Im Januar 1995 überreichen Lesben und Schwule dem Bundesrat eine Petition mit über 85’000 Unterschriften. Dies markiert den Startschuss für politische Gleichstellungsforderungen, die homosexuellen Paaren die gleichen Rechte wie heterosexuellen ermöglichen sollen. Doch Lesben und Schwule hatten nicht immer die gleichen Vorstellungen und doch führte am Ende die effektive Zusammenarbeit zum Erfolg. Ein Gastbeitrag von Gioia Jöhri.
Im Jahr 1995 ist die politische Lobbyarbeit von Lesben und Schwulen in der Schweiz noch jung. In den 1980er-Jahren etablierte sich zwar eine gute Zusammenarbeit zwischen Schwulenverbänden, beispielsweise der Homosexuellen Arbeitsgruppe Schweiz (HACH) und den Schweizer Behörden in der HIV-/Aids-Prävention. Von politischen Gleichstellungsforderungen oder einer koordinierten politischen Zusammenarbeit zwischen Lesben und Schwulen konnte dabei noch keine Rede sein.
Denn die politisch aktiven lesbischen Frauen hatten sich seit den 1970er-Jahren in der Frauenbewegung organisiert und sich ideologisch immer mehr von der Schwulenbewegung entfernt. Lesben und Schwule machten in dieser Zeit andere Diskriminierungserfahrungen: Schwule engagierten sich gegen sogenannte «Homo-Register», die die Polizei in grossen Städten betrieb, während Lesben mit der doppelten Unsichtbarkeit als Frau und Lesbe kämpften und sich mit der Frauenbewegung solidarisierten. Lesbische Frauen existierten in der Öffentlichkeit bis in die 1990er Jahre kaum.
Dies wollen sie mit der Gründung der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) im Jahre 1989 ändern. «Politische Präsenz markieren», ist eines der Ziele, das im Gründungsprotokoll erwähnt wird. Für was genau sie sich einsetzten wollen, bleibt jedoch unklar. Eine Zusammenarbeit der LOS-Frauen mit schwulen Akteuren besteht zu Beginn der 1990er-Jahre nur punktuell. Zwar sitzen in der Arbeitsgruppe (AG) Bundespolitik der HACH auch lesbische Frauen, diese vertreten aber offiziell nicht die LOS. Das zentrale Anliegen der Arbeitsgruppe ist die Frage: Wie könnte für Gleichstellung von homo- und heterosexuellen Paaren gesorgt werden?
Viele zeitgenössische Grundsatzdiskussionen drehen sich darum, ob die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare eine Lösung darstellt. Dabei zeigen sich grosse Differenzen zwischen der eingeschlagenen Richtung der AG Bundespolitik und den anfänglichen Überzeugungen der LOS. In einem LOS-Vorstandsprotokoll von 1991 heisst es: Die Forderung nach der Öffnung der Ehe sei «aus feministischer Sicht nicht sinnvoll». Lieber solle man deren «Abschaffung fordern».
Ganz andere Meinungen finden sich zeitgleich in der AG Bundespolitik. Auch die lesbischen Frauen in der AG sind der Ansicht, dass die wichtigsten rechtlichen Probleme, vor denen homosexuelle Paare stehen, mit einer Ehe-Öffnung gelöst würden. Nadja Herz, Juristin und Mitglied der AG Bundespolitik bringt es in einem 1992 von ihr veröffentlichtem Text in der FRAZ (Frauenzeitung) auf den Punkt: «Die meisten rechtlichen Benachteiligungen von Lesben entstehen indirekt durch die Privilegierung der Institution Ehe.»
Drängende rechtliche Probleme ergeben sich bei unverheirateten Paaren vor allem, wenn ein:e Partner:in erkrankt, verstirbt oder eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt. Für ausländische Staatsangehörige kann die Aufenthaltsbewilligung zum Problem werden. Im Krankheits- oder Todesfall hat die verbleibende Partner:in keinerlei Rechte, was beispielsweise bedeuten kann, dass man sich gegenseitig nicht im Spital besuchen darf und von Ärzt:innen nicht über den Gesundheitszustand der Partner:in informiert wird. Im Todesfall bestehen zudem im Erbrecht erhebliche Hürden. Für viele Lesben war es ausserdem ein wichtiges Anliegen, das Sorgerecht an ihren Kindern rechtlich absichern zu können. Denn wenn die biologische Mutter verstirbt, hat eine andere mögliche Bezugsperson keine Rechte in Bezug auf die Kinder, welche potenziell in gleichen Haushalt aufgewachsen sind.
Das Thema Kinder beschäftigt die LOS-Frauen seit Anfang 1990er-Jahre stark. In einem Drittel der lesbischen Beziehungen leben schon damals Kinder. Auch deshalb steigt in der LOS allmählich die Bereitschaft, mit schwulen Akteuren auf rechtliche Gleichstellung hinzuarbeiten. Einzelne LOS-Frauen bleiben betreffend der Ehe-Öffnung skeptisch, doch ein schleichender Generationenwechsel in der LOS ermöglicht einen pragmatischeren Zugang zu den Diskussionen um die Ehe. Zudem verbessert sich die Beziehung zu schwulen Akteuren, weil Pink Cross 1993 die HACH ablöst und damit eine neue und unbelastete nationale schwule Organisation auf den Plan tritt. Die LOS hatte den Kontakt zur HACH zu Beginn der 1990er-Jahre immer wieder abgebrochen, unter anderem, weil die HACH eine Selbsthilfegruppe für schwule Pädophile einrichten wollte. Die AG Bundespolitik besteht nach der Auflösung der HACH jedoch weiter und ist sehr bemüht um den Kontakt zur LOS, da ihre Mitglieder früh begreifen, dass man als lesbischschwule Gesamtbewegung mehr politische Schlagkraft entwickeln kann.
1993 beginnen sich die politischen Aktionen für Gleichstellung zu konkretisieren. Die AG Bundespolitik bereitet eine Petition an den Bundesrat vor, die die rechtliche Gleichstellung mit heterosexuellen Paaren fordert. Nadja Herz schlägt trotz ihrer eigenen, gegenteiligen Überzeugung in der AG Bundespolitik vor, die Eheöffnung nicht zu fordern: Es sei zu «befürchten, dass zumindest die LOS auch in der Öffentlichkeit explizit gegen diese Forderung Stellung beziehen» würde. So beschliesst die AG Bundespolitik, auf die Eheforderung zu verzichten und schreibt in einem Protokoll von Juni 1993: «Wir betonen als Petitionskomitee das Ziel (Verbesserungen in allen wesentlichen Rechtsbereichen) und nicht den Weg». Sobald klar wird, dass keine direkte Eheforderung in die konkrete politische Aktion einfliessen wird, kann die LOS tatsächlich hinter dem Petitionsvorschlag stehen und engagiert sich fortan stark dafür. Auch die LOS-Frauen nehmen dafür Kompromisse in Kauf: Eines der Hauptanliegen der LOS, die rechtliche Absicherung von Kindern in lesbischen Beziehungen, wird im Gegensatz zum Aufenthaltsrecht für ausländische Partner:innen oder der Problematik im Krankheitsfall nicht explizit erwähnt. Die AG Bundespolitik ist in diesem Punkt gespaltener Meinung und vermerkt im gleichen Protokoll von 1993: «Zu diesem Thema wird nichts aufgenommen. Keine einheitliche Meinung in der Gruppe».
Die Petition wird im Januar 1995 dem Bundesrat überreicht. Das lange Warten auf eine Reaktion aus Bern beginnt. Mit kreativen Aktionen machen Lesben und Schwule immer wieder auf sich aufmerksam: 1996 heisst es auf einem Transparent auf dem Bundesplatz «Schiebt uns nicht auf die lange Bank» und 1998 werden in einer Aktion den «schlummernden Magistraten» Wecker überreicht. Gleichzeitig erarbeiten LOS, Pink Cross und die AG Bundespolitik konkrete Gesetzesentwürfe, die mehr rechtliche Gleichstellung ermöglichen würden. Da man sich intern noch immer uneinig ist, welche Gesetze genau gefordert werden sollten, werden zwei Entwürfe geschrieben: Einen für die Eheöffnung, einen für ein Partnerschaftsgesetz mit «ehegleichen Wirkungen». Die LOS vollzieht nun einen Meinungswechsel: Kinder seien in der Ehe am besten abgesichert und auch eine Befragung der Mitglieder ergibt, dass keine ideologischen Berührungsängste mit der Ehe mehr bestehen.
Als der Bundesrat 1999 endlich mit einem Bericht auf die Petition antwortet, ist die Eheöffnung nur eine unter fünf Möglichkeiten von Gesetzesänderungen. Je länger die politischen Diskussionen dauern, desto eher wünschen sich Bundesrat und Parlament die Option eines Partnerschaftsgesetztes. Dies auch, da konservative Politiker:innen lautstark eine grösstmögliche Distanz zur Ehe fordern. Nach der Jahrtausendwende beginnt deshalb der politische Kampf um ein Partnerschaftsgesetz mit möglichst ehegleichen Wirkungen. Erste kantonale Abstimmungen in Zürich (2002) und Neuenburg (2003) ebnen den Weg für die nationale Abstimmung, die aufgrund eines Referendums nötig wird. Im Jahr 2005 sagt die Schweizer Stimmbevölkerung mit über 58 Prozent der Stimmen Ja zu einer eingetragenen Partnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare. Damit sind wichtige rechtliche Probleme von gleichgeschlechtlichen Paaren gelöst, wenngleich das Gesetz ein grosser Kompromiss bleibt. Über das Thema Kinder wird im Vorfeld der Abstimmung sowohl intern als auch gegen aussen nicht mehr gesprochen, um die Abstimmung nicht zu gefährden. Für Lesben mit Kindern gibt es mit der eingetragenen Partnerschaft keinerlei Fortschritte. Das Partnerschaftsgesetz zementiert eine Norm von gleichgeschlechtlichen Paaren ohne Kinder. Und eine, in der beide Partner:innen vollerwerbstätig sind. Dies zeigt sich darin, dass homosexuelle Witwe:r im Partnerschaftsgesetz schlechter gestellt sind als Witwen in der Ehe. Es handelt sich also um ein Sondergesetz für ein ausschliesslich lesbischschwules Rechtssubjekt.
Das Thema Kinder bleibt aber nicht lange unbesprochen. Ab 2008 ist die Stiefkindadoption Thema im Bundeshaus, während neue Akteure wie der Dachverband Regenbogenfamilien versuchen, politische Verbesserungen anzustreben. Und auch die AG Bundespolitik beschäftigt sich bald wieder mit der Eheöffnung, die eingetragene Partnerschaft sei nur eine «Zwischenlösung». Auch in der LOS ist man dieser Meinung. Man will aber noch warten, bis sich eine günstige Gelegenheit ergibt, das Thema wieder anzusprechen. Und diese Gelegenheit kommt schneller als gedacht, denn die CVP lancierte im Jahr 2014 eine Initiative zur Abschaffung der Heiratsstrafe. Das Initiativkomitee will unter anderem den folgenden Satz in der Bundesverfassung festschreiben: «Die Ehe ist die auf Dauer angelegte und gesetzlich geregelte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau». Im Protokoll der AG Bundespolitik heisst es daraufhin: «Wir sollten reagieren. Die haben sich wohl verschrieben!». Eine Annahme der Initiative hätte das Ansinnen der Eheöffnung um Jahre zurückgeworfen, da eine Verfassungsänderung nötig geworden wäre. Die CVP-Initiative scheitert jedoch und die designierte Gegnerin der Ehe für alle hilft ungewollt dabei, das Thema der gleichgeschlechtlichen Ehe zu lancieren, weil Lesben und Schwule rechtzeitig merken, was auf dem Spiel steht. Mitte der 2010er-Jahre stehen alle Zeichen auf einer Eheöffnung, auch befeuert durch positive Signale aus dem Ausland. Dieses Mal fordert die LOS Gleichstellung ohne Sonderrecht und Kompromisse. Die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare sollte ohne rechtliche Einschränkungen geschehen. Der Bundesrat aber schlägt ein Gesetz mit einer Minimallösung ohne die rechtliche Absicherung von Kindern vor. Damit ist die LOS nicht einverstanden, denn ohne zentrale Verbesserungen im Familienrecht hätte man auch gleich beim Partnerschaftsgesetz bleiben können. Die LOS fordert nun uneingeschränkte Solidarität von schwulen Akteuren, die mit dieser Minimallösung schon zufrieden gewesen wären. 2021 kommt ein überarbeitetes Gesetz, das auch die gemeinsame gleichgeschlechtliche Elternschaft regelt, durch ein erneutes Referendum vors Volk.
Die Ehe für alle wird 2021 mit über 64 Prozent Ja-Stimmen angenommen und markiert den vorläufigen Schlusspunkt des 30-jährigen politischen Kampfes für tatsächliche Gleichstellung mit heterosexuellen Paaren. Die Mechanismen sind jedoch ähnlich wie beim Partnerschaftsgesetz: Gesellschaftlich ermöglicht die Normalisierung von Regenbogenfamilien die Ehe für alle. Die Angleichung an die Norm der bürgerlichen Kleinfamilie schafft neue Ambivalenzen für Beziehungen, die ausserhalb dieser Norm stattfinden. Trotzdem ist die Ehe für alle ein bedeutender Fortschritt und ein Sieg für die vereinte LGBTQ-Community der Schweiz. Denn: In fast keinem anderen Land der Welt musste die Gesamtbevölkerung und nicht nur die Regierung von der Eheöffnung überzeugt werden.
Gioia Jöhri ist ehemaliges Redaktionsmitglied des etü, studierte Zeitgeschichte und schreibt in diesem Blogbeitrag über das Thema ihrer Masterarbeit mit dem Titel:» Archivierte Perspektiv(en): Von der Garage ins Sozialarchiv. Die LOS und der Weg zur Ehe für alle in der Schweiz», betreut von Prof. Dr. Gesine Krüger. Teil der Arbeit war es, das Archiv der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) zu erschliessen und im Schweizerischen Sozialarchiv zugänglich zu machen.
Mesquita, Sushila: Ban marriage! Ambivalenzen der Normalisierung aus queer-feministischer Perspektive, Wien 2012.
Mesquita, Sushila: Homo.Ehe.Norm: Ambivalenzen der (Hetero-)Normalisierung im Schweizer Partnerschaftsgesetz, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 20 (3), 2009, S. 134–144.
o.A.: L-World: Das Wiki zur Lesbengeschichte der Schweiz, 19. Okt. 2016, <https://l-wiki.ch>.
Schweizerisches Sozialarchiv, Ar 728, LOS-Archiv.
Schweizerisches Sozialarchiv, Ar 437, Frauen/Lesben-Archiv.