Zum ersten Mal seit knapp 700 Jahren wurde die Glarner Landsgemeinde abgesagt. Corona hat die Stärken und Schwächen der einzigartigen Versammlungsdemokratie unter freiem Himmel aufgezeigt und kritische Fragen rund um die Zeitgemässheit der Glarner Abstimmungskultur hervorgerufen. Politiker*innen befürchten den «Anfang vom Ende».
Es ist der 6. September 2020, ein leichter Nieselregen durchdringt meinen Windbreaker und ich fröstele. Bei der dreitägigen Wandertour vom etü im August war das Wetter deutlich besser. Heute verschwinden die Kuppen der erhabenen, steil abfallenden Glarner Berge in der grauen Wolkendecke – der Sommer ist vorbei. Doch die Glarner*innen haben sich vermeintlich noch nie von schlechtem Wetter die Stimmung verderben lassen – vor allem nicht am Tag der Landsgemeinde, einer Urform der Versammlungsdemokratie, die in ihrer Ausprägung so nur einmal in der politischen Landschaft moderner direktdemokratischer Systeme auftaucht. Doch der Platz, auf dem sich heute tausende von Menschen versammeln sollten, liegt ausgestorben vor mir – einige Autos stehen einsam auf ihren Parkplätzen und eine Gruppe etwas gepeinigt aussehender Tagestouristen bahnt sich ihren Weg durch den Regen Richtung Rathaus. Ich spiele mit dem Gedanken, ihnen zu offenbaren, welch historischem Ereignis sie gerade beiwohnen, lasse es aber sein, denn ich bin schliesslich auch nur eine frierende Touristin auf der Suche nach etwas Geschichte.
Seit bald 700 Jahren existiert die Landsgemeinde im Kanton Glarus nun und sie wurde seitdem jedes Jahr eisern durchgeführt – man sehe von der Helvetischen Republik unter Napoleons Herrschaft ab. Selbst der Spanischen Grippe trotze der Glarner Demokratiegeist. 2020, nach erstmaliger Verschiebung von Mai auf September inklusive komplexem Corona-Schutzkonzept, entschied sich die Regierung nach hitziger Diskussion und mehreren Leserbriefen für eine Absage der Landsgemeinde. Über die Traktandenliste soll auf der nächsten Landsgemeinde abgestimmt werden. Kaum erstaunt es, dass die Absage der gesetzgebenden Versammlung kritische Fragen rund um die Zeitgemässheit der Landsgemeinde aufgeworfen hat und einige Politiker*innen den «Anfang vom Ende» befürchten – genauer, die Einführung der Urnenabstimmung im Kanton Glarus. Doch was zeichnet die Landsgemeinde aus? Wo liegen die Stärken und Schwächen der einzigartigen kantonalen Glarner Versammlungsdemokratie und -tradition?
Die älteste Quelle der ersten, ausführlich dokumentierten Landsgemeinde fällt auf das Jahr 1387. Seit ihrem Ursprung hat sie sich durchaus gewandelt. So gehörten anfangs nur einheimische, volljährige Männer zu den Stimmberechtigten und der hohe Preis für das Bürgerrecht führte dazu, dass um 1800 bloss 5’000 von 23’000 Einwohner*innen an den Landsgemeinden teilnehmen durften und Wahlbestechung ein fester Bestandteil der Veranstaltung war. Auch ihre Funktion war ursprünglich vielmehr gerichtlich als gesetzgebend. Erst später wurden der Landsgemeinde weitere Kompetenzen hinzugefügt. Trotz dieser exklusiven Auffassung von Demokratie, sind die Grundzüge der Landsgemeinde über die Jahrhunderte unverändert geblieben: Seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 verfügt jede*r Stimmberechtigte*r über das Recht, durch das Heben eines bunten Stimmzettels (früher war es noch die Hand) über Gesetzesvorlagen abzustimmen. Zudem darf jede*r Anwesende zu jeder Zeit das Podium betreten, das Wort ergreifen und Abänderungsanträge stellen. In Appenzell Innerrhoden – neben Glarus der einzige Schweizer Kanton, in dem die Landsgemeinde noch existiert – darf das Volk lediglich über die Annahme oder Ablehnung einer Vorlage bestimmen. Die Glarner Form der Abstimmung ermöglicht dadurch einen äusserst reizvollen, flexiblen Abstimmungsprozess. Während die Meinungsbildung bei der Urnenabstimmung in anderen Kantonen meist weit vor dem Stichtag und heute immer mehr über Social Media abläuft, wohnt der Abstimmung an der Landsgemeinde eine enorme Unmittelbarkeit inne. Herr oder Frau Landammann tragen die Vorlagen vor und die Hände werden gehoben. Dazu kommen die meist kurzen, würzigen und mit vielen Argumenten gespickten Reden der Befürworter und Gegner. Laut Umfragen hören viele Anwesende an der Landsgemeinde neue Argumente – sowohl für ihre, wie auch für die gegnerische Seite. Ein kleiner Teil gab sogar an, die eigene Meinung kurzfristig an der Landsgemeinde geändert zu haben.
Seinem dynamischen, manchmal unkalkulierbaren Abstimmungsprozess verdankt der Kanton Glarus einige progressive Entscheidungen, die in ihrer Form an keinem anderen Ort denkbar gewesen wären. Das bekannteste Beispiel dafür ist wohl das Fabrikgesetz von 1864, das zum ersten Mal auf europäischem Boden rechtlich eine Arbeitszeitbegrenzung auf zwölf Stunden und ein Verbot der Nachtarbeit festlegte. Die von harten Arbeitsbedingungen zermürbten Fabrikarbeiter konnten sich an der Landsgemeinde erfolgreich über die Köpfe der Industriellen hinwegsetzen. Jüngere Beispiele sind die radikale Gemeindereform 2006 mit ihrer Reduktion von 25 auf drei neugebildete Gemeinden und die 2007 entschiedene Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre.
Die Schattenseite der spannenden Abstimmungskultur liegt leider ebenfalls in ihrer Öffentlichkeit: Die Wahrung des Stimmgeheimnisses – und dadurch der Privatsphäre – wird zur Unmöglichkeit. Diese Rahmenbedingung, die in der Vergangenheit an verschiedenen Landsgemeinden in der Schweiz zur massiven Polarisierung innerhalb der Stimmbevölkerung führte, hat sich interessanterweise schon einige Male in den Abstimmungsresultaten des Kantons widergespiegelt: So nahm der Kanton die Volksinitiative zum Burkaverbot auf nationaler Ebene an, lehnte dieses jedoch an der Landsgemeinde entschieden ab. Stimmt man also anders ab, wenn der oder die Nachbar*in daneben steht? Schüchterne Vorschläge zur Digitalisierung der Abstimmung durch elektronische Geräte stiessen auf Ablehnung und sind zudem kaum umsetzbar, da gesetzlich festgelegt ist, dass die Mehrheit der Abstimmungszettel nur durch Schätzung und nicht durch Zählung ermittelt werden darf. Ist das Abstimmungsresultat knapp, darf Herr oder Frau Landammann eine zweite Abstimmungsrunde verlangen.
Ein weiterer Nachteil der Landsgemeinde wird oft in der geringen Stimmbeteiligung (ca. 10%) gesehen, die womöglich eine Folge des hohen Aufwands ist, der für die Ausübung des eigenen Stimmrechts betrieben werden muss – ein Stimmrecht, das im Gegensatz zur Urnenabstimmung, an einen bestimmten Zeitpunkt und Ort gebunden ist. Während die Zahl der jährlichen Besucher*innen der Landsgemeinde lange Zeit optimistisch auf ca. 9’000 geschätzt wurde, sind die Politologen Hans-Peter Schaub und Lukas Leuzinger durch Auswertungen von Fotos der Landsgemeinden der letzten Jahrzehnte auf eine Schätzung von lediglich 2-3’000 Besucher*innen gekommen. Mit 40’000 Einwohner*innen und 26’000 Glarner Stimmberechtigten, erscheint diese Zahl doch etwas tief. Kann man also von einem urdemokratischen Volksentscheid sprechen, wenn sich die Mehrheit der Stimmberechtigten gegen die aktive Teilnahme entscheidet? Genau dies schien auch die Sorge der Regierung zu sein – durch ein zusätzliches Fernbleiben der Risikogruppen, wäre die Landsgemeinde dieses Jahr wohl mehr als mager ausgefallen.
Wie sieht also die Zukunft der Glarner Abstimmungskulturlandschaft aus? Ist der leere Landsgemeindeplatz ein Vorbote des schleichenden Niedergangs dieser geschichtsträchtigen Veranstaltung unter freiem Himmel? Ich wage es stark anzuzweifeln. Die Entscheidung der Regierung, die Landsgemeinde angesichts der prekären Situation und Sorge vieler Bürger*innen abzusagen, ist durchaus angemessen. Ein System, dessen jahrhundertelanger Fortbestand schon zu vielen progressiven Entscheiden geführt hat und darüber hinaus für die Glarner Bevölkerung identitätsstiftenden Charakter hat, wird eine Ausnahme hoffentlich überleben. Essentiell in der Diskussion rund um die Landsgemeinde scheint es jedoch, die Versammlungsdemokratie als Institution nicht auf ihre historische Bedeutung zu reduzieren, sei es als Befürworter oder Kritiker. Ihre lange Geschichte und Tradition sollten sie weder zu einer in ihrer Struktur unantastbaren «heiligen Kuh» machen, noch Raum für haltlose Herabsetzung bieten, in der die Landsgemeinde als veraltetes Auslaufmodell ohne jegliche Aktualität erscheint. Corona hat die Schwächen und Stärken der Glarner Landsgemeinde mehr denn je hervorgehoben und neuen Diskussionsstoff gegeben. Sollten die Fallzahlen der Infizierten steigen und in nächster Zeit kein Impfstoff vorhanden sein, müssen Lösungen her. Denn die Politik ist sich einig: Ein erneutes Absagen der Landsgemeinde hält man für ausgeschlossen. Ob mit Fieberkontrolle beim Einlass, Versammlung auf dem Flugplatz Mollis oder vielleicht gar mit einer adäquaten digitalen Alternative – die Politik und die Bürger*innen müssen kreativ werden. Ob die Landsgemeinde eine zukunftsfähige politische Form der Demokratie bietet, wird sich im ausgewogenen Glarner Innovationswillen und Traditionsbewusstsein zeigen. Die Mehrheit der Glarner*innen sind auf jeden Fall stolz auf die Landsgemeinde und lehnen eine Ablösung durch die Urnenabstimmung entschieden ab. Die Vorstellung einer Abstimmung über die Abschaffung der Landsgemeinde an der Landsgemeinde wirkt beinahe unvorstellbar. Und wer weiss: Vielleicht werden die angeregte Diskussion und wahrgenommene Bedrohung der Landsgemeinde eine stärkere Partizipation der Glarner Stimmberechtigten nach sich ziehen.
Mein Wissensdurst nach Glarner Demokratiegeschichte konnte an jenem 6. September glücklicherweise doch noch im neu eingerichteten Pop-Up Museum zur Landsgemeinde am Rathausplatz gestillt werden. Neben reich bebilderten Informationstafeln kann man dort auch ganze Diskussionen – wie zum Beispiel 1971 ums Frauenstimmrecht – mitverfolgen und ein wenig im Archiv stöbern. Drücken wir die Daumen für die Landsgemeinde 2021. Long live democracy!
Literaturempfehlung
Leuzinger, Lukas: «Ds Wort isch frii». Die Glarner Landsgemeinde: Geschichte, Gegenwart, Zukunft, Basel 2018.