Für Herrn Schweizer herrschte ab den frühen 1940er für fast 50 Jahre Vollbeschäftigung. Trotz Krisen, Abschwung und einem Staat, der sich kaum einmischte. Den Konjunkturpuffer bildeten die ausländischen Arbeiter*innen.
Mit der Pflegeinitiative rückt das Thema der Arbeit wieder ins Zentrum der politischen Agenda. Es werden Forderungen nach fairen Arbeitsbedingungen, besseren Löhnen und Sicherheit am Arbeitsplatz laut. Es ist ein weiterer Versuch, über politische Massnahmen die fragilen Verhältnisse der Marktwirtschaft zu stabilisieren.
Zumindest in den sogenannten 30 Glorieuses nach dem Zweiten Weltkrieg schien die demokratisch gelenkte Marktwirtschaft in grossen Teilen der westlichen Welt zu dominieren. Die Arbeitslosenquoten waren tief, der Wohlstand stieg mit beispielloser Geschwindigkeit. Ein neuer Konsens entstand. Bis er in den 1970er wieder zerbrach. Die Industrienationen wendeten sich wieder stärker dem Markt zu. Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung hielten Einzug.
So wurde die Geschichte schon oft erzählt. Auf die Schweiz passt sie nur bedingt.
Einerseits ist die Zeitspanne eine andere. Denn in Bezug auf die Arbeitslosigkeit könnte man für die Schweiz gut von den 50 Glorieuses sprechen. Zwischen 1941 und 1991 – mit Ausnahme des Jahres 1984 – waren nie mehr als 1 Prozent der Schweizer*innen arbeitslos. Gerade für die Männer galt ein halbes Jahrhundert lang Vollbeschäftigung.
Andererseits, und hier kommt das Paradox, blieb die Schweiz dem Liberalismus stets treu. Während im Rest der westlichen Welt der Staat vermehrt als Konjunkturglätter auftrat, wurden in der Schweiz weder staatliche Investitionsprogramme noch ein ausgebauter Wohlfahrtsstaat je ernsthaft in Betracht gezogen. Noch 1971 waren die Ausgaben für soziale Sicherheit mit rund 11% des BIP halb so hoch wie in anderen kleinen europäischen Ländern und deutlich tiefer als bei den grossen europäischen Nachbarn. Wenn es aber nicht die sichtbare Hand des Staates war, wie balancierte die Schweiz dann die volatilen Schwankungen einer zunehmend vernetzen Weltwirtschaft? Indem sie die hohe Zahl an ausländischen Arbeiter*innen als Puffer benutzte.
Die frühe Industrialisierung und die damit einhergehende Nachfrage nach Arbeitskräften konnte bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht allein durch die Schweizer Bevölkerung gedeckt werden. Ausländische Arbeiter*innen boten Abhilfe. Der Saisonnier-Status erlaubte, sie flexibel einsetzen zu können. Nach der wachstumsstarken Belle Epoque machten die ansässigen Ausländer*innen bereits 17.3% der Schweizer Wohnbevölkerung aus. Das war fünfzehnmal mehr als der damalige europäische Durchschnitt von 1.2%.
Die Immigration wurde zu einer der zentralen Triebfedern des Wachstums – und fungierte nun auch als Schutz für die Schweizer Arbeitnehmerschaft. Als sich die wirtschaftliche Lage mit dem Ersten Weltkrieg rasant verschlechterte, lenkte die Schweiz auf eine restriktivere Einwanderungspolitik ein. Zwischen 1914 und 1920 sank der Anteil der ausländischen Bevölkerung um 127’000 Personen. Das entsprach einer Abnahme von 20%.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges fluktuierte die Zahl der Menschen ohne Schweizer Pass im Gleichschritt mit der Konjunktur und sank bis 1945 auf einen neuen Tiefstand. Verglichen mit den 690’000 im Jahre 1910 lebten 1945 nur noch 224’000 Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft in der Schweiz.
Mit dem grossen Aufschwung der Nachkriegszeit erreichte das erprobte System neue Dimensionen. Das Saisonnierstatut wurde gefestigt. Sogenannte Anwerbeabkommen wurden 1948 und 1964 mit Italien und 1964 mit Spanien abgeschlossen. Durch die liberale Vergabe von Arbeitsbewilligungen konnte die Schweiz der gesteigerten Nachfrage mit maximaler Flexibilität nachkommen. Steigende Löhne erlaubten vielen schweizerischen Haushalten folglich den symbolischen Aufstieg in die Mittelklasse. Den vielen Saisonniers wurde dies verwehrt. Beschäftigt im volatilen Niedriglohnsektor und ohne das Recht auf Familiennachzug, entstand, mit den Worten von Christian Koller, eine «gesellschaftlich wenig integrierte, politisch rechtlose und bildungsmässig benachteiligte neue Unterschicht».
Wie «gut» dieses Modell funktionierte, zeigte sich mit zuvor kaum vorstellbarer Wucht in der Mitte der 1970er Jahre. Nach dem Ölpreis-Schock im Jahre 1973, ausufernder Inflation und einer rabiaten Zinserhöhung der Schweizerischen Nationalbank sank das reale BIP der Schweiz 1975 um mehr als 7%. Dieser Wert war damals beispiellos – trotz weitverbreiteten Krisentendenzen. Das war der Moment, in dem die Pufferfunktion der Saisonniers ihre volle Wirkung zeigte. Innerhalb von weniger als zwei Jahren mussten 250’000 Immigrierte arbeitslos in ihre Heimatländer zurückkehren. Während 1976 für die einheimische Bevölkerung die obligatorische Arbeitslosenversicherung eingeführt wurde, konnten die Saisonniers davon keinen Gebrauch machen. Das Ergebnis war paradox: Ein im internationalen Vergleich dramatischer Einbruch der Wirtschaftsleistung hatte kaum inländische Arbeitslosigkeit zur Folge.
Die Sicherung der Lebensgrundlage war womöglich nicht der einzige Grund, weshalb diese Auslagerung der Arbeitslosigkeit bei der Schweizer Bevölkerung auf Resonanz stiess. Drei Jahre zuvor stritt das Land noch über die dritte «Überfremdungsinitiative», welche in Folge der Ablehnung der zweiten, der sogenannten «Schwarzenbach-Initiative», lanciert wurde. Diese hatte unter anderem gefordert, dass die Ausländer*innenanteile in den Kantonen auf 10% beschränkt werden, und dass im Falle von Entlassungen Ausländer*innen zuerst die Kündigung erhalten.
In vielen Kantonen war diese Marke in den 1970er Jahren bereits überschritten. Die Annahme der Initiative wäre einer Massenausschaffung gleichgekommen. Das Gegenkomitee appellierte folglich an die Moral der Stimmberechtigten: «Darf man 500’000 Menschen vertreiben?». Beide Initiativen wurden nach heftigen Abstimmungskämpfen abgelehnt, zuerst mit 54% und dann mit wuchtigen 65,8%. Eine Viertelmillion Ausländer*innen mussten die Schweiz trotzdem bald verlassen. Nun aber nicht im Namen der Überfremdung, sondern als direkte Folge der Wirtschaftskrise.
Als in den frühen 1990er die Flexibilität des Saisonnierstatuts nicht mehr gegeben war, erlebte die Schweiz, was viele andere westliche Staaten zwanzig Jahre zuvor auch erlebt hatten: Das Gespenst der Arbeitslosigkeit war zurück. Denn ab den frühen 1980er Jahren nahm die relative Anzahl an Saisonniers stark ab, vermehrt wurden längere Aufenthaltsbewilligungen erteilt. Ausserdem wurden Grenzgänger*innen immer wichtiger. Folglich stiegen die Arbeitslosenzahlen zum ersten Mal nach 50 Jahren auf fast 5%. Gleichzeitig gingen die 1990er Jahre nicht spurlos am bis anhin schwach entwickelten Schweizer Wohlfahrtsstaat vorbei. Die Sozialausgaben gingen stark nach oben. Eine Krise ohne Puffer liess die prekären Verhältnisse eines flexiblen Arbeitsmarktes zu Tage treten.
Gerne wird mit Bezug auf die Schweiz veranschaulicht, wie tiefe Steuern, ein «schwacher» Staat und eine offene Volkswirtschaft zu Wohlstand, Stabilität und einigermassen egalitären Verhältnissen führen können. Aus Sicht der Fremdarbeiter*innen und Saisonniers fehlt eine zentrale Komponente in dieser Gleichung: Die interne Stabilität fusste auf ihrer Prekarität.
Referenzen
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