Seit Jahrtausenden vermag das Verspeisen von Menschen durch andere Menschen in Erzählungen, Büchern und Filmen zu begeistern. Besonders verbreitet war die Abbildung kannibalistischer Handlungen im 16. Jahrhundert bei der europäischen Darstellung von Bewohner*innen des soeben entdeckten Amerikas. Diese faszinierten ein wissbegieriges Publikum – und dienten als Legitimation für die Kolonisation der Neuen Welt.
Südosten Brasiliens, 1550er Jahre. Der Jagdausflug, den Hans Staden im Regenwald geplant hatte, endet in einem Debakel:
«Als ich nun so durch den Wald ging, ertönte plötzlich zu beiden Seiten des Wegs das Kriegsgeheul der Wilden. Sie kamen auf mich zugelaufen. Als ich die Gefahr erkannte, hatten sie mich schon umzingelt, zielten mit Pfeil und Bogen auf mich und schossen auch. Ich konnte nur noch ausrufen: ‹Gott sei meiner Seele gnädig!› Kaum hatte ich das ausgesprochen, wurde ich schon niedergeschlagen. So eilten sie mit mir durch den Wald dem Meer zu, wo ihre Boote waren. Sie hatten sie auf den Strand gezogen und unter einem Gebüsch versteckt. Hier waren noch mehr Wilde. Als diese sahen, wie ich hergeführte wurde, liefen sie uns entgegen. Sie waren nach ihrem Brauch mit Federn geschmückt und bissen sich in die Arme, um mir anzudeuten, dass ich verspiesen werden sollte.»
So lauten die einleitenden Worte aus Hans Stadens 1557 erschienenem Reisebericht Wahrhafftige Historia und Beschreibung eyner Landtschafft der Wilden Nacketen, Grimmigen Menschenfresser-Leuthen, in der Newenwelt America gelegen. Sie machte den hessischen Landsknecht, der sich 1548 als Kommandant auf einer portugiesischen Artilleriefestung im heutigen São Paolo verdingt hatte, in seinem Heimatland zu einem regelrechten Bestsellerautor: Über die darauffolgenden Jahrhunderte wurde das Werk, welches von seiner neunmonatigen Gefangenschaft bei den Tupinambá-Indianern erzählt, bis heute immer wieder von neuem veröffentlicht und in verschiedene Sprachen übersetzt. Historischen Wert besitzt das Buch als erste schriftliche Quelle über die indigene Bevölkerung Brasiliens. In bisher erschienenen wissenschaftlichen Abhandlungen darüber wird die Authentizität des Berichtes allerdings überraschenderweise kaum hinterfragt. Der Bericht steht aber exemplarisch für die europäische Darstellung der Bevölkerung der Neuen Welt und die Auswirkungen, welche solche scheinbar wahrhafftigen Augenzeugenberichte auf die westliche Wahrnehmung der Indigenen hatten. Der auch in Stadens Abhandlung häufig thematisierte Kannibalismus wurde in den Werken als wesentliches Kulturmerkmal der Ureinwohner artikuliert. Den LeserInnen dürfte bei der Vorstellung, den neuen Kontinent einst zu besiedeln, speiübel geworden sein. Staden beschreibt, wie die Tupinambá zu ihren Gefangenen vor deren Verspeisung über längere Zeiträume hinweg ein Verhältnis aufbauten, sie beispielsweise mit den Frauen Kinder zeugen und an Trinkgelagen teilnehmen liessen. Die Hinrichtung und Verspeisung folgte schliesslich einem zeremoniellen Ablauf:
«Jetzt kommt der Häuptling, nimmt die Keule und steckt sie demjenigen, der den Gefangenen töten soll, einmal zwischen die Beine. Daraufhin ergreift dieser die Keule und sagt: ‹Hier bin ich nun, ich werde dich töten, denn die Deinen haben viele meiner Freunde getötet und gefressen.› Der Gefangene antwortet: ‹Wenn ich auch tot bin, so habe ich noch viele Freunde, die mich rächen werden.› Bei diesen Worten schlägt ihm der andere von hinten auf den Kopf, dass das Gehirn herausquillt. Sogleich nehmen ihn die Frauen, zerren ihn auf das Feuer und kratzen ihm die Haut ab. Sie machen ihn ganz weiss und verschliessen ihm den Hintern mit einem Stück Holz, sodass nichts von ihm abgeht. Ist dann die Haut abgemacht, so nimmt ihn ein Mann und schneidet ihm die Beine über dem Knie und die Arme am Leib auf.»
Dass Kannibalismus zumindest teilweise bei den Völkern Südamerikas vorkam, ist hinlänglich erwiesen. Wie zentral dieser im Diskurs über die Neue Welt war, erweist sich angesichts der tatsächlichen Häufigkeit allerdings als weit übertrieben. Stadens Bericht kreist narrativ regelrecht um den drohenden Kochtopf in der Mitte des Dorfes – bei den Tupinambá scheint sich alles um das Verspeisen ihrer Feinde zu drehen. In der Erzählung essen sie sogar aus Rache die Läuse auf ihrem Kopf, weil diese zuvor von ihrem Blut gesaugt haben.
Die europäischen Beobachter suchten Motive für dieses Verspeisen anderer Menschen. Der deutsche Forschungsreisende Stefan Forster schloss in seinem Bericht 1777 derweil «Mangel und äusserste Nothdurft» als mögliche Gründe aus – vielmehr fand er diese in der «Rachsucht», «Raserey» und «blossen Wut», welche er in den scheinbar affektgesteuerten und unreflektierten Wilden zu erkennen glaubte. Auch in Stadens Bericht erwächst der Kannibalismus aus dem Bedürfnis, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Den Indianern wird dabei nicht ihre Denkfähigkeit, wohl aber ihre Moralität abgesprochen. Die Rache am Feind durch dessen Verspeisung wurde als kulturelle Rückständigkeit, als Nichtachtung der Menschenwürde interpretiert. Alexander von Humboldt etwa schrieb nach seiner sechsjährigen Forschungsreise in Amerika:
«Die Zivilisation ist es, welche dem Menschen die Einheit des Menschengeschlechts bewusst gemacht und ihm seine Verwandtschaft mit Geschöpfen, deren Sprache und Sitten ihm fremd sind, sozusagen offenbart hat. Die Wilden kennen einzig ihre Familie. Kein Mitleidsgefühl hält sie ab, die Frauen und Kinder eines feindlichen Stammes zu morden. Die letzteren sind es dann auch vorzugsweise, die bei den Mahlzeiten verzehrt werden.»
Die Vorstellung, einem anderen Menschen einverleibt und als Exkrement wieder ausgeschieden zu werden, bildet nebst einer Demütigung einen äusserst intimen Akt, gegen den das Opfer absolut machtlos ist. Sie scheint in der Literatur des 16. Jahrhunderts eine Urangst des europäischen Kolonisators darzustellen – man denke nur an Robinson Crusoe, der über 28 Jahre lang damit beschäftigt ist, nicht in die Fänge der Kannibalen zu geraten. Das Grauen davor, gefressen zu werden bildet ein durchgängiges Motiv im Roman Daniel Defoes, oft in metaphorischer Form: Der Titelheld kämpft gegen das Verschlungenwerden durch Wellen, wilde Tiere, Indianer, Gräben und Schluchten an. Insofern steht die Angst vor dem Kannibalismus für die Angst der Europäer, von der unzivilisierten Umwelt, auf welche sie in Amerika trafen, einverleibt zu werden.
Die Darstellung der Neuen Welt als eine von Menschenfressern besiedelte war indes nicht nur in der Literatur und in Reiseberichten, sondern auch in kartographischen Werken von Beginn weg bedeutsam: Gerhard Mercators Seekarte Ad usum navigantium aus dem Jahr 1569 illustriert das Verspeisen von Menschen durch amerikanische Indianer und bezeichnet das Vorgehen als Anthropophagie – ein Wort, das vor der Einführung des Kannibalismusbegriffs durch Kolumbus für das Verspeisen anderer Menschen gebräuchlich war. Das erste geographische Atlaswerk der Moderne, der Theatrum Orbis Terrarum aus dem Jahre 1570, stellt Amerika als Allegorie einer jungen schönen Frau dar, die mit Kampfkeule und abgeschlagenem Menschenkopf unter Europa posiert. Diese Gegenüberstellung der paradiesischen Schönheit der Natur und der Barbarei ihrer BewohnerInnen faszinierte derweil das wissbegierige Publikum auf der anderen Seite des Atlantiks.
Die Darstellung der Völker Amerikas als Kannibalen – gerade in weitreichenden Werken wie der Erzählung Stadens und des kommerziell äusserst erfolgreichen Theatrum Orbis Terrarum – unterstützte die Bestrebungen der europäischen Expansionspolitik. Sie proklamierte eine den Indianern scheinbar mangelnde Moralität, welche durch die Missionierung ebendieser kompensiert werden könne. Exemplarisch illustriert wird dies in Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe aus dem Jahre 1729 – einem Urbild kolonialer Selbstgerechtigkeit. Crusoe, in ständiger Angst vor Kannibalen auf «seiner» Insel lebend, rettet einen unbekannten Indianer aus den Fängen derselben. Seinem neuen «Freund und Diener» gibt er den Namen «Freitag» und erzieht ihn zu einem frommen Christen, der ihm hilft, weitere Gefangene vor den Menschenfressern zu retten. Auch Hans Staden wird am Ende seiner Erzählung durch seinen innigen Glauben erlöst: Zur Bekämpfung einer ausgebrochenen Pestepidemie betet er seinen Gott um Hilfe für die Tupinambá an. Als die erkrankten Indianer dann tatsächlich geheilt werden, gibt sich der Häuptling tief beeindruckt von Stadens Frömmigkeit und behandelt ihn fortan als seinen Sohn. Erst dieses Vertrauensverhältnis seitens des Häuptlings erlaubt es Staden, nach neun Monaten Gefangenschaft wieder Kontakt zu französischen Handelsreisenden aufzunehmen und – mit dem falschen Versprechen, wiederzukehren – für immer zu fliehen. Kannibalismus, so implizieren es die Darstellungen, ist heilbar. Die Erziehung der heidnischen Völker zum Christentum sollte ihnen Nächstenliebe lehren und ihre moralische Gesinnung erwecken.
Die prominente Darstellung von Kannibalismus in der Literatur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert beruht jedoch auch noch auf anderen Umständen. Die Furcht und der Ekel, die der Gedanke der oralen Aufnahme eines Menschen durch einen anderen erweckt, vermögen durchaus Faszination zu erzeugen. Das war im 16. Jahrhundert zweifellos auch ein Kassenschlager für die ersten kommerziellen Publikationen des modernen Zeitalters. Wer Menschen zeigte, die Menschen essen, konnte sich sicher sein, die Aufmerksamkeit potenzieller KäuferInnen zu gewinnen.
Bis heute zieht das Motiv des Kannibalismus sein Publikum ununterbrochen in den Bann: Schon der populären griechischen Mythologie steht ein kannibalistischer Akt vor. Zu Beginn der Entstehung der Welt frisst Kronos seine eigenen Kinder, um sich vermeintlich vor seiner eigenen Entmannung zu bewahren. Und nicht umsonst wurde Hannibal Lecter 2004 zum «bösesten Schurken der Filmgeschichte» gewählt. Und Gale Ann Hurd, Produzentin der US-TV-Serie The Walking Dead, erklärte deren Erfolg mit den Worten: «Es gibt nichts Beängstigenderes als hirnlose Kannibalen.»