Christian Lindner, Zugpferd der FDP Deutschland, hielt gestern an der Universität Zürich für die SIAF-Vortragsreihe einen Vortrag «Zur politischen Lage Europas». Die Rede war von beeindruckender Eloquenz und gewaltiger Rhetorik, die Inhalte die erwarteten. Der Abend sorgte für wenig Überraschung, dafür für einiges an Unterhaltung.
Als – und das müsse nun doch auch mal gesagt werden – «elegante Erscheinung» wurde Christian Lindner gestern von Martin Meyer im Vorlesungssaal angekündigt. Ein «endlich wieder richtiger Liberaler», dessen «unorthodoxe aber dafür ehrliche Meinung» und Standhaftigkeit hierzulande wohl mehr geschätzt werde als in Berlin. Tosender Applaus und der FDP-Chef trat vor das Rednerpult.
«Endlich, … », rief Lindner einem Meer aus hellblauen und weissen Hemden im Saal entgegen und führte schon die erste Kunstpause ein, von denen im Verlauf der Rede noch einige folgen würden. Endlich sei er wieder hier, könne wieder die Luft der Freiheit in der Schweiz atmen, nachdem er das sozialistisch regierte Berlin verlassen habe. Nachdem Lindner mit diesem nicht ganz ernst gemeinten Einstieg bereits den grossen Teil der Hemdträger für sich gewonnen hatte, beantwortete er gleich die titelgebende Frage der Veranstaltung: Die Frage nach der politischen Lage in Europa? Die sei einfach zu beantworten: «Wir haben […Kunstpause…] eine Regierung!» Zustimmendes Gelächter und eifriges Genicke als Lindner erläuterte, dass die Frage danach, wann eine Regierung entstehe doch am Ziel vorbeischiesse. Die Frage sei nicht, wann die Regierung entstehe, sondern viel mehr was genau ihre Aufgaben seien.
Wie das deutsche Volk scheinbar «unbedingt regiert werden möchte» und die Schweizer im Gegensatz begriffen hätten, dass vielmehr zähle, was die Einzelperson durch privates Engagement «in Freiheit» initiieren könne. Die folgenden Ausführungen waren nicht minder prägnant und amüsant zuzuhören: Die Grüne Partei habe sich zum Ziel genommen, die Menschen zu erziehen, die FDP hingegen wolle die Menschen befreien. Die CDU will […Kunstpause…] gar nix. Gelächter. Es folgte eine Anekdote aus seiner Kindheit im Rheinland: Der kleine Lindner auf dem Karnevalswagen, der merkt, je mehr Bonbons er den Leuten am Strassenrand zuwirft, umso mehr fallen zwar auf den Boden, desto grösserer Applaus kommt ihm aber zu. So funktioniere auch Politik: «Die deutsche Regierung will […Kunstpause…] populär werden.» Das zeige sich darin, dass mehr Geld für die Mütterrente ausgegeben werde als für Bildung. Immerzu kamen auch Vergleiche mit Frankreich: Während Macron die Steuern gesenkt habe, habe Merkel sie erhöht. Frankreich werde deutscher, Deutschland französischer. So habe er sich die Deutsch-Französische Annäherung nicht vorgestellt. Gelächter.
Lindner sprach über Macron und meinte sich selbst
Solange den Politikern der Wille zur Veränderung fehle, würden weiterhin autoritäre rechtskonservative Politiker auf «Protestwellen in die Parlamente Europas reiten». Dabei zeigten die Beispiele von Marine Le Pen und Geert Wilders, von Macron und Rutte, dass Politiker, welche Mut zur Veränderungsbereitschaft zeigten, sich durchaus gegenüber den Autoritären durchsetzen können. Lindner unterschied drei Typen von Politikern: Die «Amtsverweser», welche die Ängste des Volkes teilten aber keine Innovation zeigten, die «Demagogen», welche die Ängste des Volkes ausnutzten und zuletzt schliesslich jene Politiker, welche die Ängste des Volkes zwar kennen würden aber jenes durch Mut davon befreien würden.
Durch Mut sein Volk von der Angst befreien, genau das mache momentan ein eloquenter, gutaussehender 40-jähriger. Lachen im Saal, während Lindner sich für einen längeren Moment schmunzelnd umblickt. Nein, nein, er spreche natürlich nicht von sich selber, sondern von Emmanuel Macron. Schliesslich sei er selbst erst 39. Erneutes Gelächter. Bei Szenen wie diesen wurde man am gestrigen Abend immer wieder an einen Satz erinnert, den die NZZ 2004 anlässlich einer Rede Christoph Blochers über Churchill am selben Rednerpult geschrieben hatte: «Blocher sprach über Churchill und meinte sich selbst.» Sprach Lindner von Macron und meinte sich selbst? Auf diesen Punkt angesprochen, würde sich Lindner während der Fragerunde aber noch von Macron distanzieren. Dieser sei Anführer einer Bewegung, welche sich auf Ideale und Moral stütze. Er selber sei Vorsitzender einer demokratischen Partei in einem Lande, das seine Werte in Traditionslinie zur französischen Revolution, Hegel und der amerikanischen Bundesverfassung sehe.
Es folgte eine Darstellung des Elans und Reformwillens des französischen Präsidenten. Während Macron also mit Selbstbewusstsein auf Donald Trump zugehe und Reformen in der europäischen Währungsunion plane, sei Angela Merkel «gefangen zwischen CSU und SPD» und fürchte die Populisten auf der Strasse.
Dann kam Lindner auf sein nächstes grosses Thema des Abends zu sprechen, «das grösste politische Sprengstoffthema zu jeder Zeit: […Kunstpause…] die Migration.»
«Praktische Alltagsvernunft» als Lösung
Der Begriff des «Gesunden Menschenverstandes» der allerspätestens durch AfD-Gründer Bernd Lucke aus dem politischen Vokabular gestrichen wurde, ist bei Lindner nun die «praktische Alltagsvernunft des Menschen». Sie müsse zu Rate gezogen werden, um die Probleme der Migration in Deutschland zu lösen. Wie schon bei der Umschreibung der verschiedenen Typen von Politikern, hatte Lindner auch hier eine praktische «drei Arten von…»-Lösung: Bei Flüchtlingen sollten drei Arten unterschieden werden, wobei «individuell Verfolgte» und «als Gruppe verfolgte» die ersten zwei Gruppen bildeten. Diese sollten sofort Einlass erhalten, aber eben auch sofort arbeiten können. Sollte sich an ihrer politischen Lage etwas ändern, so müssten sie zurück ins Herkunftsland, ausser sie könnten sich über den regulären Bewerbungsweg eine Arbeit besorgen. Die dritte Gruppe sollte unter Voraussetzung eines normalen Bewerbungsverfahrens sich in Deutschland bewerben können. In der Fragerunde am Ende würde Lindner später noch erwähnen, dass man leider viele Themen nicht mehr ansprechen könne, ohne in die AfD-Ecke gedrängt zu werden. Ob er sich hier auf #Brötchengate bezog?
Die Fragerunde am Ende war so rege, dass ein Zuschauer in den hinteren Reihen SIAF-Vorstandspräsident Martin Meyer durch den ganzen Saal anschnauzte, weil er nicht zu Wort kam. Meyer, offensichtlich unter Zeitdruck, versuchte derweil, Linders Antworten auf die Publikumsfragen möglichst kurz zu halten. «Schade, dass wir nur so wenig Zeit haben!», meinte Lindner. Mit einem entschuldigenden Blick auf die Uhr meinte Meyer, es gäbe nach der Veranstaltung eben noch was zu Essen. Wiederum grosses Gelächter, der Abend war wahrlich kein Kind der Traurigkeit.
«Man muss Entscheidungen treffen und zu diesen Entscheidungen stehen.», meinte Lindner als Antwort auf eine weitere Publikumsfrage.
«Es gibt nichts Gutes ausser man tut es.», paraphrasierte Meyer, sich um einen Abschluss bemühend und bedankte sich bei Lindner für den «krönenden Abschluss» des Frühjahrssemesters 2018.