Churchills Rede an der Universität Zürich am 19. September 1946 ging in die Geschichte ein. Ihr vordenkerischer Grundtenor manifestierte sich später in Form der EU. Angesichts der heutigen Krisen und Kriege ist es nötig, den damaligen Zeitgeist der Rede neu aufleben zu lassen.
«I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat.» Dies sind die berühmten Worte von Winston Churchill bei seinem Amtsantritt zum Premierminister am 10. Mai 1940. In einer Zeit, die oft treffend als dunkelste Stunde Europas bezeichnet wird, gelang es dem 65-jährigen Kriegsjournalisten, Parlamentarier und Zigarrenliebhaber, die richtigen Worte zu finden und das vom Krieg gebeutelte Europa mit eisernen Parolen durch die schweren Monate der Luftschlacht um England zu manövrieren. Umso erfreulicher war es, dass sich dieser Winston Churchill 1946 auf nach Zürich machte und dort an der Universität seine schlagkräftige Rhetorik zeigte. Am 19. September jährt sich Churchills berühmte Zürcher Rede, die mit dem Schlusswort «Let Europe arise» endete. Durch welchen Zeitgeist war die Ansprache von Churchill geprägt? Und was daran lässt uns heute besonders in Bezug auf Russland, dem Nahost-Konflikt und der postkolonialen Debatte neu aufhorchen?
Der Besuch in Zürich stellte für Churchill die letzte Station seiner Schweizer Reise dar. Zuvor war er bereits in Genf beim Internationalen Roten Kreuz und in der Bundeshauptstadt Bern gewesen. Zürich diente dem ehemaligen Premierminister als Podest für seine internationalen Zuhörer:innen. Dass Churchill der Schweiz einen Besuch abstattete, lag nicht nur daran, dass die Schweiz weitestgehend vom Krieg verschont geblieben war, sondern auch an seinem Mallehrer aus der Schweiz, der ihm einen Besuch schmackhaft gemacht hatte.
Als der Konvoi mit Churchill auf dem Rücksitz am 19. September 1946 den Triumphzug von der Universität Zürich über das Bellevue zum Münsterplatz antrat, war ganz Zürich auf den Beinen. Kaum eine Person war in der Schweiz bis dahin so bejubelt worden wie der britische Staatsmann. Eher verhalten über den Besuch waren die Gemüter in der Schweizer Politik, die sich vor der antikommunistischen Haltung Churchillls fürchteten. So kurz nach dem Krieg waren die Absichten der Sowjetunion im Osten nicht restlos geklärt und Churchill verbreitete – wenn auch nicht mehr als Premierminister von England – die antikommunistische Parole. Die Ansprache von Churchill in der Aula der Universität Zürich ging in die Geschichte ein.
«I am now going to say something that will astonish you. The first step in the re-creation of the European family must be a partnership between France and Germany»
Diese Zeilen stiessen in Frankreich, besonders in der Person von Charles de Gaulle, auf Widerstand. Doch auch bei Churchill selbst gab es eine gewisse Zurückhaltung bezüglich der europäischen Gemeinschaft. Zum einen sprach in der Aula ein Europäer, der ein neues, vereintes und friedliches Europa sehen wollte. Es sprach aber auch ein Brite, der sein Land eher in der Patenrolle für Europa sah – sowie auch die USA und die Sowjetunion – anstatt als Teil der europäischen Familie. Es ist nicht nur die britische Inselmentalität, die Churchill zu dieser Haltung bewog. Bei genauerer Betrachtung der Biografie von Churchill wird klar, dass dieser vor allem eines war: ein Imperialist. Besonders in seinen jungen Jahren als Kriegsberichterstatter verreiste der junge Churchill regelmässig in die entlegensten Kolonien des britischen Empires und berichtete von insgesamt fünf Kriegen auf vier verschiedenen Kontinenten. Dementsprechend vertrat Churchill eine britische Sicherheitspolitik, die auf die Interessen des Commonwealth ausgerichtet war und die sich auf die Beziehung zu den USA fokussierte.
«We British have our own Commonwealth of Nations. […] And why should there not be a European group which could give a sense of enlarged patriotism and common citizenship to the distracted peoples of this turbulent and mighty continent […]?»
Diese Zeilen sind in vielerlei Hinsicht spannend, denn er vergleicht hier stolz das Commonwealth mit einer möglichen europäischen Gemeinschaft und unterschlägt dabei die Tatsache, dass das Commonwealth ein Produkt des Zerfalls des British Empire ist. Ironischerweise wurde die Bildung des Commonwealth vom Unabhängigkeitsgedanken der Kolonien angetrieben und nicht durch einen Gemeinschaftsgedanken beschwört, den Churchill für Europa fordert. Churchill erlebte selbst, wie im Nachgang des Ersten Weltkrieges der schleichende Zerfall des British Empire einsetzte und dessen Durchsetzungskraft bei geopolitischen Herausforderungen auf die Probe gestellt wurde.
Ab 1921 hatte Churchill den Ministerposten für die Kolonien inne. Dort musste er sich damit befassen, dass London mit einem «imperial overstretch» konfrontiert wurde und für die Erbmasse des Osmanischen Reiches verantwortlich war. Für die Mandatsgebiete Palästina und Mesopotamien sah Grossbritannien eine Art Staatenbildung vor, die durch innerethnische Anpassungen und schrittweise Übertragung der Macht vonstattengehen sollte. In diesem Zusammenhang muss auch die Balfour-Deklaration von 1917 gesehen werden, in welcher sich die Briten für einen jüdischen Staat in Palästina aussprachen. Für die Briten schien es dabei keine ethnischen Probleme zu geben. Auch Churchill war gegenüber einem jüdischen Staat positiv eingestellt und sah im Zionismus langfristig vor allem ein Bollwerk gegen den Kommunismus aus dem Osten Europas, wo die Juden durch Pogrome verfolgt wurden. So sagte Churchill 1920 im Illustrated Sunday Herald: «Wenn in unserer Lebenszeit an den Ufern des Jordans ein jüdischer Staat errichtet würde, mit drei bis vier Millionen Juden unter dem Schutz der britischen Krone, wäre das ein weltgeschichtliches Ereignis mit wohltätigen Folgen, vor allem für das britische Empire». Ein weiteres Beispiel wie Churchill geopolitische Angelegenheiten konsequent durch die Brille der Interessen des British Empires betrachtete.
Churchills Vision eines jüdischen Staates sollten sich erfüllen, doch die britische Naivität bezüglich der Staatenbildung im Nahen Osten trug seinen Teil dazu bei, dass dort bis heute gekämpft wird. An der von Churchill organisierte Kairo Konferenz 1921, die über die zukünftige Politik in den Mandatsgebieten entschied, wurde hauptsächlich darauf geschaut, möglichst Geld zu sparen. In der Konferenz wurde aus dem ethnisch und religiös tief gespaltenen Irak eine staatliche Einheit mit Kurd:innen, Jüd:innen, Schiit:innen und Sunnit:innen geschustert und die divergierenden jüdischen und arabischen Interessen in Palästina nicht mit der nötigen Sorgfalt behandelt. Beide Vorhaben gehören zu den vielen gescheiterten europäischen Interventionsversuchen im Nahen Osten.
In einer Zeit wie heute, in welcher der Postkolonialismus heiss diskutiert, und zurecht als eine der bedeutendsten Denkansätze des letzten halben Jahrhunderts gefeiert wird, würde Churchill wohl die Kinnlade herunterfallen und verdutzt seine Brille polieren. Poliert werden musste auch der Sockel seiner Statue vor dem britischen Parlament, als im Zuge der «Black-Lives-Matter» Bewegung 2020 eine Demonstrant:in die Aufschrift «was a racist» anbrachte. Die Methode ist etwas unkonventionell, allerdings ist der Gedanke, auch diese historische Persönlichkeit zu dekonstruieren, und sei sie noch so mythisch aufgeladen, bestimmt richtig. Churchill war zum einen ein Bollwerk gegen den Faschismus und ein Wegbereiter für die europäische Gemeinschaft, andererseits fiel er durch rassistische Einstellungen und durch die Glorifizierung des viktorianischen Imperialismus negativ auf. Eine komplexe Figur durch und durch.
Rückblickend war die Rede in der Aula der Universität Zürich ein Wegbereiter für die heutige EU. Churchill wäre sicherlich erfreut zu hören, dass seine Worte eine Bewegung angestossen haben, die zum grössten und längsten Friedensprojekt in Europa avancierte. Die Situation in der EU ist heute allerdings alles andere als euphorisch. Die Organisation ist zusehends mit populistischen Erosionen in den Mitgliedsstaaten konfrontiert und der Brexit führte zum Verlust einer wichtigen Wirtschaftsmacht. In einem der wichtigsten Mitgliedsländer, Deutschland, wurde kürzlich in zwei Bundesländer ein Landtag gewählt, der sich fast zur Hälfte aus extremistischen und antieuropäischen Parteien zusammensetzt. Besonders unzufrieden stimmen würde Churchill die Tatsache, dass es seit dem Ende des zweiten Weltkrieges und nach dem schrecklichen Jugoslawienkrieg nun erneut kriegerische Auseinandersetzungen auf dem europäischen Kontinent gibt.
Eine besonders tragische Note erhält dabei das Vorgehen Russlands, das im Stile der Nationalsozialisten einen souveränen Staat überfällt. Putin nutzt dabei Geschichte als Waffe. Er sieht zum Beispiel die Kiever Rus (Zusammenschluss von Fürstentümern im 12. Jh.) als Vorreiter des Zarenreiches und bezeichnet die Nationalitätenpolitik von Lenin, die 1917/18 zur Gründung der Ukrainischen Volksrepublik führte, als Fehler und «Geschenk an die Nationalisten». Stalin bewundert er und schreibt ihm und seiner Regierungszeit die Attribute der nationalen Stärke und des Supermachtdaseins zu. Generell bastelt sich Putin ein Geschichtsverständnis zusammen, welches zur Rechtfertigung des Angriffs auf die Ukraine dient. Demgegenüber wird die Kiever Rus in der Geschichte der Ukraine als erster ukrainischer Staat und als «Goldenes Zeitalter» betitelt.
Schlussendlich haben Russland und die Ukraine ein gemeinsames historisches Erbe und die so verschränkte Geschichte der beiden Staaten wird von Putin ahistorisch missbraucht. Das Déjà-vu, dass sich bei diesem Krieg angesichts der Warnungen Churchills vor dem sowjetischen Expansionismus einstellt, darf trotz reizend schliessendem Bogen in der Erzählung nicht gelten. Die Motivation Stalins und Putins, in den Westen zu expandieren, sind nicht die gleichen. Das Rosinenpicken von historischen Ereignissen durch Putin ist Geschichtsklitterung und zeigt, wie relevant fundierte und wissenschaftliche Geschichtsforschung für die Einordnung von aktuellen Ereignissen ist.
Was sollen Sie aus diesem Artikel mitnehmen? Bestimmt nicht das in der Gesellschaft verbreitete scheinbare Geschichtsaxiom «Geschichte wiederholt sich» – dies ist nichts als plattitüdenhaftes Geschwafel. Ich möchte bei all den historischen Zusammenhängen, die erklärbar und nachvollziehbar sind, auf das Nicht-Vorstellbare hinweisen. In Churchills Rede war dies die Forderung eines vereinten Europas. Man echauffierte sich über seine Vorstellung, dass Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten sollen. Das Unvorstellbare heute ist, dass sich die Kluft zwischen den ehemals brüderlichen Völkern Russland und Ukraine schliesst. Ebenso unvorstellbar erscheint eine Zweistaaten-Lösung für Palästina und Israel. Lassen sie uns den Krieg nicht als etwas Selbstverständliches ansehen. Resignation ist angesichts der scheinbaren Unlösbarkeit dieser Kriege nicht angebracht. Stattdessen sollte die Aufbruchsstimmung in der Rede Churchills nicht nur die heutige bröckelnde Allianz der europäischen Länder daran erinnern, wie steinig der Weg zum geeinten Europa war, sondern auch als Brandrede gegen Krieg und für den Frieden stehen. Gleichzeitig gehören rassistische und imperialistische Überzeugungen sowie Überlegenheitsansprüche auf den Müllhaufen der Geschichte.
Literatur:
Faught, C. Brad: Cairo 1921. Ten days that made the Middle East, New Haven 2022.
Kappeler, Andreas: Das historische Erbe der Ukraine. Schichten und Elemente: Ein Essay, in Osteuropa 60 (2), 2010, S. 9-31.
Vogt, Werner: Winston Churchill und die Schweiz, Zürich 2015.