Holen wir uns die Närrinnen*-Freiheit zurück!

Diskussionen in einem geschlossenen öffentlichen Raum bot die Unconference 2024. Bild: Carla Burkhard.

An der Historiker*innenUnconference in Bern am 7. und 8. Juni 2024 wurde diskutiert, zugehört und genetworkt. Sie stand unter dem Thema der feministischen Geschichtsschreibung. Unsere etü-Redaktorin war dabei und kam mit einem rauchenden Kopf und vielen guten Eindrücken zurück. Sie erzählt, was sie erlebt hat und was Stuhlreihen damit zu tun haben.

Wie schreibe ich über einen Anlass, der so viele Inputs gegeben und zum Nachdenken angeregt hat, dass mir richtig der Kopf geraucht hat? Und das meine ich im positiven Sinne. Ich kam mit einem inspirierten Gefühl zurück nach Zürich. Für alle, die nicht dabei sein konnten, versuche ich nun deshalb einen kleinen Einblick in diese zwei Tage zu geben. Vielleicht war ich eine der Einzigen, die sich auf die Stühle geachtet hat. Irgendwie stehen sie sinnbildlich dafür, was wir an diesen zwei Tagen gemacht haben. Wieso, werdet ihr gleich erfahren.

Organisiert wurde die Unconference vom Historikerinnennetzwerk Schweiz in Zusammenarbeit mit der Gosteli-Stiftung und infoclio.ch. In diesem Rahmen fanden auch gleich die alljährlichen Gosteli-Gespräche statt. Die Unconference fand im PROGR statt, einem ehemaligen Gymi-Schulhaus, heute ein Zentrum für Kulturproduktion. Dort nutzten wir die Aula mit den Collage-geschmückten (Kirchen-)Fenstern, die Stube und zwei weitere Räume, in denen die kleineren Sessions abgehalten werden konnten. Anwesend waren Menschen, die sich mit Geschichte befassen und mit Geschichte arbeiten: von der Akademie zu Archiven, von Lehrpersonen bis hin zu Freischaffenden. Als MA-Studi war ich wohl eine der Jüngsten, denn es waren viele Generationen vertreten. Der Austausch war entspannt und neugierig.

Am Anfang: ordentlich aufgereiht

Treten wir in die Aula des PROGR – mit Namensschildchen ausgerüstet – erwarten uns ein grosser, heller Raum, zwei Kaffeemaschinen, Körbe frischer Gipfeli und Früchte. Und regelmässig, ordentlich aufgestellte Stuhlreihen. Dort setzten wir uns zu Personen, die wir kennen von der Uni, vom Studium, vom etü (<3), Freund*innen von Freund*innen. Die Stimmung ist zu Beginn noch zurückhaltend.

In der Einführung erfahren wir, um was es in diesen Tagen gehen soll. «Die Historiker*innen-Unconference ist nicht nur ein Forum, um Forschungsergebnisse zu präsentieren, sondern wir wollen auch unsere beruflichen Praktiken und Wissensformen sowie strukturelle Herausforderungen diskutieren und reflektieren», schreibt die Gosteli-Stiftung. Spontan dürfen Sessions mit Themen vorgeschlagen werden, über die diskutiert werden soll. Diejenigen, die etwas vorgeschlagen haben, können ihre Ideen vorstellen und sind nachher für das Durchführen der Session verantwortlich. Die Diskussion soll aber in der Gruppe entstehen, und das Gelingen der Session liegt nicht nur an dieser einen Person. Wir sind ein Raum voller Leute, die gemeinsam eine produktive Diskussion führen können. Es ist das erste Mal, dass das Historikerinnennetzwerk Schweiz eine Unconference organisiert. Und sie sind genauso gespannt wie wir, wie es funktionieren wird. Zur Inspiration dieser Unconference dienten andere Konferenzen von Historikerinnen*, vor allem zu Frauen-/ Geschlechtergeschichte und -bewegungen in den 80ern und 90ern. Wir wollen intersektional zu relevanten Themen und über Berufe von Historikerinnen* diskutieren. Und diskutieren werden wir in vielen Sprachen. C’est un chaos linguistique – chaque groupe définit la langue dans laquelle on parle. Die Idee ist, dass alle in der Sprache sprechen, die für sie am besten funktioniert und sonst eine gemeinsame Sprache gefunden wird oder jemand aus der Gruppe übersetzen soll. Dazu dienen auch Framapads, auf denen eine simultane Übersetzung geschrieben wird.

Den Anfang macht die Podiumsdiskussion «From the Swiss Historians’ Conferences to the Historians’ Unconference», die eine Vielzahl an Punkten anspricht und damit Diskussionsthemen eröffnen will. Es geht um Vernetzung, prekäre Arbeitsbedingungen, Aktivismus, feministisch Geschichte schreiben und «Historikerin* sein». Und mit diesen Inputs und auch mit vielen offenen Fragen starten wir in die Sessions der Unconference.

Zwischenzeitlich: in Gruppen angeordnet

Nach dem Mittagessen (feines veganes Curry) starten die ersten vier parallellaufenden Sessions. Dafür gibt es vier verschiedene Räume, in denen die Stühle in Kreisen oder Gruppen angeordnet werden, um gut diskutieren zu können. Die Stühle werden mitgetragen, herumgeschoben und möglichst bequem platziert. Es geht nicht primär darum, nur Inhalte zu diskutieren, sondern zu sprechen, sich auszutauschen und dies vor allem auch über Methoden, über Schwierigkeiten oder einfach über Fragen, die wir uns im Alltag schon häufiger gestellt haben. Es werden Tipps gegeben, kritische Rückfragen gestellt und gelacht. Und wir diskutieren auf Augenhöhe. Natürlich gibt es Leute, die sich in einem Bereich besser auskennen als andere, aber alle haben die Chance, etwas zu sagen und sich an der Diskussion zu beteiligen. Zwischendurch gibt es immer Kaffee, Gipfeli und Früchte, an denen wir uns stärken können (die Verpflegung war insgesamt richtig gut).

Diskussionen in Gruppen. Bild: Gosteli-Stiftung, Tabea Fröbel.

Die Sessions haben sehr unterschiedliche Inhalte, es geht beispielsweise um berufliche Selbstständigkeit, queer(ing) history, ein Frauenmuseum in der Schweiz, das Zusammenspiel von Archiv und Forschung oder um den Umgang mit Geschichte bei der Vermittlung in der Schule. Ein Thema, das die Unconference prägt, ist: Wie schreiben wir feministische Geschichte? Schreiben wir eine Geschichte von Pionier*innen und Held*innen? Oder übernehmen wir somit einfach die androzentrische Art, Geschichte zu schreiben? Sollen wir stattdessen eine Geschichte von sozialen Beziehungen schreiben? In den Diskussionen waren wir uns nicht immer einig und das war schön. Zwischendurch nehmen wir unseren Stuhl und setzen uns zur nächsten Diskussionsgruppe hin.

Ein Wort, über das wir diskutieren, ist Würdigung. Sollen wir Frauen* würdigen? Heisst «würdigen» Wert verleihen? Wenn wir eine Frau* würdigen, hat dann die Person vorher noch keine Würdigung erhalten? Und sie bekommt erst einen Wert, wenn wir sie würdigen? Welche Sprache finden wir für die Frauen*- und Geschlechtergeschichte? Feminist*innen arbeiten schon lange an einer neuen Subjektposition: Wir wollen wegkommen vom Neutrum, das die männliche Position ist. Wir versuchen, eine breitere und inklusivere Geschichte zu schreiben. Wir möchten nachfragen und verstehen, wie es bei früheren Generationen war. Wir möchten es von allen wissen und nicht nur von grossen Frauen. Dies ist nur ein kleiner Einblick in eine der vielen Diskussionen, die wir hatten. Ich war längst nicht bei allen Sessions dabei, die kurzen Plenumsdiskussionen und Flipcharts gaben nur einen kleinen Überblick darüber, was alles diskutiert wurde. Was mir über diese zwei Tage aufgefallen ist, ist, dass viele Inhalte sich noch fest auf Frauengeschichte fokussierten: Wie bringen wir das Subjekt Frau* in die Geschichtsschreibung? Braucht es dieses individuelle Subjekt? Dieser Schritt ist wichtig. So sind es aber auch weiter Schritte in Richtung Intersektionalität und Dekolonialität.

Zum Schluss: Chaos

Den Abschluss machten wir in der Aula. Es wurde nicht nochmals zusammengetragen, was wir alles besprochen hatten. Hingegen gab es die verschiedenen Flipcharts aus den Sessions, die nochmals angeschaut werden konnten – mit Post-ITs wurde ergänzt – und es wurden Vorschläge für nächste Projekte und Events gemacht. Alle standen, alle bewegten sich durch den Raum, still oder miteinander diskutierend. Die Stühle in der Mitte, vom Rand weggeschoben, um Platz zu haben bei den Flipcharts, oder noch immer im Kreis angeordnet von der letzten Session. Einige waren auch gegen den hinteren Teil der Aula ausgerichtet, weil sich dort auch Flipcharts befanden. Wir schlängelten uns um die Stühle herum, oder liessen uns nochmals auf einem nieder, so wie es gerade passte.

Diskussion im Plenum. Bild: Gosteli-Stiftung, Tabea Fröbel.

Es herrscht Konsens, dass diese Unconference sehr gelungen ist. Je grösser die Gruppe, desto weniger spontan kann die Diskussion entstehen und desto eher wird eine Moderation gebraucht. Dennoch waren die Sessions inhaltlich immer sehr spannend. Wir hören viele Stimmen, die sich freuen würden, an einem Folgeanlass teilzunehmen. Es kamen Vorschläge, die Events befürworteten, bei denen weniger der Inhalt im Zentrum steht und es mehr Zeit gibt, zusammen zu arbeiten und zu reflektieren. Sprachen waren auch immer wieder Thema in diesen zwei Tagen. Für italienischsprachige Personen ist es in der Schweiz fast unumgänglich, entweder auf Deutsch oder Französisch zu arbeiten und zu schreiben. Es wurde die Idee formuliert, Tandems im Historikerinnen Netzwerk zu bilden, damit gemeinsam an den Sprachen gearbeitet werden kann. Wir wollen die Ideen des alternativen Konferenzmodells zum eigenen Arbeitsplatz zurücktragen und in Seminare einfliessen lassen. Wir wollen nicht in ein kompetitives, androzentrisches System gezogen werden. We want to value networks, solidarity, dialogues: creating spaces where you can share about yourself and not only about your work.

Die Unconference endet in kurzen Wortmeldungen im Plenum: Feedback und Danksagungen. Und verdienten Applaus für das OK-Team, die Gosteli-Stiftung und infoclio.ch, die für diese zwei Tage eine grossartige Unconference auf die Beine gestellt haben. Es waren zwei intensive Tage. Viele gingen dann langsam nach Hause. Es gab aber für die, die wollten, einen abschliessenden Stadtrundgang von StattLand Bern, der uns «queer durch Bern» führte. Es wurde schauspielerisch die Geschichte von Queers in Bern nachgespielt und den Zuschauenden nähergebracht. Es waren leider nur noch wenige der Unconference dabei, dafür war dieser Spaziergang so umso persönlicher.

Was kann ich also abschliessend noch sagen? Es ging nicht nur um Inhalte. Es ging sehr fest um uns, wie wir arbeiten, was uns schwerfällt, was uns beschäftigt und wie wir den Alltag als Historikerinnen* gestalten. Und das war die Stärke dieses Anlasses, viele Anliegen hatten in persönlichen Gesprächen und in den Sessions Platz. Es wurde respektvoll und interessiert zugehört und diskutiert. Es geht um eine niederschwellige Vernetzung untereinander: Der Griff zum Telefon sollte locker sein. Eine Plattform entsteht, die ein grosses Netzwerk unter Historikerinnen* verspricht.

Bild: Carla Burkhard.

P.S. Wir mussten zum Schluss doch noch die Stühle aufräumen: Sie kamen in dieselben schön geordneten Reihen, wie wir sie zu Beginn vorgefunden hatten. So schliesst sich der Kreis.

Weiterführende Links:
Historikerinnennetzwerk Schweiz: https://www.historikerinnen.ch/de/
Gosteli-Stiftung: https://www.gosteli-foundation.ch/de
infoclio.ch: https://www.infoclio.ch/de