, weil er seine Argumentation aus der Vergangenheit bezieht. Dadurch wird er in der Diskussion eher ernst genommen. Ich muss manchmal fast aufpassen, dass ich meine Argumente nicht zu stark mit der Autorität des Historikers untermaure, denn in vielen Gebieten bin ich ja auch nicht so sattelfest.

 

Etü: Sie werden als Politiker mit einer Vielzahl an Prädikaten belegt. Unter anderem mit: «Nachwuchshoffnung», «Geheimwaffe», «Genosse Stammtisch», «Bündner Pragmatiker» oder «künftiger Bundesrat». Welche Bezeichnung mögen Sie am liebsten?

Pult: Ich habe ein gespaltenes Verhältnis zu diesen Prädikaten. Sie sind ja alle positiv gemeint und ich fühle mich natürlich durch sie «gebauchpinselt». Gleichzeitig versuche ich Distanz dazu zu wahren. Denn in der Politik ist der Grat zwischen dem höchsten Lob und der Verurteilung zum «Hinterletzten» sehr schmal. Ich möchte mich deswegen auch nicht für ein Lieblingsprädikat entscheiden.

 

Etü: Die Prädikate passen zu unserem Heftthema «Heldinnen und Helden». Man könnte Sie beispielsweise als «Held der Sozialdemokratie» bezeichnen. Glauben Sie, es braucht Helden und Heldinnen für den Zusammenhalt einer Gesellschaft?

Pult: Die Figur einer Heldin oder eines Helden birgt etwas Gefährliches, weil sie keine Differenzierungen zulässt. Sie geht zu sehr davon aus, dass Einzelpersonen den grossen Unterschied ausmachen bei der Veränderung der Welt. Was es aber braucht – ich würde nicht die Bezeichnung Held oder Heldin verwenden – sind engagierte Menschen, die das Rückgrat haben, für ihre Überzeugungen einzustehen. Auch dann, wenn es schwierig wird, und sie gegen den Strom schwimmen müssen. Das ist Zivilcourage. Das ist sehr wichtig, damit eine Gesellschaft funktioniert und zusammengehalten wird. Nur dadurch entsteht gesellschaftlicher Fortschritt. Insofern sind einzelne Menschen als engagierte Bürgerinnen und Bürger sehr wichtig. Menschen, die sich in ihrer Nachbarschaft einsetzen, sich in einer Bürgerbewegung oder NGO engagieren und für Grundrechte einstehen oder sich wehren gegenüber ausgrenzenden oder chauvinistischen Tendenzen in der Gesellschaft – das sind für mich Heldinnen und Helden des Alltags. Davon wünsche ich mir mehr.

 

Etü: Die Erwartungen an das «Polittalent» Pult sind sehr hoch. Wie hoch sind Ihre eigenen Erwartungen? Haben Sie ein Ziel?

Pult: Mein unmittelbares – wenn auch sehr schwieriges – politisches Ziel ist es, am 18. Oktober als Nationalrat gewählt zu werden, weil ich mithelfen möchte, die nationale Politik in die Richtung zu bewegen, die ich als richtig empfinde: Ich kämpfe für eine offene Schweiz und für eine solidarische Gesellschaft mit einer intakten Natur. Längerfristig ist es mein Ziel, nicht dermassen vom politischen Betrieb aufgefressen zu werden, dass ich den Blick für das Wesentliche und das grosse Ganze verliere. Das ist eine Tendenz, die ich in der Politik beobachte. Es besteht die Gefahr, dass der politische Betrieb, die Taktik, ein übersteigerter Pragmatismus im Sinne einer ausschliesslichen Technik der Macht, den Blick fürs Wesentliche verstellt. Hierfür bist du auf ein gutes Umfeld angewiesen, das dich auf den Teppich zurückholt, wenn du zu sehr in die Sphäre des politischen Spiels abzudriften drohst.

 

Etü: Können Sie sich als Bundesrat vorstellen?

Pult: Ehrlich gesagt, macht es mir ein wenig Angst, wenn Leute das öffentlich sagen. Ich stelle mir diesen Job unglaublich schwierig und anstrengend vor. Ich weiss nicht, ob ich dazu im Stande wäre. Andererseits willst du, wenn du dich für die Politik entscheidest, Hebel in der Hand halten, die es dir ermöglichen, ein Land oder eine Gesellschaft in die Richtung zu verändern, in die du möchtest. Und im Bundesrat hast du wohl etwas grössere Hebel als anderswo.

 

Etü: Sie sind vor allem durch zwei Themen zu nationaler Bekanntheit gelangt: Für Ihren Einsatz als Präsident der Alpen-Initiative und für Ihre Kampagne gegen die Olympischen Spiele in Graubünden. Beides sind Themen, die in Graubünden im Brennpunkt sind, jedoch auch national und sogar international bedeutsam sind. Ist das Ihr Rezept: In Graubünden die Welt verbessern?

Pult: «Think global, act local» finde ich keine schlechte Grundhaltung  in der Politik. Oder in Worten eines Historiker: «Grabe, wo du stehst.» Ich glaube, es ist in der Politik sinnvoll, dort aktiv zu sein, wo du bist: regional, lokal, vor Ort – aber man muss sein Tun in einen globalen Zusammenhang setzen. Einerseits habe ich mich gegen die Olympischen Spiele im Kanton Graubünden eingesetzt, weil sie ökologisch und wirtschaftlich schlecht für den Kanton Graubünden gewesen wären, andererseits weil die durchkommerzialisierte Sportwelt des IOC, die kaum Rücksicht auf andere Werte nimmt, in einer demokratischen Gesellschaft nicht mehr tragbar ist. Ich wollte also in Graubünden, wo das Volk darüber entscheiden konnte,zeigen: «Wir sind nicht käuflich! Wir wollen unsere Zukunft nicht von einer  korrumpierten Sportfunktionärs-Elite fremdbestimmen lassen.»

 

Etü: «Die Sozialdemokratie muss wieder grosse Geschichten erzählen, sie muss Begriffe wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität zurückerobern.» So werden Sie in einem Porträt der WOZ vor 5 Jahren zitiert. Sehen Sie das immer noch so? Hat sich in der SP etwas diesbezüglich geändert?

Pult: Es hat sich sehr viel getan in der SP in den letzten fünf Jahren. Hoffungsvoll finde ich beispielsweise, dass eine relativ breit abgestützte neue Generation von jungen Frauen und Männern sich politisch engagiert und Verantwortung in der Partei übernimmt. Leute, die heute zwischen 30 und 50 sind, hat es ganz wenige. Ebenso erkenne ich eine starke Grundwerte-Orientierung. Freiheit, Gleichheit, Solidarität werden in dieser Generation wieder grösser geschrieben. Das Dreigestirn der französischen Revolution, die Basis eines progressiven Denkens und Fühlens, ist wieder stärker in der Partei verankert.

 

Etü: Widerspricht die «grosse Erzählung» nicht Ihrer Art von Politik?

Pult: Ich würde nicht sagen, dass das ein Widerspruch darstellt. Alles, was du im Kleinen und Pragmatischen machst, muss einigermassen konsistent sein mit den grossen progressiven Idealen und ihrer Erzählung. Ich mache also keine Politik, die gegen die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Solidarität verstösst – auch im Kleinen nicht. Es ist immer wieder eine Arbeit und intellektuelle Herausforderung, die eigene Alltagspolitik durchzudenken auf die Konsequenzen, die sie für die grossen Ideen hat. Gerade das ist das Spannende an der Realpolitik. Es ist ein ständiger Kampf zwischen Ideal und Verantwortungsethik. Die Kunst ist, diese Dinge zusammen zu denken und entsprechend zu handeln.

 

Etü: Könnten Sie sich auch vorstellen, die Aktivpolitik einmal an den Nagel zu hängen und etwas ganz anderes, beispielsweise eine wissenschaftliche Karriere, anzustreben?

Pult: Ich würde es nicht kategorisch ausschliessen. Ich kann mir vorstellen, dass ich einmal politisch ausgebrannt sein werde. Bisher habe ich es geschafft, mich immer wieder aufs Neue zu motivieren, aber irgendwann habe ich vielleicht genug. Dann wäre eine wissenschaftliche Arbeit allenfalls wieder ein Thema. Aber zurzeit gefällt mir die Dynamik der politischen Auseinandersetzung besser als die Vorstellung mich im Forschungsalltag zu bewegen.

 


Zur Person

Jon Pult kam 1984 als Sohn einer Italienerin und eines Bündners in der Schweiz zur Welt. Er studierte Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich. Seine Lizentiats-Arbeit schrieb er über die Geschichte der Rhätischen Bahn. Als knapp 20-jähriger wurde er in das Churer Stadtparlament gewählt und seither ist er von der öffentlichen Politik nicht mehr losgekommen. Pult ist heute Präsident der Alpen-Initiative und der SP Graubünden. Zudem hält er einen Sitz im Bündner Grossrat inne und ist Mitglied der gewichtigen Geschäftsprüfungskommission. In den kommenden Wahlen kandidiert er für den Nationalrat.

 

Bild: Nicolas Hermann