Monika Bolliger sprach mit der Etü-Reaktion über ihre One-Woman-Show als Nahostkorrespondentin in Krisengebieten. Dabei erzählte sie vom Umgang mit Gefahr in Gaza und Syrien, von Journalismus mit schwieriger Quellenlage und von ihrem Geschichtsstudium an der Universität Zürich.
etü: Frau Bolliger, Sie sind seit vier Jahren Nahostkorrespondentin der NZZ und leben momentan in Beirut. Wie sieht ein gewöhnlicher Arbeitstag bei Ihnen aus?
Monika Bolliger: Mein Arbeitsalltag ist viel unspektakulärer, als man sich das oft vorstellt. Ich versuche, mit Hilfe von lokalen Nachrichtenquellen und Agenturen alles Aktuelle im Auge zu behalten. Dann muss ich entscheiden, welche Entwicklungen wichtig sind und wie ich sie als Artikel aufziehen soll. Dann schlage ich der Redaktion ein Thema vor und schreibe einen Artikel, der auf Angaben der lokalen Medien und Agenturen und meinem eigenen Hintergrundwissen basiert. Manchmal ist auch ein persönlicher Kontakt hilfreich. Nebenher schreibe ich Reportagen und Hintergrundartikel. Die Recherchen und Kontakte daraus helfen mir dann später, die Dinge besser einzuordnen.
Welchen Hürden begegnen Sie bei Ihren Recherchen?
Der Unklarheit! Im Nahen Osten gibt es, abgesehen vom Libanon, kaum Medienfreiheit. Man hat mit sehr intransparenten Regimen zu tun. An vielen Orten herrscht Bürgerkrieg und verlässliche Informationen sind rar.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Die Situation in Syrien ist extrem schwer zu überblicken. Von dort gibt es oft alarmierende Berichte und ich gehe meist davon aus, dass diese vielfach zu einem gewissen Grad stimmen. Bestätigt werden können sie aber nicht sofort und es wird auch viel gelogen. Kürzlich stellten Aktivisten aus Syrien nach einem Luftangriff auf ein Flüchtlingslager Bilder von verbrannten Zelten auf Twitter und machten einen Russischen Luftangriff dafür verantwortlich. Das ist schwierig zu bewerten. Denn woher weiss ich bei einem solchen Bild, dass die Zelte wegen eines russischen Luftangriffs brannten?
„Geschichte ist für mich ein Perspektivenwechsel.“
Gibt es denn keine Journalisten vor Ort?
Journalismus in Syrien ist extrem gefährlich. Die Luftangriffe geschehen völlig unberechenbar und vor allem ist das Entführungsrisiko für Ausländer enorm hoch. Man bekommt die Informationen von den Rebellenorganisationen, von der Regierung, von Aktivisten, lokalen Journalisten, oder manchmal von Hilfsorganisationen und Diplomaten. Wenn es sich um Meldungen über militärische Verschiebungen handelt und beide Seiten diese bestätigen, dann sind sie wohl verlässlich. Oft ist es aber komplizierter.
Fühlen Sie sich bei Ihrer Arbeit sicher?
Bolliger: Mit meiner Arbeitsweise gehe ich meist keine allzu grossen Risiken ein. Ich berichte nicht live von der Front. Ich war in Ägypten schon bei Protesten anwesend, doch als die Polizei zu schiessen begann, entfernte ich mich. Auch im Gaza-Krieg betrat ich das umkämpfte Gebiet erst spät. Die Redaktion war damals zurückhaltend und riet mir, ich solle abwarten bis Kriegsende. Schliesslich ging ich trotzdem nach Gaza, da ich dachte, fernzubleiben wäre ebenfalls keine gute Lösung. Letzten November war ich in Damaskus. Weil ich die Stadt gut kenne, habe ich mich weitestgehend sicher gefühlt. Vielleicht war das aber eine Illusion. Die Rebellengebiete sind dagegen riskant für mich.
Wieso haben Sie Geschichte studiert?
Wieso haben manche Systeme Erfolg und wieso scheitern andere? Mein Geschichtslehrer vermochte es als Erster, mich für solche Fragen zu begeistern. Mich interessieren die Ursachen von Konflikten und das Funktionieren von Gesellschaftssystemen. Geschichte ist für mich immer – wie das Arabischstudium – auch ein Perspektivenwechsel. Dabei versucht man, den Kontext einer anderen Gesellschaft zu verstehen, sei es in Europas Mittelalter oder in Syriens früher Neuzeit.
„Es wird oft vergessen, dass wir vor nicht allzu langer Zeit in Europa eine noch viel brutalere Zeit hatten.“
Sie sind eine von wenigen jungen, westlichen Journalistinnen, die viele Erfahrungen im Nahen Osten sammeln konnten. Hatten Sie das Berufsziel Korrespondentin schon während des Studiums?
Ganz am Anfang, als ich mit dem Arabischstudium begann, dachte ich, dass es toll wäre, Nahostkorrespondentin zu werden. Das habe ich später begraben, da ich glaubte, die Chance dafür sei sehr klein. Dann machte ich bei der NZZ ein Praktikum – ohne grosse Erwartungen. Per Zufall war ich zur richtigen Zeit dort; sie brauchten jemanden, der Arabisch sprechen konnte. Geplant hatte ich diesen Verlauf aber nicht.
Inwiefern ist Ihnen das Geschichtsstudium in Ihrer jetzigen Tätigkeit dienlich?
Ich weiss nicht, was ich wäre, wenn ich nicht Geschichte studiert hätte. Zum einen habe ich mich schon während des Studiums immer auf den Nahen Osten konzentriert, auch wegen des Arabischen. Entsprechend habe ich nützliches Hintergrundwissen. Das ist wichtig, um zu verstehen, was heute in der Region geschieht. Zum anderen trainiert man im Studium die Arbeit mit Quellen, das kritische Hinterfragen von Dingen und das Aufschreiben von schwierigen Sachverhalten. Dies sind Fähigkeiten, die im Journalismus notwendig sind.
Sie berichten über verschiedene Konfliktherde im Nahen Osten und somit über Themen, die sehr verworren und schwer lösbar erscheinen. Was treibt Sie bei Ihrer Arbeit an?
Ich möchte vermitteln, dass es sich um Gesellschaften in anderen Kontexten handelt. Es geht um Menschen, die in widrigen Umständen gefangen sind. Ich möchte dieses Bild differenziert darstellen und dazu beitragen, dass die Leute dies verstehen und nicht etwa denken, dass im Nahen Osten alle gewalttätig sind und sich gegenseitig umbringen. Es wird oft vergessen, dass wir vor nicht allzu langer Zeit in Europa eine noch viel brutalere Zeit hatten
Seit Anfang Jahr sind Sie in Beirut. Als Nachbarland Syriens ist der Libanon direkt vom dortigen Konfliktbetrogen. Wie nehmen Sie die Situation wahr?
Im Libanon ist es verhältnismässig ruhig. Seit der Syrienkrieg begonnen hat, sprechen viele von einem spill over, also davon, dass der Krieg bald auch in den Libanon komme. Es gibt zwar einige flackernde Konfliktherde im Libanon. Dennoch geht es irgendwie, obwohl ein Viertel der Bevölkerung syrische Flüchtlinge sind. Die Situation ist natürlich schwierig: Die Schulen und die Infrastruktur sind überlastet. Doch die Leute weigern sich bis jetzt standhaft, erneut in einen Bürgerkrieg hineingezogen zu werden. Sie sind widerstandsfähig gegenüber allen möglichen Problemen. das finde ich beeindruckend.
Als Korrespondentin einer viel gelesenen Zeitung haben Sie eine Verantwortung, was die Meinungsbildung der Leserschaft betrifft. Wie sehr prägt dieser Gedanke Ihre Arbeit?
Nicht mehr stark. Im besten Fall trage ich dazu bei, dass die Öffentlichkeit versteht, was hier passiert und nicht das Gefühl hat, hier lebten nur Wahnsinnige. Bei meiner Arbeit in Israel war ihre Frage für mich zentraler.
Während Ihrer Zeit in Jerusalem wurde Ihnen wiederholt vorgeworfen, zu einseitig über den Konflikt zu berichten. Auf Online-Foren bezeichnete man Sie gar als «Inbegriff des antisemitischen Journalismus». Wie stehen Sie zu solcher Kritik?
(lacht) Solche Angriffe geschehen oft, denn online trauen sich viele eher, solche Dinge zu sagen. Ich glaube, alle, die aus Israel berichten, bemühen sich um Fairness. aber niemand ist objektiv. Entsprechend werden alle Berichterstatter mal angegriffen. Das ist ein Druckmittel. Es besteht die Gefahr, dass man beginnt, sich selbst zu zensieren, wenn man ständig überlegt, welche Reaktionen das Geschriebene auslöst. Ich habe Mühe damit, dass man beim Konflikt stets von «beiden Seiten» spricht. Denn es existieren dort keine zwei Länder: Palästina ist kein Staat, sondern es sind ein paar Landfetzen unter einer Militärherrschaft mit einer pseudo-autonomen Verwaltung – völlig abhängig von der israelischen Militärbesetzung.
„Ein Ortswechsel ist für die geistige Gesundheit wohl irgendwann ganz gut.“
Wenn die palästinensischen Minister aus Ramallah herausfahren, müssen sie trotz VIP-Status ihre ID dem 18-jährigen Soldaten am Checkpoint zeigen. Es besteht kein Gleichgewicht in diesem Konflikt und ich finde, das muss man zeigen. Mir scheint, wenn man dieses Machtgefälle jedoch ausblendet, wird man seltener angegriffen.
Sie haben angesprochen, dass Sie durch Ihre Arabischkenntnisse diesen Weg einschlagen konnten. Wie bedeutend ist es, ob man als Korrespondent die lokale Sprache beherrscht oder eben nicht?
Ich finde es wichtig, dass man die Sprache beherrscht. Vor allem in den arabischen Ländern, in denen wenige Leute Englisch sprechen, macht es einen grossen Unterschied. Man hat einen besseren Zugang, wenn man nicht auf Übersetzer angewiesen ist, die zudem oft selektiv übersetzen. Andere Journalisten sagen wiederum, es sei wichtiger, dass man mit einem unvoreingenommenen, frischen Blick an ein Land herangeht. Es kann auch zum Problem werden, wenn man zu tief im Land drin ist, und nicht mehr weiss, was die Schweiz interessiert.
Sie haben in Beirut nicht immer die Möglichkeit, in die Konfliktzonen umliegender Länder zu reisen. Inwiefern ist es dennoch besser, dass sie von Beirut statt von Zürich aus über die Geschehnisse berichten?
Viele Sachen kann man heutzutage aus Zürich machen. Aber ich finde es wichtig, dass man immer wieder in die Länder reist, in die man noch reisen kann. Dadurch bin ich näher an den Ereignissen dran. Ich konnte immerhin einmal nach Damaskus, ich war in Saudi Arabien, im Iran und in Ägypten. Es ist auch kein wahnsinnig langer Flug dafür nötig. Bald gehe ich nach Jordanien und in die Türkei, um mit der syrischen Opposition zu sprechen. Zudem bin ich in Beirut zumindest insofern nahe an Syrien, als dass hier ständig Syrerinnen und Syrer kommen und gehen.
Sie sind Anfang dreissig und haben bereits enorm viele Länder bereist. Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
(lacht) Keine Ahnung. Es ist nicht mehr wie früher, als man ein Leben lang bei der NZZ arbeitete. Es ist oft sehr belastend, was im Nahen Osten passiert. Ich treffe leute, die von diesen Konflikten direkt betroffen sind. Ewig kann ich nicht über diese Themen berichten. Und es ist möglich, dass die Konflikte noch lange andauern – in einer nicht sehr ermutigenden Art und Weise. Darum ist ein Ortswechsel für die geistige Gesundheit wohl irgendwann ganz gut.
Ein Korrespondentenjob ist einerseits sicher sehr interessant und vom Gefühl belohnt, wirklich etwas beizutragen. Andererseits zahlt man wohl auch einen Preis, wenn man weit weg von Zuhause ist und allein in einer anderen Umgebung lebt?
Genau, ich muss gewissermassen eine One-Woman- Show liefern. Ich organisiere fast alles selbst: Von Aufenthaltsbewilligungen über das Knüpfen von Kontakten bis hin zur Wohnungssuche und der Organisation von Reisen. Manchmal komme ich an meine Grenzen. aber ich treffe immer Leute vor Ort, baue ein Netz auf. Das braucht einfach seine Zeit.
Vielen Dank für das Interview!
Zur Person
Monika Bolliger studierte bis 2010 Geschichte und Arabistik an der Universität Zürich und war selbst sechs Jahre beim etü. Nach ihrem Studium absolvierte sie ein Volontariat auf der Auslandredaktion der NZZ und wurde danach als Korrespondentin für den Nahen Osten angestellt. Von 2012 bis 2014 war sie in Jerusalem stationiert, 2015 in Kairo. Gegenwärtig arbeitet und lebt sie in Beirut.