Die schonungslose Zerstörung antiker Kulturgüter im Irak und in Syrien zeigt uns immer wieder, wie geschichtsverachtend bzw. historisch-selektiv der Islamische Staat wütet. Ein Blick zurück in die Geschichte offenbart ein Bild von Städten wie Mosul und Nimrud, die wiederholt für archäologische Sensationen sorgten.
Der Sturm auf Mosul hat Mitte Oktober begonnen; mit ihm sind grosse Hoffnungen verbunden, den sogenannten Islamischen Staat auch in seiner letzten Hochburg im Irak zu schlagen. Wie ein Mythos erscheint die Stadt, in der noch vor zwei Jahren Abu Bakr al-Baghdadi mit einem Propagandacoup sondergleichen das Kalifat des Islamischen Staates ausgerufen haben soll und sich zum selbsternannten Kalifen ebendieses Kalifats machte. Damit haben er und seine Schergen Angst weit über die Grenzen des Iraks und Syriens hinaus verbreitet. So stockend sich die momentanen Kämpfe auch erweisen, so verbissen ist der Kampfgeist und der Todeswille der verbliebenen, eingekesselten Islamisten.
Dass aber Mosul noch im 19. Jahrhundert mithin der Anlass zur Freude für viele Archäologen war, ist weniger bekannt. Damals noch eine Region voller unbekannter Geheimnisse über Relikte aus antiker, vorbiblischer Zeit, machte sich der französische Konsul von Mosul, Paul-Émile Botta, ohne grosse Kenntnisse der Archäologie in das Umland Mosuls. Interessiert und wissbegierig fragte er die lokalen Handwerker und Bauern, woher sie ihre Ziegelsteine hätten, was die Keilschriftzeichen darauf zu bedeuten hätten und was sie über allfällige archäologische Überreste antiker Reiche wüssten.
Die von ihm in die Wege geleiteten Grabungsprojekte offenbarten in den 1840er und -50er Jahren Funde, die von welthistorischer Bedeutung sind. Bis anhin hatte man geglaubt, dass sich die Menschheit aus den frühen Hochkulturen des Alten Ägypten zur ersten grossen Zivilisation entwickelte. Doch die Ausgrabungen, unter denen sich später auch die Stadt Ninive – das heutige Mosul – befand, liessen noch ältere Datierungen zu. Sumerer und Akkader hatten den fruchtbaren Halbmond entlang des Euphrat und des Tigris schon vor 5000 Jahren bewohnt. Auch heute ist unbestritten, dass sich einige der ältesten Städte der Welt im Zweistromland befinden, darunter neben Aššur und Babylon auch Ninive oder bspw. Nimrud im Nordirak.
Bis in die 1840er-Jahre, noch vor den grossen Ausgrabungen im Nahen Osten also, war die Bibel eine von sehr wenigen Quellen, die ausgiebige Berichte über Mesopotamien enthielt. Die wenigen Erwähnungen, die von antiken griechischen und römischen Autoren überliefert waren, gaben wenig Aufschlüsse und widersprachen sich zudem stellenweise. Die Bibel, die für die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts bis dahin bestenfalls als Legendensammlung galt, erhielt im Kontext aufkommender Grabungen ebenfalls neue Beachtung. In den Folgejahren entwickelte sich die biblische Archäologie als wichtige Teildisziplin der Theologie bzw. der Archäologie und damit einhergehend eine ausgeprägte historisch-kritische Beurteilung der biblischen Texte – Texte, die heute unabdingbar für die historische Forschung der Region geworden sind.
Die Aufwände von Botta und den darauffolgenden Archäologen im fruchtbaren Halbmond haben nachhaltige Spuren hinterlassen, die in vielen Bereichen der Wissenschaften grundlegende Änderungen hervorgerufen haben, die bis heute von Bedeutung sind. Ein Beispiel dafür ist die besagte Stadt Nimrud, das jüngste Opfer der Zerstörungswut des IS. Die im 20. Jh. dort freigelegten Königsgräber zählen zu den bedeutendsten Funden im Nahen Osten. Im Jahr 612 v. Chr. wurde die zwischenzeitliche Hauptstadt des Assyrischen Reiches zerstört und nach über 2000 Jahren in Vergessenheit in gloriosen Zeiten der Archäologie wiederentdeckt – bis sie im Frühling 2015 schliesslich durch den IS gewissermassen ein zweites Mal zerstört wurde. Jüngst (Mitte November) konnte Nimrud von der irakischen Armee zurückerobert werden; das Ausmass der Zerstörung war ernüchternd und erschütternd zugleich.
Es wird Jahre dauern, bis Pläne für eine Restaurierung konkret umgesetzt werden können. Ein Ende des Krieges und des Leidens der Bevölkerung sind zwingend notwendige Bedingungen hierfür. Es wird sich in den Jahren und Jahrzehnten nach dem Krieg zudem die Frage stellen, wie sehr man an die kulturelle Zerstörung des IS erinnern will. Die Ressourcen und Möglichkeiten werden wohl nicht ausreichen, um alles wieder so aufzubauen, wie es vor dem Krieg war. Doch die zerstörten Ruinen werden auch darlegen, wie sehr der IS die (eigene) Geschichte miss- bzw. verachtet hat, wie er versuchte, sich ein neues Geschichtsbild zu schaffen, dass nur mittels Zerstörung aufrechterhalten werden kann.