Hat die Natur den weissen Mann bestraft?

Symbolische Landrückgabe: Der australische Premierminister Gough Whitlam mit Vincent Lingiari, dem Anführer der Gurindji, 1975. Bild: Wikimedia Commons

Aborigines kämpfen für ihr Land, Flüsse bekommen die gleichen Rechte wie Menschen – und Historiker fragen sich, ob es eine Regenbogenschlange gibt. Eine (etwas verschlungene) Reise zu der Frage: Wie respektiert man indigene Kulturen richtig?

Stell dir vor, du bist ein junger Mann, Viehtreiber in dem weiten steppenartigen Land, auf dem schon deine Eltern und Grosseltern gelebt haben, aber das Land gehört dir nicht, für deine Arbeit bekommst du nichts als ein bisschen Tee, Essen und Tabakund regelmässig werden deine Freunde und Verwandtengeschlagen, vergewaltigt oder ermordet. Was würdest du in einer solchen Situation tun?

Über 200 Männer und Frauen vom Volk der Gurindji, einer Untergruppe der Aborigines im Norden Australiens, taten am 23. August 1966 jedenfalls dies: Sie verliessen die Wave Hill- Viehstation in einem berühmt gewordenen walk off und schlugen zunächst bei einer nahen Siedlung und später an einem für sie spirituell wichtigen Ort ihr Lager auf. Ihr Protest, der von australischen Gewerkschaften unterstützt wurde, richtete sich gegen die miserablen Arbeitsbedingungen, die schlechten oder inexistenten Löhne und die permanenten Misshandlungen. «Sie benutzten uns wie Sklaven», so der damals am Protest beteiligte Jimmy Wavehill. «Sie hätten etwas Gutes für uns tun können, wir hätten eine Familie sein können und wir wären nicht wegmarschiert. Aber sie haben schlechte Dinge getan.» Und so zogen die Gurindji den Protest durch: Sie verlangten mehr als höhere Löhne und besseres Essen. Sie wollten ihr Land zurück.

Dieses Land ist das Land der Aborigines

In einer Petition an den Vertreter der britischen Krone schrieben die Gurindji: «In unserem Empfinden ist das unser Land und es sollte uns zurückgegeben werden.» Diesen Anspruch begründete der Gurindji Pincher Nyurrmiari später so: «Weisse
massakrierten unsere Ahnen. Dann bauten sie hier ihre Polizeistationen, Höfe und Viehfarmen auf. Aber dieses Land ist das Land der Aborigines und die Weissen haben es nicht geschafft, uns loszuwerden.» Die Petition wurde abgelehnt und erst nach sieben Jahren Protest erhielten die Gurindji 1973 die Kontrolle über ihr Land. In einer symbolischen Geste streute Premierminister Gough Whitlam, dessen Wahl die Einigung ermöglicht hatte, dem Gurindji-Anführer Vincent Lingiari etwas Erde in die Hand. Weitere Landübergaben und Gesetzesänderungen folgten.

Und dann? Dann kamen die Historiker und stritten sich darüber, wie man die Geschichte des Wave Hill walk off nun schreiben sollte. Und ich weiss: Das scheint jetzt nicht besonders relevant. Aber stell dir vor, du bist einer dieser protestierenden Gurindji. Du hast dein Leben lang gearbeitet und gelitten, du hast um dein Land gekämpft, deine Leute in eine ungewisse Zukunft geführt, mit Landbesitzern gefeilscht, um die Gunst der Öffentlichkeit gerungen und endlich dein Land bekommen. Und dann kommen da ein paar freundliche Herren von der Universität und sagen: «So, mein Lieber, wir entscheiden jetzt, wie die Welt sich an euch erinnern wird.» Da wäre es dir wohl kaum gleichgültig, was in ihren Büchern steht.

Jedenfalls ist es für die Gurindji von zentraler Bedeutung, aus welcher Perspektive die Geschichte des walk off geschrieben wird – aus ihrer oder der der weissen Australier. Denn je nach Sichtweise sieht sie anders aus und wird anders interpretiert.

Die Geschichte aus weisser Perspektive:

In den 1960er-Jahren
entdeckten die australischen Gewerkschaften den Kampf für die
Rechte von Aborigines-Arbeitern als neues Tätigkeitsfeld. So schufen
sie etwa unter Viehtreibern des nordaustralischen Volkes der
Gurindji, die besonders unter schlechten Arbeitsbedingungen,
Lohndiskriminierung und Übergriffen litten, ein politisches Bewusstsein
und bewegten diese zu einem berühmt gewordenen
Streik: dem Wave Hill walk off. Der Streik begann klassisch mit
der Forderung nach mehr Lohn und besseren Arbeitsbedingungen,
entwickelte sich aber zu einem weiterreichenden Kampf um
Landrechte, als die Gurindji bemerkten, dass ihre Anliegen in der
australischen Öffentlichkeit eine gewisse Sympathie genossen.
Der Kampf nahm eine spirituelle Wendung, als der Anführer der
Gurindji beschloss, das Protestlager zum althergebrachten spirituellen
Zentrum seines Volkes zu verschieben. Dort harrten die
Gurindji aus, bis die Wahl der Labour-Regierung von 1972 dazu
führte, dass ihr langersehnter Wunsch nach Land erfüllt wurde.
Premierminister Gough Whitlam übergab das Land 1975 symbolisch
dem Gurindji-Anführer, indem er ihm etwas Erde in die Hand
streute.

Die Geschichte mit Einbezug der Gurindji-Perspektive:

Der Alltag der Gurindji
auf der nordaustralischen
Wave Hill-Viehstation
war geprägt von Gewalt und Misshandlungen. Angesichts ihrer
diskriminierenden Arbeitsbedingungen war ihr Wunsch klar: Sie
wollten ihr angestammtes Land und damit ihre Unabhängigkeit
zurück. Ein Wunsch, der angesichts fehlender Unterstützung von
aussen jedoch kaum realistisch erschien. Das änderte sich, als ein
Gurindji namens Sandy Moray für einen weissen Landinspektor
zu arbeiten begann und so andere Gegenden Australiens besuchte.
Dort sah er, dass Aborigines nicht überall in gleichem Mass
ausgebeutet wurden und kam in Kontakt mit Gewerkschaftlern.
Zurück bei den Gurindji berief Moray ein Treffen an einem spirituell
wichtigen Ort namens Daguragu ein, bei dem er andere
Gurindji-Anführer davon überzeugte, den lange gehegten Plan,
etwas für ihre Landrechte zu tun, in die Tat umzusetzen. So waren
sie bereit, als 1966 ein Gewerkschaftler in die Gegend kam. Um die
Unterstützung der Gewerkschaften zu sichern, gaben sie an, dass
sie nach europäischer Streikart für höhere Löhne und bessere
Arbeitsbedingungen kämpfen wollten. Erst nach und nach, als der
Protest schon im Gang war, offenbarten sie ihren Unterstützern
das eigentliche Streikziel: den Rückgewinn von Land und den Aufbau
einer eigenen Viehstation. Der Protest selbst war denn auch
ein symbolischer walk off, weg von der Viehstation und (nach einem
Zwischenstopp) hin zum Daguragu, der als Ort der von Moray einberufenen Zusammenkunft für den Protest von zentraler
Wichtigkeit war. Da Moray zu alt dafür war, leitete Vincent Lingiari
den Protest und wurde zu dessen Gesicht. In den sieben Jahren,
die der Protest insgesamt dauerte, schrieben die Gurindji Petitionen,
sprachen mit Reportern, reisten durch Australien, um auf ihr
Anliegen aufmerksam zu machen – und sie besetzten weiter ihr
Land. Ihre Ausdauer wurde belohnt: Die Labour-Partei gewann
1972 unter anderem mit der Forderung nach Land für die Aborigines
die Wahlen und so übergab Premierminister Gough Whitlam
1975 einen Teil ihres Landes symbolisch den Gurindji.

Der eine Bericht basiert primär auf schriftlichen, von weissen Australiern verfassten Quellen, während der andere mündliche Zeugnisse der Gurindji miteinbezieht. Der eine stellt weisse Akteure ins Zentrum und macht die Gurindji zu namenlosen Statisten, deren Handlungen von aussen bestimmt werden und die ausharren, bis man sich ihrer erbarmt. Der andere anerkennt die Gurindji als denkende Individuen mit Handlungsmacht und benutzt dieses Wissen, um das Zustandekommen des Protests besser zu erklären. Der eine behandelt die Gurindji als simple, naturverbundene Eingeborene, während der andere ihre Perspektive ernst nimmt.

Die Regenbogenschlange hat es zu gut gemeint

Ist damit also Ende gut, alles gut? Nun, leider nicht ganz. Das Problem ist nämlich: Es ist das eine, die Perspektive der Gurindji ernst zu nehmen, wenn sie Dinge sagen, wie, dass sie schon immer ihr Land zurückhaben wollten. Es ist etwas anderes, wenn sie so etwas behaupten: Dass 1924 die alte Viehstation von einer Flutwelle weggeschwemmt wurde, weil ein Gurindji eine Regenbogenschlange gebeten hatte, heftigen Regen zu schicken und sie es etwas zu gut gemeint hatte. Oder dass bei
einem unerwarteten Todesfall «der weisse Mann in der Viehstation starb, weil er die Gesetze des Landes missachtete und die Erde ihn bestrafte.»

Die Frage ist: Müssen wir das so glauben, eins zu eins, wenn wir ihre Perspektive ernst nehmen wollen? Müssen wir von nun an in den Geschichtsbüchern schreiben: «Die Erde hatte einen Weissen für seine Verbrechen gegen die Gurindji mit dem Tod bestraft»? Laut dem Gurindji-Spezialisten Minoru Hokari müssen wir uns das ernsthaft überlegen. Er findet, wenn wir schreiben «die Gurindji glauben, dass die Erde den Mann getötet hat» oder «die Erde steht bei den Gurindji symbolisch für eine höhere Macht, die Verbrechen bestraft», dann stellen wir unsere Perspektive über diejenige der Gurindji. Wir distanzieren uns von ihrer Art, Vergangenes zu erklären und stempeln es als Aberglauben ab.

Die Idee ist radikal: Unsere Art, Geschichte zu schreiben, wäre laut ihr nicht besser oder objektiver als die der Gurindji, die ihr Geschichtswissen erhalten, indem sie «der Stimme der Erde zuhören». Dass spirituelle Naturkräfte in der Wissenschaft höchstens Untersuchungsgegenstand, nicht aber Erklärungsansatz sein dürfen, ist laut dem Theoretiker Dipesh Chakrabarty ein Vorurteil des säkularen Westens. Dies dürfe im Umgang mit indigenen Kulturen nicht als Fakt vorausgesetzt werden. Er findet, die verschiedenen Perspektiven müssen als komplett gleichwertig behandelt und wenn möglich kombiniert werden.

Verständnisvoll, aber kritisch

Das Problem dabei ist: Es ist schwer zu sagen, wie man das anstellen soll, ohne einfach zu sagen «Alles ist relativ, Fakten gibt es nicht». Man muss indigenen Perspektiven mehr Platz einräumen, ohne dabei die historische Analyse aufzugeben.
Man muss offen für alle Arten sein, über die Vergangenheit zu sprechen, aber keiner blind vertrauen. Man muss die Gurindji ernst nehmen, indem man ihre Zeugnisse genauso verständnisvoll, aber auch genauso kritisch analysiert wie die weisser Australier. Wobei ein entscheidender Unterschied bleibt, dass die europäische Perspektive lange die dominante war und man daher der indigenen durch besondere Aufmerksamkeit und Vorsicht wieder auf die Beine helfen muss. Deshalb ist es wichtig, nachzufragen, ob wir wirklich so sicher sind, dass es etwa die Regenbogenschlange nicht gibt. Aber deshalb ist es auch wichtig, dass die Antwort auf diese Frage nicht im Voraus feststeht: Es braucht weder blinden Glauben noch arrogante Ablehnung. Es braucht Offenheit und eine Diskussion.

Die westliche Geschichtsschreibung hat ein Problem mit indigenen Perspektiven. Wer glaubt, mit ein paar Fachartikeln über die Aborigines sei der Gerechtigkeit genüge getan, ignoriert, wie tief unsere Vorurteile – über mündliche Quellen, über
Pidgin-Englisch, über die mentalen Möglichkeiten von «Eingeborenen» – sitzen. Man kann es aber mit dem Respekt auch übertreiben und damit der Sache eher schaden denn nützen.

Wenn wir etwa «unsere» westliche Perspektive zu klar von «ihrer» indigenen Perspektive trennen, verstärken wir eine Unterscheidung, die eigentlich überwunden werden sollte. Wir ignorieren die Einflüsse, die das weisse und indigene Australien aufeinander ausübten. Und wir vergessen, dass etwa christliche Heiligengeschichten genauso fantastisch sein können wie die der Regenbogenschlange. Wenn italienische Grosseltern an die Wunder des Padre Pio glauben und ihre Enkel Wege gefunden haben, dem gegenüber skeptisch zu sein, ohne auf sie hinunterzuschauen, warum sollte das bei den Gurindji nicht gehen?

Weil, so Minoru Hokari, es noch ein weiteres Problem gibt: Die Einflüsse von Kolonisatoren und Kolonisierten aufeinander waren immer ungleich. Es braucht also eine neue Balance: Nachdem den Gurindji viel Westliches aufgezwungen wurde, sollten wir uns nun vermehrt von ihnen inspirieren lassen.
Doch wie genau soll das gehen? Zum Beispiel, indem wir faktenversessene und multiperspektivische Geschichtsschreibung zu kombinieren versuchen. Dafür schlagen Spezialisten wie Luise White die Idee von «sozialer Wahrheit» vor: Während Dinge, die aus jeder Perspektive stimmen (Regen kann zu Flutwellen führen), faktisch wahr sind, ist alles, was nur aus einer einzelnen Perspektive klar ist, sozial wahr (wie Gott oder die Regenbogenschlange). Es hat einen Einfluss auf das Denken und Handeln von Menschen und damit indirekt auf die Welt, obwohl es faktisch vielleicht gar nicht existiert.

Flussverschmutzung ist Körperverletzung

Das tönt verwirrend und unzweckmässig? Nun, sieh dir an, wie die Juristen es machen: Kürzlich hat ein indisches Gericht zwei heiligen Flüssen dieselben Rechte wie Menschen eingeräumt. Sie hätten den «Status einer rechtlichen Person mit allen entsprechenden Rechten und Pflichten», befanden die Richter, und übertrugen drei Beamten die Fürsorgepflicht. Grund für den Entscheid war die extreme Verschmutzung der Flüsse, deren Verschlimmerung nun eine Art Körperverletzung darstellt. Der Entscheid war inspiriert von einem neuseeländischen Gesetz vom März. Einem Fluss wurden dort die gleichen Recht wie einem Menschen zugesprochen, weil er vom lokalen Maori-Stamm als lebendiger, handelnder Vorfahre verehrt wird. Sie hätten eine «rechtliche Annäherung» dafür gesucht, «dass es aus unserer Perspektive korrekt ist, den Fluss als lebendige Einheit zu behandeln», so ein Vertreter des Stammes. Diese Sicht ist in Ländern wie Ecuador und Bolivien schon seit Jahren verankert: Dort haben Ökosysteme, beziehungsweise die «Mutter Erde», ähnliche Rechte wie Menschen.

Das Konzept mag verrückt klingen, ist es aber nicht: Es reflektiert die Perspektive lokaler Kulturen und ist gleichzeitig geschickter Naturschutz. Ob die Flüsse und Ökosysteme dabei tatsächlich lebendige Wesen sind, spielt keine Rolle, denn ihr rechtlicher Status reflektiert eine soziale Wahrheit: Dass sie als lebendige Wesen «mit Rechten und Pflichten» wahrgenommen werden. Das gleiche sollte auch in der Geschichte möglich sein. Wenn Juristen über Körperverletzung an Flüssen diskutieren, müssen auch Historikerinnen und Historiker eine Regenbogenschlange ernst nehmen können. Sonst machen wir uns ja am Ende noch lächerlich.