Viviane Mee, 36, arbeitete seit 2012 am Schalter der HS-Bibliothek. Im neuen Semester wird sie aber nicht mehr dort anzutreffen sein. Hier verrät Viviane, wo es sie hinzieht, was sie am HS vermissen wird, und warum sie sich in punkto Lautstärke nie zusammenreissen konnte und wollte.
«Was? Viviane, du bist Bibliothekarin?». Diese Frage höre ich oft in meinem Alltag. Viele, die mich ausserhalb des HS kennenlernen, können es kaum glauben, dass ich in einer Bibliothek arbeite. Denn ich bin schon eher eine aufgestellte und nicht ganz leise Person. Doch ich finde: Bibliothekarin und kommunikativ sein, das schliesst sich nicht aus. Ich bin schliesslich kein Ausleihautomat, sondern ein Mensch.
Bei meiner Aufgabe am Schalter ging es mir nicht nur um Bücher, sondern allgemein um das Wohlergehen der Studierenden. Oft habe ich verunsicherten Erstsemestrigen mit Tipps den Einstieg ins Studium erleichtern können oder den schon etwas älteren Semestern beim Umgang mit Computern. Nicht selten half ich Verzweifelten ein Seminararbeits-Thema zu finden und manchmal habe ich die Arbeiten dann sogar gegengelesen. Was ich aber am meisten tat: Mit BesucherInnen einen kurzen Schwatz abhalten, ohne dass ihnen das direkt fürs Studium geholfen hätte. Aber auch da finde ich: Das ist nichts Negatives. Das bringt etwas Stimmung in die Bude und viele schätzen das auch sehr. In einem lockeren Klima lässt es sich auch lockerer lernen.
«Einmal bekam ich sogar einen Liebesbrief»
Dass mir dieser rege Austausch mit den BenutzerInnen so gut gefällt, hat mich anfänglich selbst überrascht. Denn vor meinem Studium habe ich im Buchhandel gearbeitet, und dort empfand ich den Kundenkontakt als sehr anstrengend. Doch hier am HS hat es einfach tolle Leute, die ich interessant finde, und ich kam mit vielen gerne und schnell ins Gespräch. Weil ich diesen Kontakt so stark gepflegt habe, und mir auch nicht sonderlich Mühe gab, dabei zu flüstern, habe ich mir den Ruf eingebracht, die lauteste Bibliothekarin der Schweiz zu sein. Ich finde das ehrlich gesagt gar nicht so einen schlechten Ruf. Klar hat meine Lautstärke nicht allen BenutzerInnen gleich entsprochen, doch ich finde, in der HS-Bibi soll Platz für solche Gespräche sein, auch die BesucherInnen selbst müssen ja nicht ständig ruhig sein.
Es hat sich fast nie jemand getraut, sich bei mir selbst zu beschweren, aber meine Chefin nahm schon einige Beschwerden entgegen. Doch sie rügte mich nie, sie schätzte meine Art, und fand, dass ich zum speziellen Charakter der HS-Bibliothek beitrage. Und da ich recht Multitasking-fähig bin, erfüllte ich auch immer das Soll. Auch viele BenutzerInnen haben meine Kontaktfreudigkeit geschätzt – ein Benutzer sogar einmal so sehr, dass er mir eine Liebeserklärung in ein zurückgegebenes Buch steckte. Das fand ich sehr charmant und ich war gerührt, doch ich wies ihn ebenso charmant ab.
«Ich bin spezialisiert auf Menschenskelette»
Solche Erlebnisse, die gute Stimmung in der Bibliothek und die Nähe zu den Geschehnissen am HS und in der historischen Forschung werde ich schon etwas vermissen. Doch jetzt ist es für mich an der Zeit, Abschied davon zu nehmen. Ich habe auf Ende August gekündet. Denn der Job in der Bibliothek war für mich von Anfang an das: ein Job. Meine eigentliche Berufung sehe ich nicht am Bibliotheksschalter, sondern bei Grabungen. In den letzten Jahren konnte ich mich als freie Archäologin sukzessive etablieren. Ich habe an verschiedenen Grabungen teilgenommen und an Publikationen mitgewirkt. Mit der Zeit kamen immer mehr Aufträge von der Stadt, dem Kanton aber auch von Archäologieunternehmen – so viele, dass ich sie nicht mehr alle annehmen konnte.
Dem will ich mich jetzt zu hundert Prozent widmen und ich freue mich sehr darauf. Als Archäologin bin ich spezialisiert auf Menschenskelette – den Master dazu hatte ich damals in Edinburgh gemacht. Mich fasziniert das Ausgraben und Untersuchen von Menschenskeletten unglaublich, nicht etwa weil ich irgendwelche morbiden Freuden dabei hätte, sondern weil mich die Geschichten dahinter interessieren. Knochen und Gebisse geben nämlich enorm viel Auskunft darüber, wie die Menschen früher gelebt haben. Jedes Skelett erzählt eine Geschichte über ein Individuum, und im Gegensatz zu schriftlichen Quellen sind diese Geschichten nicht bewusst hinterlassen, sondern manifestieren sich unmittelbar und unbeabsichtigt in den Knochen. Das, die Schnittstelle zwischen Geistes- und Naturwissenschaften und die Kombination von körperlicher und geistiger Arbeit führte schon früh dazu, dass ich mich in erster Linie als Archäologin und nicht als Historikerin oder Bibliothekarin sehe.
Darum sage ich nun nach sechs Jahren HS-Bibliothek: Goodbye HS! Ich wünsche euch, dass das HS weiterhin ein lebendiger und spezieller Ort bleibt – trotz der anstehenden Bibliotheksreform.
Menschen am HS
Wir sehen sie täglich, aber wissen nicht, wer sie sind: die Menschen am HS. In dieser Rubrik portraitieren wir deshalb in jedem Heft jemanden aus dem Umfeld des Historischen Seminars – und lassen ihn oder sie selbst zu Wort kommen.